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Bertram Reinecke,

Auf Facebook fühlt sich Sabine Sho an Ann Cotten erinnert. Andere teilen diesen Eindruck nicht. Aber den merkwürdigen Sonderfuror gegen Tobias Roth kennt man auch von ihr.
Ich denke auch, dass der Ausschluss von Deutbarkeit eher eine verbreitete Untugend ist, als eine Chance für die Lyrik. Sie kommt aus den Gewohnheiten des Interpretierens: Für die Kritik scheint oftmals jene Lyrik gute Lyrik, aus der der sensible öffentliche Deuter am bequemsten seinen eigenen Honig saugen :-) kann. Und wenn dieser Stil im Betrieb lange genug verbreitet ist, dann stellt sich die Lyrik irgendwann darauf ein. Man kann es den jungen Lyrikern nur teilweise vorwerfen: Wenn sie hörbar sein wollen, müssen sie dem Betrieb entgegen kommen.
Allerdings am Ende ist es in der Lyrik tatsächlich ja so: „Da wird die Staffage zum Kern erklärt, weil es gar keinen Kern gibt.“ Natürlich kann man sich immer wünschen, von den Worten zur Relevanz durchzudringen, aber ein Antikriegsgedicht ist doch lächerlich angesichts von Krieg. Wenn Lyrik neben dem breiten Raum der Prosa einen Sinn hat, dann tatsächlich den, unsere Arten miteinander zu reden zu bearbeiten, neue Sprachformen zu untersuchen oder zu erfinden.
Für darüber hinausgehende Sachgehalte haben wir gar keine geeigneten Umgangsformen mehr. Man braucht dafür nämlich z.B. dass man sich auf Feiern Gedichte vorläse oder dergleichen. Nur wenn es manchmal darauf ankäme, schnell etwas pointiert öffentlich im Gedicht darzustellen, könnte Lyrik gegen den breiteren Raum der Prosa aufkommen. Der Verlierer des Lyrik_ Prosa Vergleichs steht bei dieser Schmidtschen Ansetzung also von vornherein fest.
Dabei dürfte Tobias Roth ein eher unglückliches Beispiel für die Thesen des Verfassers sein. Roth ist sich nämlich darüber bewusst, dass es sich bei seinem Schreiben um Eskapismus handelt. Er nimmt verwundert zur Kenntnis, dass seine alten Fundstücke seine Mitmenschen notorisch weniger interessieren als ihn selbst und freut sich über andere Gesprächspartner. (Ein Blender müsste sie meiden.) Und er kennt sich bestens aus. Der Autor des Briefes irrt vollkommen, wenn er schreibt: „Wäre der Autor nur halb so belesen, wie er sich gibt, müsste ihm das eigentlich zum Hals heraus hängen.“ Denn auch mir wird die barocke Vergänglichkeitstopik immer spannender, je MEHR ich sie lese. Involviert ist hier der Irrtum, sie für einen notorischen Inhalt zu halten, sie ist aber ein Mittel, durch das hindurch ganz andere spannende Sachverhalte ausgetragen werden. Und so auch bei Bienen. Tobias Roth ist, ich habe es probiert, selbst über die äußersten Ränder seines großen Lesegebietes ein anregender Gesprächspartner. Zum Beispiel über englische Erziehungsliteratur der Frühaufklärung.
Darüber hinaus hat Schmidt öfters einen ähnlichen Eskapismus . Seine Exkurse zu Münzkunde oder Herrschergenialogien oder auch manche akribisch ausgebauten Naturmetaphern sind ja ebensolche poetischen Petitessen, die oft recht unvermittelt zu seinen sonstigen Absichten einfach so im Text stehen.
Ich finde es ebenfalls ärgerlich, wie sehr uns Goethe immer noch im Nacken sitzt. Hier sitzt der Verfasser des Briefes aber selber Goethe auf. (Oder vielleicht seinen Enkeln im Habitus, sagen wir hier mal: Grünbein, Wagner) Nicht alles, was Italien ist, ist Goethe. Und Roths „Klassik“ ist dezidiert vorgoethisch und lässt sich antigoehtisch in Stellung bringen wie der deutsche Barock.
Und ja: Die fingen gerade erst an, sich für Naturwissenschaft zu interessieren. Aber von Dichtung wussten sie mehr, sie haben sich mehr damit beschäftigt, sie hatten da mehr Expertise. Das ist doch sehr anziehend, nicht immer von vorn beim Grundrechnen anfangen zu müssen. Man kann auch einmal sehen, wie voraussetzungsreich die naturwissenschaftliche Denkweise ist. Wir kriegen das fertig aufbereitet routiniert in der Schule eingetrichtert, die brauchten viel viel Hirnschmalz es zu erfinden und gegen den Anschein alter gut ausgebauter Lehren zu verteidigen. Es ist ja wirklich beeindruckend, das zu lesen. (Auch Ogkham oder Kopernikus - das gilt für Gesellschaftliches entsprechend, wenn auch nicht in gleichem Maße.) Indem man den Leistungen Marsilius von Paduas, Picos und Petrus Ramus Hochachtung zollt, gewinnt man eine um so größere Anerkennung für die Erfindungen der modernen Naturwissenschaft, die man aus deren Alltag vielleicht nicht bekommt.