Neuen Kommentar schreiben

Dr. Rainald Simon,

In jedem Text ist mehr enthalten als ausformuliert wurde. Der Grund ist, dass Sprache ein radikales System der Reduktion ist. Sagt man "Zimmer", öffnet man die Türe zu Abermillionen architektonischen Gebilden usf. Die Reduktion ist im klassischen Chinesischen, besonders in der Lyrik, auf eine sehr hohe Stufe getrieben. Meine Auffassung nun ist, dass die Reduktion erhalten bleiben sollte, da nun einmal das Original so ist, wie es ist, und der Übersetzer davon so viel wie nur möglich transponieren sollte, um dem Fremden Achtung zu erweisen und nicht zu verbergen, dass Fremdes eben fremd ist und die Anmutung des Anderen (Nicht-Identischen) behalten sollte. Ich nenne das deiktisches Übersetzen, ein das Fremde zeigendes und damit respektierendes Übertragen. Das heißt nun aber gerade nicht eine schlichte "Wort-für-Wort-Übersetzung" anzustreben, keine meiner Übertragungen ließe sich so charakterisieren. Abzumessen, wie weit der Übersetzer in seine Sprache gehen kann, das ist die "Kunst" oder das kunstfertige Handwerk. Mit welchem Recht spanne ich unsere indoeuropäische Grammatik auf eine beträchtlich geringer normierende Struktur? Joachim Schickel fiel in diesem Zusammenhang das Bett des Prokrustes ein, auf das die chinesische Struktur gezwungen werde. Ich behaupte, dass der chinesische Rezipient die gewollten Leerstellen assoziativ auffüllt, etwa so wie man die Leere eines Tuschebildes mit "Himmel" oder "Wasser" im Verständnis zu füllen vermag. Das heißt nun aber nicht, dass ich diese Anstrengung stellvertretend für Rezipienten meiner Sprache übernehme, "auffüllende" Übersetzer dieser Art (Vinzenz von Hundhausen, um einen der erbärmlichsten dieser Richtung zu nennen) bringen eine exotistische Melange hervor. Nichts gegen die Melange, auch nichts gegen den Impetus , "sich Fremdes anzuverwandeln", meine Sache ist es nicht. Ich möchte nicht an dem Chinabild der "Porzellanpagoden" des Exotismus weiterpinseln. "Kein Schaden ist größer, als das Genügen nicht zu erkennen" (Laozi 46) und weniger einzugreifen, ist oft genügend. Wo aber zu weitgehend eingegriffen wird, lässt sich nur Zeichen für Zeichen mit den Werkzeugen der Philologie untersuchen und kritisieren.