Essay

Das schwindende Licht der Demokratie

Hamburg

Rede zur Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals Berlin 09.09.2009 im Haus der Berliner Festspiele.
Übersetzung aus dem Englischen: Lilian-Astrid Geese

Noch streiten wir, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, doch sollten wir uns vielleicht einer weiteren Frage stellen: Gibt es ein Leben nach der Demokratie? Und wie wird dieses
aussehen? Demokratie meint dabei nicht ein Ideal oder eine Hoffnung. Vielmehr geht es um das Arbeitsmodell: die westliche, liberale Demokratie, ihre Varianten und ihre Realität.
Nun denn: Gibt es ein Leben nach der Demokratie?
Ein beliebter Weg der Annäherung an dieses Thema ist der Vergleich unterschiedlicher Regierungssysteme, ein Versuch, der regelmäßig in eine eher holprige Vorwärtsverteidigung der Demokratie mündet. Man argumentiert, die Demokratie habe Schwächen, sie sei nicht perfekt, jedoch besser, als alle anderen Optionen, die sich bieten. Nur selten wird die Debatte geführt, ohne dass irgendwann jemand sagt: ‚Afghanistan, Pakistan, Saudi Arabien, Somalia . . . Ist es das, was wir wollen?’ Jedoch geht es heute nicht um das Thema der Demokratie als Utopie, die alle ‘sich entwickelnden’ Gesellschaften anstreben sollten - wenngleich ich der Meinung bin, dass die Dynamik ihrer frühen, idealistischen Phase durchaus Charme hat. Vielmehr richtet sich die Frage nach dem Leben nach der Demokratie an diejenigen von uns, die in demokratischen Gesellschaften leben, oder in Ländern, die vorgeben, demokratisch zu sein, und sie impliziert keineswegs den Rückgriff auf ältere, zweifelhafte Modelle totalitärer oder autoritärer Herrschaft. Allerdings verweist sie auf die Notwendigkeit einer gewissen strukturellen Anpassung des Systems repräsentativer Demokratie, in dem es zu viel Repräsentanz und zu wenig Demokratie gibt.
Es mag Demokratiekritik unangemessen erscheinen vor einem Publikum aus Schriftstellern, die aus Ländern kommen, deren Völker nie Demokratie hatten oder deren totalitäre Regimes ihnen die Grundrechte seit Jahrzehnten verweigern. Doch nicht nur das globale Kapital, auch die politischen Systeme der Welt sind miteinander vernetzt. Oft sind es gerade die großen, demokratischen Nationen, die - versteckt hinter der Maske des Hüters der Moral und im Habitus des Retters der Menschheit - Militärdiktaturen und totalitäre Regimes unterstützen und stärken. Die Kriege in Irak und Afghanistan, in denen hunderttausende Menschen starben und ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht worden sind, wurden im Namen der Demokratie geführt. Vorgeblich demokratische Länder verantworten militärische Okkupation in aller Welt, nicht zuletzt in Palästina, Irak, Afghanistan und Kaschmir.
Die Frage lautet also: Was haben wir der Demokratie angetan? Zu was haben wir sie gemacht? Was geschieht, wenn sie aufgebraucht, wenn sie hohl und sinnentleert geworden ist? Was folgt, wenn ihre Institutionen als gefährliche Krebsgeschwüre wuchern? Wie wirkt die Fusion von Demokratie und freiem Markt, ihre Verschmelzung zu einem einzigen, räuberischen Organismus, in dem eine abgemagerte, beschränkte Vorstellungskraft nur noch Gewinnmaximierung kennt? Ist dieser Prozess umkehrbar? Lässt sich die Mutation zurückbilden? Kann Demokratie wieder zu dem werden, was sie einst war?
Ohne eine langfristige Vision kann unser Planet nicht überleben. Dürfen wir diese aber von Regierungen erwarten, deren eigene Existenz vom unmittelbaren und kurzfristigen Profit abhängt? Ist die Demokratie - Erfüllung unserer Hoffnung, Wiege unserer individuellen Freiheit, Ziel unserer ambitionierten Träume - nur noch das Finale im Spiel des Lebens?
Begeistert sich der Mensch der Moderne vielleicht gerade deshalb für sie, weil sie unserem größten Wahn - unserer Kurzsichtigkeit - den Spiegel vorhält? Der Mensch kann - anders als die meisten Tiere - niemals ganz und gar in der Gegenwart leben, doch der Blick in die Zukunft ist ihm verwehrt. Damit wird er zu einem seltsamen Zwischengänger, weder Bestie noch Prophet, ausgestattet mit faszinierender Intelligenz, doch nicht mehr über einen Überlebenstrieb verfügend. Der Mensch plündert die Erde und hofft zugleich, dass die Akkumulation von materiellem Mehrwert das Profunde und Unermessliche, das er verloren hat, wettmacht.
Ich habe mein ganzes Leben in Indien verbracht, dem Land, das sich als die größte Demokratie der Welt vermarktet. (Die Selbstbezeichnung ‚die größte’ ist der Tatsache geschuldet, dass andere Adjektive, wie die ‚großartigste’ oder ‚älteste’ bereits vergeben sind.)
Bitte sehen Sie mir nach, dass ich meine Kritik an der Demokratie daher heute aus dieser Perspektive vorbringen möchte.
Vor ein paar Wochen verkündete die indische Regierung, sie wolle 26.000 paramilitärische Sicherheitskräfte in den Kampf gegen maoistische ‚Terroristen’ in den dichten, an Bodenschätzen reichen Wäldern Zentralindiens schicken. Die Armee ist seit Jahrzehnten bereits in den Bundesstaaten Nagaland, Manipur, Assam und Kaschmir stationiert, wo die Menschen um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Die offene Ankündigung der Militarisierung des indischen Kernlandes durch die Regierung bedeutet die offizielle Anerkennung des Bürgerkriegs.

Die Operation - und so werden Kriege heute ja genannt - soll im Oktober beginnen, wenn der Monsunregen endet, die Flüsse weniger reißend und das Terrain besser zugänglich sind.
Die Bewohner der Wälder, darunter die Maoisten, die sich als im Krieg gegen den Staat Indien begreifen, sind Stammesvölker, die Ärmsten der Armen im Land. Sie leben dort seit Jahrhunderten, ohne Schulen, Krankenhäuser, Straßen, fließendes Wasser. Sie leben, und das ist ihr ebenso so altes ‚Vergehen’, auf Land, das reich an Eisenerz, Bauxit, Uran und Zinn ist. Diese Rohstoffe sind es, an denen die großen Bergbauunternehmen Tata, Vedanta, Essar,
Sterlite und andere, hochinteressiert sind. Die Regierung stehe, so der Premierminister in einer Erklärung, in der Pflicht, den Mineralienreichtum Indiens auszubeuten, um die boomende Wirtschaft anzukurbeln. Die Maoisten nennt er die ‘größte interne Sicherheitsbedrohung Indiens’. ‚Ausrotten’ und ‚vernichten’ sind die Begriffe, mit denen die Wirtschaft in diesem Zusammenhang operiert. Wie die Sicherheitskräfte in den Wäldern zwischen Maoisten, Sympathisanten und Unbeteiligten unterscheiden sollen, weiß jedoch niemand.
Interessanterweise blockierte – unter anderem - Indien einen europäischen Antrag bei den Vereinten Nationen, die im Rahmen der jüngsten Offensive der Regierung Sri Lankas gegen die Tamil Tigers verübten Kriegsverbrechen zu untersuchen. Für die Regierungen Asiens ist Israels Blaupause in Gaza eine brauchbare Option im Umgang mit ‚Terroristen’:
Die Medien fernhalten, den Gegner umzingeln und töten. Zwischen ‚Terroristen’ und ‚Unschuldigen’ muss dann nicht länger differenziert werden und die Empörung der internationalen Gemeinschaft angesichts eines solchen Vorgehens wird sich schnell wieder legen.
Im nicht erklärten Bürgerkrieg niedriger Intensität [auf dem Subkontinent] mussten Hunderttausende in den vergangenen Jahren zusehen, wie ihre Dörfer zerstört und ihre Lebensmittelvorräte vernichtet wurden. Viele von ihnen flohen in die Städte, wo sie als ungelernte Arbeiter zu Hungerlöhnen ausgebeutet werden. Die übrigen leben versteckt in den Wäldern, ernähren sich von Gras und Wildfrüchten und hoffen, dem Hungertod zu entgehen.
Nun haben die Vorbereitungen für den richtigen, den offiziellen Krieg, begonnen, in dem Bodenstreitkräfte, Kampfhubschrauber und Satellitenkarten eingesetzt werden sollen. Das militärische Hauptquartier befindet sich in Raipur, der Hauptstadt von Chhattisgarh. Der Wald wurde abgeriegelt, Journalisten haben nur eingeschränkt Zugang in die Zone. Neue Gesetze kriminalisieren jegliche - auch friedliche - Opposition. Zahlreiche Menschen sind bereits in Haft. Die Freilassung gegen Kaution ist nicht möglich.
Wenn es uns nicht gelingt, ihn zu stoppen, werden im Oktoberkrieg zwei unterschiedliche Arten von Krieg konvergieren, die seit Jahrzehnten in Indien geführt werden: der ‘Antiterrorkrieg’ der indischen Armee gegen die Völker von Kaschmir, Nagaland und Manipur und der Krieg um Rohstoffe und natürliche Ressourcen, ein Prozess, der auch gern als ‚Fortschritt’ bezeichnet wird.
Auf Einladung zu einem Vortrag anlässlich des ersten Jahrestages der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink reiste ich im Januar 2008 nach Istanbul. Dink wurde vor seinem Büro auf der Straße erschossen, weil er ein Tabuthema der Türkei angesprochen hatte: den Genozid an den Armeniern, dem 1915 über eine Million Menschen zum Opfer gefallen waren. Ich sprach über die Geschichte des Genozids, seine Leugnung und den alten, nahezu organischen Zusammenhang zwischen ‚Fortschritt’ und Völkermord.
Schon immer fand ich die Tatsache irritierend, dass die für diesen Völkermord verantwortliche Partei ‚Komitee für Einheit und Fortschritt’ hieß. Einheit und Fortschritt – heute würde man sagen Nationalismus und Entwicklung -, diese unanfechtbaren Zwillingstürme der Moderne, und die Demokratie des freien Marktes, haben eine lange, gemeinsame Geschichte. Mit dem ‚Fortschritt’ der Länder Europas, mit der ‚Aufklärung’, Industrialisierung und der Entwicklung neuer, wenngleich beschränkter Formen von Demokratie und Bürgerrechten in der Heimat, ging die Vernichtung von Millionen Menschen in den Kolonien einher. In den frühen Jahren des Kolonialismus wurde das offene Abschlachten indigener Völker im Namen der Zivilisation durchaus hingenommen. Je lauter und ausgefeilter jedoch der Diskurs der Bürgerrechte und Demokratie geführt wurde, desto stärker bildete sich eine neue Version von Doppelmoral heraus und ein neues Phänomen kam auf: die Leugnung des Genozids.
Heute ist die offizielle Anerkennung oder Leugnung, und in jüngerer Zeit auch die Produktion imaginärer Holocausts und Genozide, im Zusammenspiel von Völkermordpolitik und dem freien Markt zu einem multinationalen Geschäft geworden. Historische Fakten, forensische Beweise zählen quasi nicht. Moral spielt keine Rolle. Das Geschehene wird aggressiv und hartnäckig verhandelt, in einem Prozess, der eher an die WTO als an die Vereinten Nationen erinnert. Geopolitik ist die Währung, mit der man zahlt, und es geht um die fluktuierenden Märkte für natürliche Ressourcen, um die seltsame Konstruktion der Futures und um die ‚gute alte’ wirtschaftliche und militärische Macht.
Für den Genozid werden in diesem Kontext oft die gleichen Gründe angeführt, wie für seine Verfolgung: ökonomischer Determinismus getränkt mit rassistischer, ethnischer, religiöser oder nationaler Diskriminierung. Die Senkung oder Erhöhung des Preises für ein Barrel Öl (oder eine Tonne Uran), die Erlaubnis, eine Militärbasis einzurichten, oder die Öffnung der Wirtschaft des Landes werden damit zum entscheidenden Faktor in der Beurteilung einer Regierung darüber, ob es Völkermord gab oder nicht. Oder auch darüber, ob es Völkermord geben wird oder nicht und ob darüber berichtet wird oder nicht. Und wenn berichtet wird, wie berichtet wird. So war beispielsweise über den Tod von zwei Millionen Menschen in Kongo praktisch nichts zu hören. Warum? Und war der Tod von einer Million Irakern in Folge der Sanktionen vor der US-Invasion 2003 ein Genozid, wie der UNKoordinator für Humanitäre Angelegenheiten im Irak Denis Halliday sagte? Oder hat die USamerikanische UN-Botschafterin Madeleine Albright Recht, die erklärte, dass „die Sache es wert war“? Wer herrscht, bestimmt die Regeln. Ist es der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika? Oder eine irakische Mutter, die ihr Kind verlor?
Die Geschichte des Genozids lehrt uns, dass dieser nicht Irrung, Anomalie oder Panne im menschlichen System ist. Er ist eine Gewohnheit und so alt und beständig Teil der conditio humana, wie Liebe, Kunst und Landwirtschaft. Die meisten Völkermorde seit dem 15. Jahrhundert waren Teil des europäischen Strebens nach dem, was der deutsche Geograph und Zoologe Friedrich Ratzel als Lebensraum bezeichnete. ‚Lebensraum’ war das Wort, das er prägte, um den seiner Meinung nach dominanten natürlichen Impuls der Spezies Mensch nach Ausdehnung des eigenen Territoriums zu beschreiben. Bei diesem Streben ging es niemals nur um Land oder Raum sondern um Nahrung und Versorgung, kurz um Lebenserhalt. 1901 wurde das Wort Lebensraum zum ersten Mal in diesem Zusammenhang verwendet. Doch Europa begann die Suche nach Lebensraum bereits vierhundert Jahre zuvor, als Columbus Amerika erreichte.
Sven Lindqvist schreibt in seinem Buch Exterminate All the Brutes, dass Hitlers Streben nach Lebensraum in einer Welt, die andere europäische Länder bereits unter sich aufgeteilt hatten, die Nazis nach Osteuropa und weiter nach Russland trieb. Dabei standen die osteuropäischen und westrussischen Juden Hitlers kolonialem Ehrgeiz im Weg und mussten, wie zuvor die indigenen Völker Afrikas, Amerikas und Asiens, versklavt oder liquidiert werden. Die rassistische Dehumanisierung der Juden, erklärt der Autor, sei nicht als Ausbruch eines bösartigen Wahnsinns zu erklären. Sie ist vielmehr - und einmal mehr - das Produkt der uns vertrauten Kombination aus ökonomischem Determinismus und wohlkonserviertem Rassismus, und steht damit ganz und gar in der europäischen Tradition jener Zeit.
Angesichts dieser Interpretation der Geschichte kann die besorgte Frage nicht ausbleiben, ob ein an der Schwelle des “Fortschritts” stehendes Land wie Indien sich nicht auch an der Schwelle des Genozids befindet. Ist die weltweit als Wunder des Fortschritts und der Demokratie gefeierte Nation gar in einem Prozess der Selbstkolonialisierung verhaftet und droht ihr in naher Zukunft vielleicht ein Genozid? Die Frage an sich mag exotisch klingen, und aktuell ist die Verwendung des Wortes Genozid tatsächlich nicht gerechtfertigt.
Doch am Ende werden die Zaren der Entwicklung, wenn sie an ihre eigene Propaganda glauben und überzeugt sind, dass es zu dem von ihnen gewählten Modell des Fortschritts ‚keine Alternative’ gibt, töten müssen. Und sie werden viele töten müssen, um ihre Ziele durchzusetzen.
Der Blick auf die Karte zeigt: Die indischen Waldgebiete, die mineralienreichen Zonen des Landes und die Heimat der Adivasi decken sich. Diejenigen, die wir arm nennen, sind die eigentlich Reichen im Land. Je fester globale Konzerne und die Wirtschaft unser Leben und unsere Fantasie im Griff haben, desto enger schließen sich die Profiteure zusammen. Aus kosmischer Höhe zeigen ihre Satellitenbilder die Wälder und Flusstäler, wo die Armen leben. Sie blicken herab und sehen ‚überflüssige’ Menschen die auf wertvollen Ressourcen sitzen. Irritiert (und verärgert) fragen sie sich: Was macht unser Wasser in ihren Flüssen, was macht unser Bauxit in ihren Bergen, was macht unser Eisenerz in ihren Wäldern? Die Nazis prägten einen Begriff dafür: Sie sprachen von überzähligen Essern.
„Der Kampf um den Lebensraum”, schrieb Friedrich Ratzel mit Blick auf den Kampf zwischen den indigenen Völkern und ihren europäischen Kolonialherren in Nordamerika, „ist ein Vernichtungskampf“. Vernichtung meint dabei nicht notwendigerweise die physische Auslöschung von Menschen – durch Niederknüppeln, Schlagen, Verbrennen, Bajonette, Vergasung, Zerbomben oder Erschießen. (Wobei natürlich Menschen auch physisch bekämpft werden - insbesondere, wenn sie versuchen, Widerstand zu leisten. Dann aber nennt man sie ‚Terroristen’.) Historisch betrachtet ist die effizienteste Form des Völkermords die Vertreibung von Menschen, die man in Lager sperrt und denen man den Zugang zu Nahrung und Wasser verweigert. Sie sterben ohne offensichtliche Gewalteinwirkung, oft in noch größerer Zahl als durch direkte Gewalt. Auf diese Weise löschte der deutsche General Adolf Leberecht von Trotha im Oktober 1904 die Herero in Südwestafrika aus. „Die Nazis zwangen die Juden, sich einen Stern auf den Mantel zu nähen, und trieben sie in ‘Reservaten’zusammen”, schreibt Sven Lindqvist, „nicht anders, als man es mit den indigenen Völkern, den Hereros, den Buschmännern, den Amandebele und allen anderen Kindern der Sterne gemacht hatte. Zusammengesperrt starben sie von allein, als man die Lebensmittelzufuhr der Reservate kappte.“ Amartya Sen erinnert daran, dass Hungersnöte in einer Demokratie unwahrscheinlich sind. Die Große Hungersnot Chinas wurde durch die Große Unterernährung Indiens abgelöst. (In Indien leben 57 Millionen unterernährte Kinder. Das ist über ein Drittel aller unterernährten Kinder der Welt.)
Ein Teil des hochwertigsten Eisenerzes der Welt findet sich im Bezirk Dantewara im indischen Bundesstaat Chhattisgarh, wo 644 Dörfer evakuiert und 50.000 Menschen in Polizeilager gezwungen wurden. Die jüngeren unter ihnen versorgte man mit Waffen und bildete sie für eine Miliz namens Salwa Judum aus. Die übrigen 300.000 Dorfbewohner verschwanden vom Radar der Regierung. Keiner weiß, wo sie sind und wie sie überleben. Die
Polizei bezeichnet alle, die nicht in den Lagern leben, als Maoisten oder maoistische Sympathisanten, womit sie zu legitimen Zielen der berüchtigten ‚Tötung im Gefecht’ in Indien geworden sind. Die Sicherheitskräfte sind in Stellung gebracht. Sie warten nur noch, bis der Regen aufhört. Doch schon erreichen uns Tag für Tag Nachrichten, die zeigen, dass das Töten und Sterben und natürlich die Vergewaltigungen der Frauen als unvermeidlicher Aspekt der Militarisierung, bereits begonnen haben.
Wie konnte es dazu kommen? Vor zwanzig Jahren, im Winter 1989, waren viele von uns Zeugen des glücklichen Augenblicks, in dem die Berliner Mauer fiel und die Stadt wiedervereint wurde. Allerdings wurden die Hämmer, die die Mauer zum Einsturz brachten, von einem anderen, weit entfernt in den zerklüfteten Bergregionen Afghanistans stattfindenden Krieg getrieben, in dem Kapitalismus seinen langen Jihad gegen den Sowjetkommunismus gewann. Nur wenige Monaten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Mauerfall vollzog die indische Regierung, einst an der Spitze der Bewegung der Blockfreien, eine drastische Kehrtwende und verbündete sich mit den Vereinigten Staaten, dem Herrscher der neuen, unipolaren Welt.
Über Nacht galten in Indien andere Spielregeln. Millionen Menschen in abgelegenen Dörfern und tief im Herzen unberührter Wälder, von denen manche noch nie von Berlin oder der Sowjetunion gehört hatten, hätten sich nie träumen lassen, wie sehr die Ereignisse in weiter Ferne ihr Leben beeinflussen würden. Die indische Wirtschaft öffnete sich dem internationalen Kapital. Gesetze zum Schutz der Arbeiter wurden abgeschafft. Die Ära der Privatisierung und der Strukturanpassung begann.
Heute stehen die Begriffe ‚Fortschritt’ und ‚Entwicklung’ für eine ‚Wirtschaftsreform’, die Deregulierung und Privatisierung bedeutet. ‚Freiheit’ meint ‚Auswahl’, und es geht nicht mehr um den menschlichen Geist, sondern um verschiedene Deodorantmarken. Der ‚Markt’ ist nicht länger ein Ort, den man aufsucht, um sich mit Vorräten zu versorgen, sondern ein entterritorialisierter Raum, in dem gesichtslose Unternehmen Geschäfte machen und, unter anderem, ‚Futures’ kaufen und verkaufen. ‚Gerechtigkeit’ meint ‚Menschenrechte’ (von denen, so sagt man, ‚ein paar reichen’). Dieser Diebstahl der Sprache, diese Usurpation von Worten, die wie Waffen eingesetzt werden, um Absichten zu verschleiern und die jetzt genau das Gegenteil von dem bedeuten, was sie einst besagten, ist einer der brillantesten strategischen Siege in diesem neuen System. Die Kritiker werden marginalisiert, indem man ihnen die Sprache nimmt, mit der sie Zweifel vorbringen könnten. Man diskreditiert sie als ‚Feinde des Fortschritts’, ‚Gegner der Entwicklung’, ‚Anti-Reformer’ und natürlich ‚Feinde der Nation’.

Man erklärt sie zu Verweigerern der übelsten Sorte. Wer über die Rettung der Flüsse oder den Schutz der Wälder spricht, dem hält man entgegen: ‚Glaubst du denn nicht an den Fortschritt?’ Menschen, deren Land durch Staudammbau geflutet oder deren Häuser von Bulldozern niedergewalzt werden, konfrontiert man mit der Frage: ‚Hast du denn ein alternatives Entwicklungsmodell?’ Denjenigen, die glauben, dass eine Regierung Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit garantieren muss, müssen sich den Vorwurf anhören: ‚Du bist wohl gegen den Markt!’ Und welcher vernünftige Mensch könnte wohl gegen den Markt sein?
Wir, die Schriftsteller, versuchen immer wieder, die Distanz zwischen Gedanken und Ausdruck zu verringern und unseren innersten, profundesten Überlegungen Form zu verleihen. In der neuen Sprache der Entwicklung geschieht genau das Gegenteil. Hier geht es um das Verschleiern, um das Verbergen der wahren Absichten.
Dieser Raub der Sprache erweist sich als Eckpfeiler des Versuchs, die Dinge auf den Kopf zu stellen.
Zwanzig Jahre dieser Art des ‚Fortschritts’ in Indien haben zur Herausbildung einer breiten Mittelschicht geführt, die trunken ist vom raschen Wohlstand und vom Respekt, der ihr plötzlich entgegen gebracht wird. Gleichzeitig ist eine wesentlich größere, verzweifelte Unterschicht entstanden. Millionen Menschen wurden durch Überschwemmungen, Dürrekatastrophen und Verwüstung in Folge massiver Eingriffe in die Umwelt – riesige Infrastrukturprojekte, Staudämme, Minen und Sonderwirtschaftszonen – besitz- und obdachlos. Die angeblich im Interesse der Armen ergriffenen Maßnahmen dienen in Wirklichkeit nur den immer größer werdenden Bedürfnissen der neuen Aristokratie.
Im Zentrum der indischen Debatte über ‚Entwicklung’ steht der Kampf um das Land. Der ehemalige Finanzminister P. Chidambaram stellt sich vor, dass 85 Prozent der Bevölkerung in Städten leben soll. Die Verwirklichung der ‚Vision’, die er der Öffentlichkeit im vergangenen Jahr präsentierte, erfordert soziales Engineering in unvorstellbarem Ausmaß: Fünfhundert Millionen Menschen müssen überzeugt oder gezwungen werden, vom Land in die Städte zu migrieren. Diesen Prozess kann Indien nur als Polizeistaat umsetzen: Menschen, die sich weigern, ihr Land aufzugeben, werden mit Waffengewalt vertrieben. Chidambarams ‚Vision’, die im Grunde ein Albtraum ist, impliziert die Räumung riesiger Landstriche und die Übergabe aller natürlichen Ressourcen Indiens an die Konzerne.
Schon jetzt verwüsten marodierende Multis die Wälder, Berge und Gewässer mit Hilfe eines Staates, der jegliche soziale Bindung aufgegeben und sich dem ‚Ökozid’ verschrieben hat. Im Osten des Landes werden komplette Ökosysteme durch den Abbau von Bauxit und Eisenerz zerstört. Fruchtbarer Boden wird zur Wüste. Im Himalaya sind hunderte Mega9 Staudämme geplant. Mit katastrophalen Konsequenzen. In den Ebenen werden unter dem Vorwand des Hochwasserschutzes die Flüsse kanalisiert. Dadurch heben sich die Flussbetten, die Flüsse führen mehr Wasser und treten wesentlich häufiger über die Ufer, als in der Vergangenheit. Der Salzgehalt der landwirtschaftlichen Böden steigt, und die Lebensgrundlage von Millionen Menschen wird vernichtet. Die meisten heiligen Ströme Indiens, darunter der Ganges und der Yamuna, sind zu ganz und gar nicht heiligen Senken geworden, in denen mehr Schmutz- und industrielle Abwässer fließen, als Wasser. Kaum noch ein Fluss folgt seinem ursprünglichen Lauf und fließt ins Meer.
Nachhaltige Getreidesorten, die den lokalen Bodenbedingungen und dem jeweiligen Mikroklima angepasst sind, werden durch wasserzehrende Hybride und genetisch modifizierte Cash-Crops ersetzt. Diese steigern nicht nur extrem die Abhängigkeit von den Märkten, sondern benötigen auch riesige Mengen von chemischem Dünger, Pestizide, Bewässerungskanäle und Grundwasser. Misshandlung und chemische Produkte laugen das Ackerland aus, bis dieses schließlich unfruchtbar wird. Die Kosten für die landwirtschaftliche Produktion steigen, und die Kleinbauern geraten in die Schuldenfalle. In den letzten Jahren haben über 180.000 indische Landwirte Selbstmord begangen. Während die mit langsam verrottenden Lebensmitteln gefüllten staatlichen Getreidesilos zu Bersten drohen, leidet das Land Hunger und Unterernährung. Die Lage ist mit der afrikanischen Subsahara-Region vergleichbar.
Eine alte Gesellschaft, die unter dem Gewicht von Feudalismus und Kastenwesen zu kollabieren begann, ist in den Strudel einer riesigen Maschinerie geraten. Angesichts der traditionellen, teils neu kalibrierten und zunehmenden Ungleichheit, droht die Gesellschaft auseinander zu brechen. Im Zerfallsprozess bildete sich eine dünne Schicht fetter Creme auf einer großen Menge dünnen Wassers. Die Creme sind die vielen Millionen Verbraucher auf dem indischen Markt, die Autos, Handys, Computer und Grußkarten zum Valentinstag kaufen und den Neid der internationalen Geschäftswelt hervorrufen. Das Wasser bleibt dagegen bedeutungslos. Gleichgültig, ob es herumschwappen darf oder in Rückhaltebecken gestaut wird: Am Ende wird es abfließen und zurück bleibt ausgetrockneter Boden.
Zumindest schien dies der Lauf der Dinge zu sein – bis der Krieg im indischen Kernland ausbrach und Chhattisgarh, Jharkhand, Orissa und Westbengalen erfasste.
Doch kehren wir zurück ins Jahr 1989. Als wollte sie die Verbindung zwischen ‚Einheit’und ‚Fortschritt’ illustrieren begann die rechtsgerichtete Bharatya Janata Partei (BJP) ihre massive Kampagne des Hindu-Nationalismus (Hindutva) just als die Regierung der Kongresspartei den indischen Markt für die internationale Finanzwelt öffnete. Das Hindutva-Projekt ist weitgehend das Produkt der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), ideologischer Kern und Holding Company der BJP. Die RSS wurde 1925 gegründet und nach dem Muster des italienischen Faschismus gestaltet. Auch Hitler war, und ist, ihr Inspiration. So heißt es in M.S. Golwalkers RSS-‚Bibel’ Wir, oder: Definition unserer Nation:
Seit jenem schrecklichen Tag, als die Moslems Hindustan erreichten, bis heute, kämpfte die Hindu-Nation heldenhaft gegen diese Plünderer. Der Geist der Rasse ist erwacht.
Und weiter:
Um die Reinheit der Rasse und Kultur zu wahren schockte Deutschland die Welt, indem es das Land von den semitischen Rassen säuberte – den Juden. Rassenstolz in höchstem Maß manifestierte sich hier … eine gute Lektion für uns in Hindustan.
Lernen und nutzen wir sie!
Die RSS hat heute über 45.000 shakhas (Abteilungen) und eine Armee von mehreren Millionen swayamsevaks (Freiwilligen), die ihre Lehre überall in Indien verbreiten. In ihren Reihen finden sich so prominente Mitglieder wie der ehemalige Premierminister Atal Bihari
Vajpayee, der Oppositionsführer L. K. Advani und der dreimalige Ministerpräsident von Gujarat Narendra Modi. Zu ihren nicht offiziellen Anhängern zählen wichtige Vertreter der Medien, der Polizei, Armee, des Geheimdienstes, der Justiz und der Verwaltung.
1990 reiste der Führer der BJP L.K. Advani durch das Land und schürte den Hass gegen Muslime. Er forderte den Abriss der Babri Masjid Moschee, die im 16. Jahrhundert an einer umstrittenen Stelle in Ayodhya gebaut worden war, und die Errichtung eines Ram Tempels am gleichen Standort. 1992 zerstörte ein von Advani angefeuerter Mob die Moschee. Anfang 1993 wütete ein weiterer Mob durch Mumbai, griff Muslime an und tötete fast eintausend Menschen. In einem Racheakt explodierten darauf mehrere Bomben in der Stadt. 250 Menschen starben. Die BJP profitierte von der Massenhysterie, die sie selbst provoziert hatte, und errang 1998 im Zentrum den Wahlsieg über die Kongresspartei.
Es ist kein Zufall, dass die Hindutva-Bewegung genau in dem historischen Augenblick stark wurde, in dem die USA ihren Erzfeind, den Kommunismus, durch den Islam ersetzte.
Plötzlich waren die radikalen, islamistischen Mujaheddin, die Präsident Reagan noch im Weißen Haus empfangen und mit den Gründervätern Amerikas verglichen hatte, Terroristen.
Im Ersten Golfkrieg 1990 wandelte sich die indische Regierung, einst treuer Freund der Palästinenser, zum ‚natürlichen erbündeten’ Israels. Mittlerweile führen Indien und Israelgemeinsame Militärmanöver durch, tauschen Geheimdiensterkenntnisse aus und korrespondieren vermutlich auch über die Frage, wie man besetzte Gebiete am besten verwaltet. %%%SEITENUMBRUCH%%%Natürlich stellte sich die frisch gewählte BJP loyal zum Freien Markt auf. Nur wenige Wochen nach der Regierungsübernahme praktizierte sie eine Reihe von Atomtests. Die nationalistische Triumphorgie, mit der diese begrüßt wurden, markiert den Beginn einer neuen, eiskalten Sprache der Aggression und des Hasses im öffentlichen Diskurs. Im Februar 2002, nach dem Brandanschlag auf einen Eisenbahnwaggon, in dem 58 von Ayodhya zurückkehrende hinduistische Pilger starben, setzte sich die BJP-Regierung in Gujarat unter der Führung von Ministerpräsident Narendra Modi an die Spitze eines sorgfältig geplanten Genozids an Muslimen im Bundesstaat. Die weltweit generierte Islamophobie nach dem 11.
September 2001 beflügelte sie nachhaltig. Der Staatsapparat in Gujarat sah untätig zu, als mehr als zweitausend Menschen massakriert und über 150.000 Muslime aus ihren Häusern vertrieben wurden. Dies war ein Massaker - und ein Genozid. Und obwohl die Opferzahl im Vergleich zum Schrecken in Ruanda oder Kongo gering war, stellte das Gemetzel in Gujarat ein bewusstes, öffentliches Spektakel dar – mit unmissverständlicher Intention. Es war eine öffentliche Warnung der Regierung des demokratischen Lieblings der Welt an die muslimischen Landeskinder. Nach wie vor leben die Muslime in Gujarat in Ghettos, leiden unter dem sozialen und ökonomischen Boykott und haben keine Aussicht auf Gerechtigkeit.
Die Mörder laufen weiter frei herum. Es sind angesehene Mitglieder der Gesellschaft.
Nach dem Blutbad drängte Narendra Modi in Gujarat zu Neuwahlen und wurde mit deutlicher Mehrheit im Amt bestätigt. Fünf Jahre später konnte er seinen Erfolg wiederholen: Aktuell ist er in seiner dritten Legislaturperiode.
Im Januar 2009 lobten die Generaldirektoren zwei der größten indischen Unternehmen, Ratan Tata (als Teil der Tata Group) und Mukesh Ambani (Reliance Industries), in einem großen, öffentlichen Akt die Entwicklungspolitik Narendra Modis und empfahlen ihn nachdrücklich als künftigen Premierminister. Damit besiegelten sie das organische Bündnis zwischen ‘Einheit’ und ‚Fortschritt’ bzw. zwischen Faschismus und dem freien Markt.
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Die jüngsten Parlamentswahlen in Indien kosteten 2009 rund zwei Milliarden Dollar, weit mehr als die jüngste Präsidentschaftskampagne in den USA. Einige Medien berichteten sogar, es wären bis zu zehn Milliarden Dollar ausgegeben worden. Woher kommt dieses Geld,
fragt man sich?
Die Kongresspartei und ihr Bündnis der United Progressive Alliance (UPA) errangen eine komfortable Mehrheit, wogegen über neunzig Prozent der unabhängigen Kandidaten bei dieser Wahl zu den Verlierern gehören. Kein Wunder: Sie können weder subventionierten Reis, noch freies Fernsehen oder Bargeld gegen Wählerstimmen versprechen oder die unwürdigen, vulgär-karitativen Akte vollziehen, zu denen Wahlen in unserer Zeit verkommen sind.
Ein genauerer Blick auf das Wahlergebnis zeigt jedoch, dass Begriffe wie ‚komfortabel’ oder ‚Mehrheit’ täuschen bzw. schlichtweg falsch sind. So wurde die UPA beispielsweise von nur 10,3 Prozent der Bevölkerung des Landes gewählt. Ist es nicht interessant, wie die pfiffig gestaltete Arithmetik der Wahldemokratie eine winzige Minderheit zu einer haushohen Mehrheit machen kann?
Im Vorfeld der Wahlen herrschte weit über die Parteigrenzen hinaus Konsens über die Notwendigkeit von Wirtschafts’reformen’. Manch ein Beobachter empfahl gar sarkastisch, Kongress und BJP sollten doch eine Koalition eingehen. Ermutigt durch die ‘konstruktive’Zusammenarbeit und den Parteienkonsens, engagierten sich die großen Konzerne begeistert für die Kampagne. Ihnen ist nicht entgangen, dass ein demokratisches Mandat die beste Chance für die Legitimierung ihrer Ausplünderung des Landes bietet. Zahlreiche Unternehmen sponserten massive Werbekampagnen im Fernsehen - teils unter Mitwirkung von Bollywood Filmstars - um die Inder - Alte wie Junge, Reiche und Arme - an die Wahlurnen zu locken.
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Wie auch immer es weitergehen mag: Die Wahlen in Indien 2009 haben das Projekt ‚Fortschritt’ sicher auf den Weg gebracht, was keineswegs heißt, dass das Projekt ‘Einheit’damit auf der Strecke bliebe.
Zu Beginn des Wahlkampfes forderte der schreckliche neue Mann der BJP, Varun Gandhi (auch er aus dem Nehru-Klan), gegen den selbst Narendra Modi moderat erscheint, dass Muslime zwangssterilisiert werden sollten. „Dies wird eine Bastion der Hindus sein. Kein **** Muslim soll es wagen, sich hier zu erheben”, sagte er, und wählte einen höchst diskriminierenden Begriff für eine beschnittene Person. „Ich will keine einzige muslimische Stimme.“ Varun Gandhi gewann die Wahl mit riesigem Vorsprung, was die Frage aufwirft, ‚ob das Volk immer Recht hat’.
Die ehrwürdigen Institutionen der indischen Demokratie - Justiz, Polizei, ‘freie’ Presse und, natürlich, Wahlen - sind längst kein System der gegenseitigen Kontrolle mehr. Ganz im Gegenteil. Die Gerichte stehen heute nahezu komplett im Dienst der Unternehmensinteressen. Die Medien finanzieren sich zu über neunzig Prozent aus Werbeeinnahmen. Die staatlichen Institutionen geben sich gegenseitig Deckung, um im ‚weiter reichenden’ Interesse von Einheit und Fortschritt zu handeln. Dabei produzieren sie so viel Konfusion und Lärm, dass warnende Stimmen längst nicht mehr zu hören sind. Dies wiederum stärkt das Bild der toleranten, schwerfälligen, bunten und ein wenig chaotischen Demokratie. Das Chaos ist real. Ebenso wie der Konsens.

Beim Stichwort Konsens kommt das ewige Thema Kaschmir in den Sinn. Hier ist der Konsens in Indien tief verankert und umfasst alle Teile des Establishments: Medien, Verwaltung, Intellektuelle und Bollywood. Meine Zeit reicht hier nicht, um die Geschichte der unendlichen Tragödie Kaschmirs zu erzählen. Doch kann ich nicht von Indien sprechen, ohne Kaschmir zu erwähnen. Dies wäre unverzeihlich und mir unmöglich.
Der Freiheitskampf Kaschmirs begann 1947, doch erst vor zwanzig Jahren, 1989, kam es zu einem bewaffneten Aufstand. Siebzigtausend Menschen ließen in diesem Konflikt bisher ihr Leben. Zehntausende wurden gefoltert, mehrere tausend Menschen ‘verschwanden’, Frauen wurden vergewaltigt, viele zu Witwen gemacht. Über eine halbe Million indische Soldaten sind im Kaschmir-Tal stationiert, womit die Region zur am stärksten militarisierten Zone der Welt geworden ist. (Die USA hatten zu Hochzeiten der Besatzung knapp 165.000 Soldaten im Irak.) Die indische Armee behauptet heute, sie habe den militärischen Widerstand in Kaschmir niedergeschlagen. Das mag stimmen. Bedeutet Militärherrschaft aber auch Sieg?
Kaschmir liegt, und hier stellt sich das Problem, an den Verwerfungslinien einer Region, die von Waffen überschwemmt wird und ins Chaos abzugleiten droht. Der Unabhängigkeitskrieg der Kaschmiri ist in den Strudel gefährlicher und miteinander im Konflikt stehender Ideologien geraten: indischer Nationalismus (ökonomischer und ‘hinduistischer’ Prägung mit imperialistischen Schattierungen), pakistanischer Nationalismus (der unter der Last der eigenen Widersprüche ächzt), (angesichts einer auftankenden Wirtschaft ungeduldig werdender) US-Imperialismus und die wiedererstarkenden, mittelalterlich-islamistischenTaliban (die trotz ihrer wahnsinnigen Brutalität schnell an Legitimität gewinnen, denn sie leisten, so versteht man es, Widerstand gegen die fremden Besatzer). Jede dieser Ideologien ist zu einer Skrupellosigkeit fähig, die von Genozid bis zum Atomkrieg reichen kann. Kombiniert mit den imperialistischen Ambitionen Chinas, der aggressiven Reinkarnation Russlands, den riesigen Erdgasvorkommen in der kaspischen Region und dem ständigen Verweis auf Erdgas-, Ölund Uranreserven in Kaschmir und Ladakh ergibt dies das Rezept für einen neuen Kalten Krieg, der, wie schon der letzte, für manche durchaus ein heißer Krieg ist.
Kaschmir wird unvermeidlich der Kanal sein, durch den das sich in Afghanistan und Pakistan entwickelnde Chaos nach Indien hineinschwappen und in der Wut der jungen unter den 150 Millionen indischen Muslime niederschlagen wird, die unter Gewalt, Erniedrigung und Marginalisierung leiden. Ein Indiz dafür war die Anschlagsserie, die 2008 mit dem Terror von Mumbai ihren Höhepunkt erreichte.
Indiens - verzeihen Sie das Wortspiel - Schnellschuss, die mit Waffengewalt erzwungene Übergangslösung für Kaschmir, hat das Problem nachhaltig verschärft.
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Vielleicht ist die Geschichte des Siachen Gletschers mit dem höchstgelegenen Schlachtfeld der Welt die passendste Metapher für den Wahnsinn unserer Zeit. Tausende von indischen und pakistanischen Soldaten sind hier stationiert und frieren bei eisigem Wind und Temperaturen von unter Minus vierzig Grad Celsius. Viele der Hunderte, die hier den Tod fanden, starben an der Kälte - an Erfrierungen und Sonnenbrand. Der Gletscher ist mittlerweile eine Müllkippe. Hier lagert Kriegsschrott: Tausende von leeren Giftgasgranaten, Brennstoffbehälter, Eispickel, alte Stiefel, Zelte und anderer Müll, generiert von Tausenden von Kämpfern. Der Abfall dort zerfällt nicht. Eisige Kälte lässt ihn intakt und macht ihn zu einem unverdorbenen Monument menschlichen Irrsinns. Während die Regierungen Indiens und Pakistans Milliarden Dollar für die Waffen und Logistik dieses Höhenkrieges ausgeben, beginnt das Schlachtfeld jedoch zu schmelzen. Heute ist es nur noch halb so groß, wie es einst war. Dies ist allerdings weniger die Folge der verfahrenen militärischen Lage, als Konsequenz des guten Lebens, das Menschen in großer Ferne, auf der anderen Seite der Erde, leben. Es sind gute Menschen, die an Frieden, freie Meinung und die Menschenrechte glauben. Sie leben in vitalen Demokratien. Ihre Regierungen sind im UN-Sicherheitsrat vertreten. Ihre Ökonomien sind vom Export von Kriegen und Waffenhandel mit Ländern wie Indien und Pakistan (und Ruanda, Sudan, Somalia, Republik Kongo, Irak, Afghanistan sowie anderen auf dieser langen Liste) abhängig. Die Gletscherschmelze wird auf dem Subkontinent zu massiven Überschwemmungen führen. Lange Dürrezeiten werden folgen und das Leben von Millionen Menschen beeinträchtigen. Für uns ist das ein weiterer Grund, zu kämpfen. Wir werden mehr Waffen brauchen. Wer weiß, vielleicht ist es genau dieses Vertrauen der Verbraucher, was die Welt braucht, um die aktuelle Rezession zu überwinden. Den Menschen in den vitalen Demokratien wird es dann noch besser gehen - und die Gletscher schmelzen schneller.
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Das Publikum im Audimax der Universität von Istanbul, vor dem ich sprach, war angespannt - denn Worte wie Einheit, Fortschritt, Genozid und armenisch verärgern die türkischen Behörden, wenn sie sich zu eng beieinander im Text finden. Ich sah Hrant Dinks Witwe Rakel Dink in der ersten Reihe sitzen. Sie weinte. Am Ende meines Vortrags umarmte sie mich und sagte: ‘Wir hoffen weiter. Warum verlieren wir die Hoffnung nicht?’‚Wir’, sagte sie. Nicht ‚ihr’.

Die Worte des Urdu Dichters Faiz Ahmed Faiz, so bewegend gesungen von Abida Parveen, kamen mir in den Sinn:
nahin nigah main manzil to justaju hi sahi nahin wisaal mayassar to arzu hi sahi Im Versuch meiner Übersetzung heißt das:
Nimmt man dir deine Träume, lass die Sehnsucht an ihre Stelle treten.
Ist Begegnung unmöglich, gib dem Verlangen seinen Raum.

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