Essay

Postmoderne in der türkischen Literatur

Kriterien für eine Annäherung an Ahmet Hamdi Tanpınars, Bilge Karasus und Orhan Pamuks Werke
Hamburg

Die Diskussion Moderne-Postmoderne ist die Diskussion über eine Krise unserer Zivilisation. Diese Krise erscheint umso eklatanter, je direkter die zerstörerischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts als eine verhängnisvolle Kette von Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen, Kriegen und Massenverelendung ihre Wirkung ausüben können. Vorsichtige Zeitgenossen reden statt einer Krise – verharmlosend – von Orientierungslosigkeit, die sich allerdings weltweit ausbreitet. Die große Zahl der im 20. Jahrhundert aufgekeimten, gegensätzlichen Ideologien und „Ismen“ sind für sich schon ein Zeichen dafür, dass sich der Mensch geistig nicht mehr geborgen fühlt. Das gilt für die Industrieländern noch mehr als für Länder, die weniger von einer industriellen Produktion abhängig sind.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Erkenntnis immer dominanter, dass die rationalen und funktionalen Koordinaten der Moderne die Menschheit nicht von selbst gemachten oder selbst verursachten Katastrophen schützen können. Der Glaube an der Grenzenlosigkeit und Zuverlässigkeit der Technik war vorher bereits erschüttert worden – denken wir an den Untergang der Titanic, an die Explosion des Zeppelins, an die zerstörerischen Einsatzmöglichkeiten von bestimmten Wissenschaften, etwa der Atomphysik. Allmählich erschien die Moderne als zu technikgläubig und zugleich menschenfeindlich. Die Bilanz des Krieges zwang die Menschen nach 1945 zum umdenken. Eine Suche nach stabileren Grundlagen einer besseren Zivilisation war nach dem Zweiten Weltkrieg unvermeidlich geworden. Allerdings schlug sich diese Erkenntnis weniger in der Politik, als vielmehr bei vielen Künstlern als Motivation nieder.

Ihren Anfang nahm die Postmoderne in der US-amerikanischen Architektur schon Anfang der 1950er Jahre, allerdings geriet der ursprüngliche soziale Gedanke in der Praxis schnell in den Hintergrund und wurde zu einer Frage der Geldmittel kontra Stilistik. Aus der ursprünglichen Zielsetzung „menschenwürdigen Wohnraum für alle“ zu schaffen, entstanden letztendlich neue Wohnsilos und Trabantenstädte an den Peripherien der Großstädte, die ihrerseits – wie man es heute vielerorts erkennen kann – zu neuen sozialen Brennpunkten wurden.
In den verschiedenen Bereichen der Kunst manifestierte sich die Postmoderne als Protestbewegung gegen die etablierte Moderne, wobei einen konkreten, allgemeingültigen Anfang zu nennen nicht möglich scheint. Erst Anfang bis Mitte der sechziger Jahre kristallisiert sich der Begriff heraus, ohne jedoch eine einheitliche Definition zu erhalten.

Die Definition der Postmoderne scheint in der Literatur am schwierigsten zu sein. Auch in der Literatur gibt es 1945 einen deutlichen Schnitt – seinerzeit als geistigen Wendepunkt betrachtet –, der in erster Linie bei den amerikanischen Schriftstellern offenkundig ist, aber auch in Europa und in Deutschland. Wie der bekannte Literaturhistoriker Ihab Hasan es formuliert: "Als einzelne wie als Gruppe zeichnen sich die amerikanischen Schriftsteller der Nachkriegszeit durch deutlich erkennbare Merkmale aus. Sie distanzieren sich entschieden vom Erbe der dreißiger Jahre. Die Drohung des Totalitarismus von rechts oder links lässt ihnen jegliche Ideologie als hassenswert und alle offiziellen Darstellungen der "Wirklichkeit" als verdächtig erscheinen. Dem Krieg, der so sehr an ihren Energien gezehrt hat, verdanken sie ihre unerschrockene Klarheit, ihre Einsicht in das Wesen der menschlichen Existenz und eine Vorahnung des Kommenden. Die Illusionen, die ihnen geblieben sind, stellen sich als überlebensnotwendig heraus; die von ihnen erdachten, teils ausweichenden, teils in Aggression übergehenden literarischen Kunstgriffe dienen demselben Zweck."

In Frankreich, aber in kürzester Zeit auch in anderen Ländern, gewinnen die Gedanken Sartres, des existentialistischen Philosophen, so stark am Einfluss, dass sich eine ganze Generation von Schriftstellern an ihnen orientiert. Auch der deutsche Existentialist Heidegger hat – natürlich mit wichtigen Einschränkungen –, seine Wirkung auf viele Intellektuelle, und das Empfinden "in die Welt geworfen zu sein" wird zu einem der wichtigsten Lebensgefühle der Intellektuellen der Zeit. Auch in Deutschland gibt es einige Literaten, die gebündelte literarische Aktionen ins Leben rufen möchten, die aber oft wegen persönlichen Krisen nicht zum erwünschten Erfolg führen können. Als Vordenker kommen in den sechziger Jahren dann auch die zum Teil wieder in Deutschland wirksamen Mitglieder der Frankfurter Schule, am deutlichsten Adorno, zur Geltung und die Theorien über Kunst, Kultur und politisches Umfeld greifen auch auf Nichtkünstler über, sie gipfeln in der 68-er Studentenbewegung.

Die nach 1945 verstärkt einsetzende experimentelle Literatur bringt einschneidende Veränderungen für die traditionellen Erzählformen, gleichzeitig – und das ist das eigentlich Wichtige – beginnt ein gezieltes Nachdenken über Werte, die nicht nur innerliterarisch ist, sondern die menschliche Existenz per se in vielen ihrer Dimensionen hinterfragt, ja, sie sogar in Frage stellt.  

Diese Umbruchstimmung wird nicht nur in den westlichen Literaturen wirksam, er wird z.B. auch in der türkischen Literatur – zumindest für eine kleine Gruppe türkischer Literaten -, eine existentielle Frage und berührt sowohl den Alltag als auch die literarische Produktion, vor allem von Autoren, die sich von den Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges unmittelbar betroffen fühlen.

Bevor ich auf die postmodernen Phänomene in der türkischen Literatur eingehe, möchte ich noch die Eckpunkte der postmodernen, bzw. der experimentellen Literatur erläutern.

Woran kann man experimentelle/postmoderne Literatur erkennen? Ihre Merkmale sind nicht bestimmte Formen, vielmehr weist die Abwesenheit traditionell klarer Formen auf die Ausrichtung der Werke hin. In erster Linie sind es mehr oder weniger eindeutige Phänomene, an denen man postmoderne/experimentelle Werke identifizieren kann. Wie der Literaturwissenschaftler Ulrich Ernst es formuliert: "besonders markant im (...) experimentellen Roman, in dem der "allwissende Erzähler" sowie herkömmliche Strukturen der Gesellschaftsspiegelung, Figurenpsychologie und Handlungskausalität aufgegeben werden, dies mit der Konsequenz, dass im Rahmen eines Systemausgleichs neue, die Stabilität und Kontinuität der Gattung sichernde Kompositionsmuster hervortreten. Letztere erschöpfen sich nicht in erzähltechnischen Innovationen wie innerem Monolog, erlebte Rede und Bewusstseinstrom oder neuen Verfahren der Deskription anstelle von Diegese [Ausführung, weitläufige Erzählung] und der Simultaneität anstelle von Linearität, sondern umfassen auch eine Reihe neuer Formgesetzlichkeiten, die jenseits dessen angesiedelt sind, was man konventionellerweise unter Erzählen versteht." ( Ernst, Ulrich: Typen des experimentellen Romans in der europäischen und amerikanischen Gegenwartsliteratur. 1992).

Wie diese Beschreibung schon andeutet, wird durch diese stilistischen Griffe das Verständnis der Werke erschwert, insbesondere dann, wenn die Autoren Anspielungen an andere Werke der Weltliteratur direkt oder verfremdet verwenden, und ganz besonders dann, wenn ein Werk aus einer ganzen Kette von solchen Anspielungen besteht und sich eigentlich nur denen erschließt, die zumindest die meisten dieser angesprochenen bzw. zitierten Werke kennen. Typisch für dieses neue Erzählen ist die Aushöhlung der narrativen Strukturen bis zur "Schwundstufe". An ihre Stelle treten typische Techniken wie das "Montageverfahren, die Emanzipation der Dissonanz, das Verfremdungsprinzip, die Abstraktion von Gegenständlichkeit, die Sprengung des Dogmas realistischer Mimesis [Abbildung der Wirklichkeit], die Aufhebung überlieferter formaler und harmonikaler Zwangsregeln, die neuen Technomorphyen, die ästhetische Ausnutzung von Kalkül und Zufall - das alles, um die Aufzählung abzubrechen, ist unlösbar verwoben mit einer ästhetischen Strategie des Schockierens, Befremdens, Wachrüttelns, Verweigerns und Verstummens." schreibt der Philosoph Peter Sloterdijk (in „Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung“ 1987).

Haben sich die Modernen dem Cartesianismus, dem Positivismus, der reinen Vernunft, der Wissenschaftlichkeit und ähnlichen berechneten und berechenbar erscheinenden Prinzipien verpflichtet und gleichzeitig die Aufklärung auf ihre Fahnen geschrieben, erweitern Postmoderne das Repertoire sowohl zeitlich als auch kulturell, sie stellen Wissenschaft und Magie, Denken und Intuition, Fühlen und Handeln auf eine Stufe der Gleichwertigkeit. Für sie existieren alle Menschen gleichwertig-demokratisch nebeneinander und Erkenntnis kann jeder jedem vermitteln. Das ist eine wichtige Denkbasis, die zunächst sehr human und demokratisch erscheint. Mit dem Fortschreiten der Praxis ergeben sich daraus jedoch Probleme, die zum Teil heute schon sichtbar sind, zum Teil erst in Zukunft massiv zum tragen kommen könnten – befürchten manche Theoretiker. Um einige Bedenken zu benennen, verweise ich auch den Kanadischen Philosophen Charles Taylor, der einige Phänome der „Gleichwertigkeit“ als die „Disnaylandisierung“ der Kultur sieht. Vielleicht ist dieser Begriff eine Abwandlung der Massenkultur Adornos.

Im Diskurs der letzen Jahre erscheint mir auch ein Gedanke Peter Sloterdijks, den er in seinem Buch Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung zum Ausdruck bringt, ebenfalls wichtig: "das Auseinanderbrechen des alteuropäischen Wahrheitsbegriffs." Ein solcher Wahrheitsbegriff ist meiner Ansicht nach nicht nur „alteuropäisch“ – wie auch immer man „Alteuropa“ definieren möchte – Grundlage jeder Ästhetik und jeder Gesellschaft, an diesem Punkt treffen Literatur und Menschen - ob Leser oder Nichtleser - aufeinander. Dieser Wahrheitsbegriff beinhaltet auf der ganzen Welt „das Wahre, Schöne und das Gute“ – mag man es auch anderenorts auch anders formulieren.

Warum diese antiquiert wirkenden Begriffe von Bedeutung sind, werde ich am Beispiel der türkischen Literatur aufzuzeigen versuchen. Vorweg dazu eine weitere Feststellung Sloterdijks:  "Wahrheitsbegriffe sind nicht (…) die Angelegenheiten weltabgewandter Philosophen. Sie sind die ontologischen (das Seinsverständnis betreffenden) Zentralnervensysteme der Zivilisationen; sie entscheiden über die Art und Weise, wie und ob Kulturen sich in außermenschliche Umwelten einfügen; sie bestimmen darüber, wie sich die Kulturen selbst symbolisch ordnen oder desorganisieren. Die Auslegung der Welt und die Strukturierung menschlichen Lebens sind voneinander untrennbar und über das vermittelt, was in einer Kultur als Wahrheitsfunktion in Kraft ist. Dies mag erklären, warum ein Phänomen wie das Zerbrechen eines alten Wahrheitsbegriffs als zivilisatorisches Warnzeichen aufgefasst werden kann. Die voranschreitende Desintegration der Wahrheitsfunktionen taucht alle Erfolge der Modernität ins Zwielicht des Unheimlichen; sie signalisiert, dass etwas "aus den Fugen" gerät, dass etwas nicht mehr stimmt, dass alte Passungen nicht mehr gelten, dass etwas zerfällt, was in der einen oder anderen Weise gleichwohl zusammengehalten werden müsste."

Beginnend mit einer literarischen Interpretation des "Wahrheitsbegriffs" als ontologisches Zentralnervensystem der Zivilisation, das bis in die Alltagsstrukturierung hinein wirkt, möchte ich mit dem letzen Modernen und wohl gleichzeitig dem ersten Postmodernen in der türkischen Literatur beginnen: Mit dem Literaten Ahmet Hamdi Tanpınar (1901-1962) und seinem wichtigsten Roman Huzur/Harmonie (auf deutsch unter dem Titel Seelenfrieden erschienen)
Während des Zweiten Weltkrieges war der Autor Abgeordneter im Türkischen Parlament in Ankara und beschäftigte sich intensiv mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, die ihn zutiefst berührten und ihn in eine Lebenskrise stürzten. (Davon zeugen seine Tagebuchaufzeichnungen, die erst 2009 erschienen sind.) Diesen Krieg, den er als den Untergang der Zivilisation empfand, thematisierte er in dem o. g. Roman. Dieser erschien zunächst 1947 in Fortsetzungen in einer türkischen Tageszeitung, 1949, mit einem Kapitel ergänzt, in Buchform.
Der Roman (Harmonie / Seelenfrieden) definiert m. E. ein kulturell-philosophisches Problem, dessen Wirksamwerden der Autor nicht zuletzt als die Folge dieses Krieges sieht: das ersatzlose Wegbrechen eines kulturellen Identitätsparadigmas der türkischen Gesellschaft - ganz konkret, die tatsächlich noch in Kraft befindlichen Wirkungselemente einer alten Kultur, ohne eine stabile alternative Weltauffassung an ihre Stelle gesetzt haben zu können.

Formal kann dieser Roman bereits in Teilen als experimentell gesehen werden, denn er folgt sowohl den Regeln einer Symphonie (Oberstruktur) als auch einiger türkischer Musikwerke (Unterstrukturen), was nach der Definition des Literaturwissenschaftlers Ulrich Ernst bereits in die Kategorie experimentelle Literatur gehört. Auch inhaltlich bleibt der Literat nicht bei den Vorgaben moderner Mittel, die eher rational durchdacht und logisch nachvollziehbar wären, sondern setzt, seinem vielseitigen Naturell entsprechend, Elemente aus Mystik und transzendentalem Empfinden, besondere Wahrnehmungsarten und hohe Sensibilität, aber auch Elemente der osmanischen Geschichte und einiger untergegangener orientalischer Kulturen bewusst ein. Obwohl seine diesbezüglichen Bemühungen in der Türkei fälschlicherweise als "Synthese West-Ost" definiert und häufig abwertend als traditionalistisch bezeichnet wurde, möchte ich behaupten, dass es sich dabei um eine sehr bewusste "Umwertung der Werte" – im besten Sinne des Wortes – handelt (Ahmet Hamdi Tanpınar las Nietzsche bereits in seiner Jugend und dieser deutsche Denker hat ihn maßgeblich beeinflußt). Bedenkt man, dass der Druck der Zeit, eine neue Republik unter den vorgegebenen Prinzipien des Staatsgründers Atatürk (Republikgründung 1923), aufzubauen voll im Gange war und dieser Prozess die kulturelle Vergangenheit recht rigoros abschnitt, erscheint mir dieser Gedanke zumindest bedenkenswert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien der Roman 1949 in Buchform. Er ist – um es zeitgemäß zu formulieren - eine poetisch-philosophische Diagnose auf drei Ebenen: auf der individuellen Ebene, auf der Ebene der türkischen Gesellschaft und auf der Ebene der Welt. Der Literat Ahmet Hamdi Tanpınar nannte seinen Roman - trotz jeder fehlenden Harmonie - Huzur, also Harmonie. Es ist jene Harmonie gemeint, in der sich die Welt im Urzustand - wenn man so will, als Gottes Schöpfung – befunden haben soll, als die ersten Menschen noch sorglos – paradiesisch - leben konnten, in einer Harmonie, von der spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg nichts mehr übrig bleiben wird. Die Desintegration der eigenen, türkischen Welt hatte bereits früher eingesetzt - ob mangels eines verinnerlichten eigenen ästhetischen Wahrheitsbegriffs? - und die versunkene, abgelehnte osmanische Zivilisation, von der sich die Republik verabschiedet hatte, riss auch die herkömmlichen moralisch-ethischen Werte mit in den Abgrund. Im Sog dieser inneren Auflösung, in der zur Zeit des Zweiten Weltkrieges die ganze Welt steht, hat den Türken (als Gesellschaft) den ethisch-moralischen Tod gebracht, denn das große Vorbild, der neue Orientierungspunkt, der Westen nämlich, hält sich selbst in keiner Weise an den großen Idealen, sondern stürzt die Welt ins größte Elend - das macht Tanpınar unmissverständlich deutlich. Eine Schlüsselszene im großen Basar in Istanbul ist eine Spiegelung dieses Zustandes, den wir durch den inneren Monolog der Hauptfigur in einer mitreißenden Konzentration erfahren:

"Zwei schwer nachzuahmende Antagonismen des Lebens, deren Annäherung nicht möglich war, ohne unsere Haut zu beschmutzen und uns in unser Herz zutreffen, trafen hier aufeinander. Schlimmste Elend und erlesenster Luxus … oder das, was davon übrig geblieben war ... Auf Schritt und Tritt traf man auf verjährte Krümel ausgedienten Geschmacks sowie auf letzte große und alte Traditionsbrocken, von denen nicht zu erfahren war, ob und wenn ja, wann und wo sie ihre Fortsetzung fanden. Das vergangene Imperium leuchtete oft in einem dieser winzigen, ineinander verkeilten Läden in der verblüffendsten Gestalt und unvermittelt auf. Kleidung aus alten Zeiten, die von Ort zu Ort, von Sippe zu Sippe, von Ära zu Ära sich verwandelten, neben Teppichen und Kelims, deren Herstellungsort man trotz Nennung schnell wieder vergaß, ihre Farben und Motive man aber tagelang in der Erinnerung behielt, ein Haufen Kunstgegenstände, von byzantinischen Ikonen bis hin zu alten, beschrifteten Bronzeschildern, Juwelen von vor ein-zwei Generationen, die wer weiß welch ehemaliger Schönheit Hals oder Arm geschmückt hatten, konnten ihn mit dem Charme ferner Zeiten und den Mysterien, die ihrem Wesen in dieser feuchten und halbdunklen Welt zugefügt wurden, stundenlang fesseln. Das war nicht der alte Orient, aber der neue war es auch nicht. Vielleicht war es das Leben zur falschen Zeit, das sein Wesen verändert hatte (...)
Der Basar war ruhig, als wäre er ein vom Ägyptischen Markt hierher herübergefallener Tropfen.  
Am Eingang stellte ein winziger Laden eine kleine und elende Resümee jenes alten, wohlhabenden Orients zur Schau, dessen Wurzeln wer weiß bis wohin reichten und bis welche versunkene Zivilisationen führten: Kräuter und Wurzel, an deren Wirksamkeit jahrhundertelang als den alleinigen Mitteln bei einer Störung des Gleichgewichts in Leben und der Gesundheit geglaubt wurde, in verstaubten Glasgefäßen, langen Holzkisten und offenen Pappkartons, sowie Gewürze, denen man mit so viel Ehrgeiz nachgejagt hatte und derentwegen Ozeane überquert wurden.

Während Mümtaz (die Hauptfigur) diesen Laden betrachtete, kam ihm, ohne dessen bewusst zu sein, eine Zeile Mallermés in den Sinn: "Nach welchem unbekannten Desaster landeten sie hier ..." Hier, in diesem schmuddeligen Laden, an diesem Ort, wo an der Wand handgestrickte Strumpfhosen hingen ... und gleich nebenan, in Läden mit hölzernen Rollläden, Sitzbänken und Gebetsteppichen, die Rätsel der gleichfalls reichen und aus der Ferne betrachtet bezaubernd wirkenden Traditionen aufwarteten, in einer bis in die Ewigkeit jeder Klassifizierungsformel trotzenden Anordnung, in den Regalen, auf Koranlesepulten, auf Stühlen und den Möbeln des Geschäftes übereinander gestapelt, als würden sie ihrer Beerdigung entgegen- oder aber von ihrem Begrabungsort aus herumblicken. Aber der Orient konnte nirgends, nicht einmal in seinem Grab rein sein ... (...)
An beinahe allen Stellen der kleinen Läden waren massenweise Anzüge aufgehängt, wie fertige Lebenskonzepte, individuelles, von allen Seiten abgesichertes Glück. Kaufe dir einen von uns, ziehe ihn an und gehe als anderer Mensch zur Tür hinaus!"

Wie auf einen Müllhaufen geworfen, die alten, Kultur und Identität stiftenden Gegenstände, und gleich daneben billigste Konfektionskleidung aus Kunststoff – ehemals unermesslich Wertvolles neben Schund. In diesem Bild ist eine Vorahnung auf Konfektionsidentitäten der aufkommenden Massenkultur des 20. Jahrhunderts visionär vorweggenommen. Die innere Verelendung der Menschen tritt uns in vielen weiteren Szenen noch krasser, noch verstärkter entgegen. Und Tanpınar benennt seinen Rezeptvorschlag - der übrigens ihm in der Türkei seinerzeit heftige Ablehnung und Ausgrenzung bescherte, so dass er auch in anderen Ländern nicht entdeckt werden konnte. Dabei sind seine kulturellen Vorschläge als zivilisatorische Paradigmen interpretierbar, die für die Türkei das nötige Selbstbewusstsein, aber auch die Denkbasis für eine neue, stabile Identität hätten liefern können. Im Zwiegespräch zwischen einem Realisten, einem Militärarzt, und der Hauptfigur Mümtaz, klingt dieser winzige Vorschlag als eine unumgängliche Rückbesinnung an die eigenen Wurzeln. Und wenn man so will, ist diese Aussage der Punkt, um den sich die türkische Zivilisation selbstbewusst hätte ordnen können – wenn nur der "Orient" nicht ein so vorurteilbeladener Begriff wäre:

"- Der Orient, sagte der Arzt, der Orient mein Lieber, ist träge, dumm, hilflos und arm ... Aber im Inneren entschlossen, sich nicht täuschen zu lassen ... Was kann es für eine Zivilisation denn auch Wertvolleres geben? Wann werden wir lernen, den Menschen innerlich zufrieden zu stellen? Wann werden sie den Sinn von diesem "Sei gut zu dir selbst" begreifen?
- Als ob der Orient es verstanden hätte ..., erwiderte Mümtaz.
- Darauf kommt es nicht an ... Er hat es gesagt, und das genügt."

Wie man aus dem folgenden Textausschnitt erkennen kann, ist die zivilisationsbestimmende Tragweite der Ästhetik, des ästhetischen Verständnisses der Intellektuellen des Landes, bei Tanpınar der zentrale Punkt und wird im ganzen Roman als einer der Haupterzählstränge immer im Vordergrund geführt. In Wirklichkeit allerdings bereits 1939, als der Roman spielt, war das ein verlorener Windmühlenkampf, wie es den Teilnehmern einer Diskussion bereits damals, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, einzuleuchten beginnt:

"- Wir müssen zwei Dinge auseinander halten. Einerseits bedarf es einer gesellschaftlichen Entwicklung. Dies ist machbar, wenn man über die Gegebenheiten der Gesellschaft nachdenkt und sie Schritt für Schritt verändert. Natürlich wird Istanbul nicht ewig eine Region bleiben, die nur Kopfsalat züchtet. Istanbul und jede Ecke des Landes benötigen einen Wirtschaftsplan. Aber zu diesen Realitäten gehört auch unsere Verbundenheit mit unserer Vergangenheit. Denn sie ist, wie heute, so auch in Zukunft, eine der Strukturen unseres Lebens.
Das Zweite ist unsere ästhetische Welt. Streng genommen, unsere Welt. Ich bin kein Ästhet des Unterganges. Möglicherweise suche ich nur etwas Lebendiges in diesem Untergang. Und bewerte sie. (...)
Was die Toten (gemeint sind verstorbene Künstler und Literaten) in meinem Kopf betrifft, sie sind in dir genauso konkret wie in mir. Weiss du, was das eigentlich Traurige ist? Wir sind ihre einzigen Besitzer. Wenn wir ihnen in unserem Leben keinen Platz mehr einräumen, werden sie ihre einzige Seinsberechtigung verlieren ... Unsere armen Großväter, noch mehr unsere Komponisten, Dichter, und alle, deren Namen bis heute überdauert haben, warten nur darauf, unser Leben zu bereichern ... Sie treten uns gegenüber an den unverhofftesten Stellen."

Das ist der verhallende Appell, sich des "ontologischen Zentralnervensystems" einer Kultur, des Wahrheitsbegriffs gewahr zu werden. Die neuen Kinder, stolz, laut und für sich die alleinige Gültigkeit reklamierend, werden sich allerdings so manches mal als Titanen aufführen, nicht ahnend, das sie sich in ihrer Ignoranz freiwillig in den Mund Chronos begeben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich der Duktus in der türkischen Literatur völlig. Das hat in erster Linie politische Gründe, denn das Land erhält nach 1945 eine völlig neue Rolle in der Welt: Es wird zur äußersten östlichen Grenze der westlichen Zivilisation, ein Bollwerk gegen sozialistische, aber auch gegen einige ungeliebte islamische Länder. Die USA beginnen ab 1946 mit einer inneren Umstrukturierung, die teils öffentlich ist, also im politischen Leben manifest, größtenteils allerdings heimlich erfolgt (so z.B. die Einrichtung einer türkischen „CIA“).
Fortan ist die türkische Literaturszene gespalten. Es gibt sehr wenige Schriftsteller, die sich über die Wirksamkeit von Kulturbewusstsein und einem klassischen Wahrheitsbegriff im Klaren sind – das halten die meisten für veraltet. Die wenigen, die daran festhalten, werden nicht selten ausgegrenzt und heftig angegriffen – wie der oben vorgestellte Ahmet Hamdi Tanpınar. Die Verbindung zur kulturellen Vergangenheit des Landes ist abgeschnitten und erklärterweise unerwünscht, neue Werte müssen her. Zu dieser Auffassung passend positionieren sich viele Schriftsteller aus anatolischen Dörfern, die eine neue Realität installieren wollen und sich die – staatlich forcierte - Literatur der jungen sozialistischen Länder zum Vorbild nehmen. Wie deren Vertreter agieren auch diese türkischen Autoren autoritär und lassen keine andere Meinung als ihre eigene gelten. Geistiges Leiden, intellektuelle Krisen – was man auch abwertend als „Weltschmerz“ nennt - werden als kleinbürgerlich abgetan. Nur der Staat ist beiden Lagern – wohlbegründet – suspekt. Kein Wunder, dass sich Intellektuelle selbst und ihr Land immer mehr in der Krise erleben. Doch die Krise wird beinahe ausschließlich auf die äußere Welt, auf das System geschoben, nur diese Kausalität gilt als legitim. Was darüber hinaus bleibt, ist durchgehend ein ungenanntes – ostmodernes – Unbehagen, gleichgültig dessen, aus welcher Richtung sich die Schreibenden der türkischen Gesellschaft kritisch nähern. Das Zauberwort heißt in der Literatur Realismus, ohne dass sich die Repräsentanten Gedanken darüber machen, wie viele Auslegungsmöglichkeiten von „Wirklichkeit“ gibt.

Aber die Zahl der experimentell schreibenden Literaten nimmt schon ab 1950 merklich zu. Sie stehen in den fünfziger und sechziger Jahren hauptsächlich unter dem Einfluss des französischen Existentialismus, des Surrealismus, aber auch der Psychoanalyse und der Frankfurter Schule. Der Protest gegen den Vietnamkrieg, gegen die militärischen Machtübernahmen, bestimmen Thematik und Haltung vieler Werke. Diese Tendenzen sind sowohl in der Dichtung, als auch in der Prosaliteratur wirksam und es entstehen hervorragende Werke. Ich möchte hier nur wenige Beispiele erwähnen, um später auf zwei Autoren bzw. zwei Romane eingehen zu können. Als ein Genie gilt (im Nachhinein) der Literat Oğuz Atay, der in seinen Werken die Entwurzelung der Intellektuellen in der modernen Welt thematisiert. Wie seine Antihelden, ist auch er, der mittellose, intellektuelle Bürgerliche, an den Rand der Literaturszene gedrängt und mit Totschweigen gestraft. Erst Jahrzehnte später wird er zur Kultfigur der Literatur und ein viel zitiertes Vorbild junger Autoren. Ferit Edgü wendet in seinem weltweit bekannten Roman Eine Saison in Hakkari - wie bereits auch der Titel zeigt - die Intertextualität an, also die Bezugnahme auf andere literarische Texte. Nur erwähnen möchte ich einige wenige, weitere Namen, die dem Kreis der experimentierenden Literaten angehören und Hervorragendes geschaffen haben: Leyla Erbil, Tomris Uyar, Sevim Burak, Pinar Kür, Erendiz Atasü, Elif Shafak, Sadık Yalsizucanlar, Murat Gülsoy, u.a. – alle auch in deutscher Sprache vertreten.

Mit anderen Worten: einige türkische Literaten gliedern sich nahtlos in die Weltliteratur ein und thematisieren Globales bzw. Universales.
Nach 1980, durch eine neuerliche Machtübernahme des Militärs, ändert sich das literarische Leben der Türkei noch einmal einschneidend. Viele Autoren kommen vor Gericht, ein großer Teil wird inhaftiert. Diejenigen, die einer Gefängnisstrafe entgehen, legen sich eine Autozensur auf. Die neuen Autoren, die zunächst so unpolitisch wirken, werden von den Kollegen als "Eylülisten" (d.h. „Septemberisten“, weil der Putsch in September stattgefunden hat) also Kollaborateure der Militärmacht, beschimpft und ignoriert. Allen voran ist Orhan Pamuk einer der neuen, erfolgreichen Namen, den derartige Vorwürfe treffen. Aber eine junge Generation erobert sich in den folgenden Jahren einen Platz in der Literaturszene und drängt die meisten der früheren Autoren vom Platz. Und sie verwenden nicht nur neue Schreibtechniken - wie auch immer man sie beurteilen mag -, sondern auch ihre Selbstinszenierung als Stars ist dem westlichen Vorbild weitgehend angenähert.
Heute ist eine jüngere Generation von Autoren - auch in den Medien - sehr erfolgreich. Schließlich muss die ältere Generation der neuen den Platz endgültig überlassen. Aber Vertreter der alten Generation bekennen nach zwanzig Jahren, dass dieser Wechsel doch gut und notwendig war.

Um zum ursprünglichen Gedanken zurückzukehren: Zwischen dem Roman Huzur/ Harmonie aus dem Jahre 1949 und das Jahr 1985, als der zweite Roman erscheint, auf den ich hier näher eingehen möchte, ist die Zahl der türkischen Werke, die das Wahrheitsparadigma im Sinne Sloterdijks im Ästhetischen direkt und/oder indirekt und auf hohem Niveau behandeln, relativ gering. 1985 erst erscheint der Roman Gece/Die Nacht von Bilge Karasu, der alle bis dahin gekannten Regeln und Charakteristiken der türkischen Romanliteratur nicht nur auf den Kopf – und in den Schatten – stellt, sondern dem verstehenden Leser regelrecht den Boden unter den Füssen wegreißt. Dabei ist der Roman - bei entsprechender Lesart – eine global zu verstehende Antwort auf das völlige Verschwinden des Wahrheitsbegriffs.

Um Bilge Karasus literarische Intentionen verstehen zu können, bedarf es im Vorfeld der Klärung einiger Begriffe sowie der Herstellung einiger denkerischer Bezüge, da sein Roman Die Nacht sonst nicht richtig einzuordnen wäre. So stellt er z.B. einen Grundbegriff der Literatur in Frage, nämlich die Darstellung der Wirklichkeit, genannt „Mimesis“. Sehen wir zuerst, wie der Umgang der Postmoderne mit der Darstellung der Wirklichkeit ist.

Allgemein gilt, dass in postmodernen Romanen, eine Wiedergabe der "Wirklichkeit", mit anderen Worten angewandte Mimesis, problematisch, mitunter deplaziert ist. So formuliert der deutsche Literaturwissenschaftler Henk Harbers:
"Postmoderne Werke sind durch ein ausgeprägtes Bewusstsein der Sprach- oder Diskursbestimmtheit aller Erkenntnis gezeichnet. Das hat wichtige Folgen für Inhalt und Form. Postmoderne Literatur zeigt eine starke Skepsis gegenüber jeglicher Möglichkeit von wahrer Erkenntnis und einer ordnenden, zentrierenden Rolle des Subjekts. Fragmentarisierung, Pluralisierung, Dezentrierung werden zu Schlüsselbegriffen. (...) Jede so genannte "Wirklichkeitsbeschreibung" wird metafiktional ironisiert und zurückgenommen; die unentrinnbare Abhängigkeit von anderen Texten wird durch intertextuelle Spiele ins Bewusstsein gehoben. Es wird nicht mehr wie noch in der Moderne der Versuch gemacht, einen wenigstens individuellen, subjektiven - wenn vielleicht auch nur im Kunstwerk zu erreichenden - Weltentwurf zu machen, sondern es wird mit verschiedenen Weltentwürfen und mit der Unmöglichkeit zu entscheiden, was "wahr" oder "richtig" ist, ein ironisches, heiter-subversives Spiel gespielt. Von Mimesis in der Bedeutung "Darstellung von Wirklichkeit" bleibt da wenig übrig." ( Harbers, Henk: Postmoderne, Mimesis und Liebesdarstellungen, In: Scholz, Bernhard F. (Hrsg.): Mimesis. Studien zur literarischen Repräsentation, Tübingen/ Basel 1998)

Neben Mimesis war die Sprache als wichtiges Instrument der Realitätsschaffung für Bilge Karasu das große Thema. Sprache und einzelne Worte waren für ihn nicht einfach nur literarische Mittel, sondern „menschliche Programmiersprachen“, mittels denen man Einzelne und ganze Gesellschaften formen und „funktionieren lassen“ – also manipulieren – konnte.

Bilge Karasu war von Beruf Sprachphilosoph, seinerzeit der einzige in der Türkei. Er unterhielt zu den zeitgenössischen französischen Philosophen engen Kontakt (er hatte u.a. einige Semester in Paris studiert), vor allem zu den Strukturalisten und zu den Sprachphilosophen, so z. b. Lyotard und Derrida. Karasu verwendete, nach eigenem Bekunden, viele Erkenntnisse seiner französischen Kollegen in seinen literarischen Werken, weil er die meisten ihrer Ansichten teilte.

Lyotard setzte mit seinen Theorien Anfang bis Mitte der siebziger Jahre an dem Punkt an, dass eine neue Gesellschaft begründet werden muss, die sich anders legitimiert, als die bisherige, kapitalistische. Eine neue Gesellschaft muss neue Paradigmen haben (bzw. sich erarbeiten), die in der Ästhetik begründet sind. Lyotard formuliert Thesen, die in der Praxis der amerikanischen Protest-Bewegung, in der Pop-Art beispielsweise, erprobt wurden aber gescheitert sind: z.B. dass Kunst in die Lebenswelt überführt werden muss, um den Alltag zu revolutionieren. Das Ergebnis in Amerika war, dass die Rebellion gnadenlos vermarktet wurde und zur Ware verkommen ist. An diesem Punkt setzen spätere Kritiker an, wenn sie aus dieser Haltung zur Ästhetik eine "Disneylandisierung" unserer Kultur ableiten.
Viele Denkansätze Lyotards sind richtig, aber nicht neu, so auch die Feststellung, dass Kapitalismus alles zerstört: Traditionen, Bindungen, moralische Verpflichtungen, Identitäten, usw., und reduziert sie auf ihren Tauschwert (Verkaufswert). Lyotard erkennt sehr wohl, dass diese Grenze zu durchbrechen bzw. zu überwinden ist. Die Lösung sieht Lyotard in einer ethischen Ästhetik, die die gesellschaftlichen Paradigmen neu aufstellt und die Herrschaftshierarchien nicht weiter unterstützt, sondern sie zerstört.

Ein anderer Ansatzpunkt Lyotards ist die Sprache. Hier gibt es viele Gemeinsamkeiten mit Jacques Derrida, der ebenfalls als Theoretiker der Postmoderne gilt. Um nur wesentliche Punkte zu nennen: Sprache ist ein Handlungssystem, das ein rationales Wirklichkeitsmodell schafft und tradiert. Beide Denker plädieren für eine Beseitigung der überholten Sprach-Kommunikation zugunsten einer Bedeutungsvielfalt. Derrida rollt die Bedeutungsgeschichte der Sprache, bis in die griechische Antike zurück, auf. Auch er tritt für eine kritische Überprüfung und Änderung der Bedeutungen ein.
Bei Karasu sind derridäische Ansätze bezüglich der Sprache und ihrer Funktion deutlich zu erkennen, ebenso hat er Lyotards Gedanken über eine ethisch-ästhetische Gesellschaft bis zu einer konkreten Grenze gefolgt zu haben. Diese Grenze ist dort zu sehen, wo Lyotard als Lösung eine Zerstörung der Gesellschaft fordert und die Abschaffung der Zukunft. Diese letzte Intention ist bei Karasu nicht erkennbar, eher das Gegenteil, da er davon ausgeht, dass eine solche Vernichtung vom Machtapparat selbst ausgeführt wird.
Karasu ist sicher auch zerstörerisch, aber sein Paradigmenentwurf ist nicht die Vernichtung aller Werte. In seinem Roman Gece/Die Nacht, läuft statt dieser Zerstörung - auf der unsichtbaren Leinwand - die ideale Gesellschaft mit. Vielleicht aus diesem Unterschied heraus wehrte er sich gegen das Etikett "Postmoderne".

Bilge Karasu: Die Nacht
Historische Vorbilder von einer ganzen Reihe von despotischen / faschistischen Regime bilden im Roman eine Art “Destillat”. Neben dieser literarischen Neuerung, die man als erstmalig in der türkischen Literatur definieren kann, schafft Karasu in diesem Roman eine völlig neue Sprache (neue Worte und eine neuartige Syntax) und eine innovative Erzählweise. Das inhaltliche Hauptgewicht liegt auf einem gesellschaftlich-politischen Thema: Die faschistoid-diktatorische Marschrichtung unserer heutigen Welt. Das ist der Ausgangspunkt des Romans und Ansatzpunkt der “Handlung”. Ins Blickfeld der Leser rücken in erster Linie tiefenpsychologische Reaktionsketten, zu denen Menschen offensichtlich zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt neigen: Die egoistische Angst, Ansehen, Stellung und Macht - letztendlich sogar die Existenz - zu verlieren. Diese Angst kann und wird von den Machthabern beliebig manipuliert und immer wieder von Diktatoren ausgenutzt. Die Hinterfragung betrifft den Selbsterhaltungstrieb des Menschen, der eigentlicher Erschaffer einer suspekten Schöpfung/Zivilisation ist. Der Autor führt das erste Glied der Kette der Entstehung solcher Unterdrückungssysteme auf die Sprache zurück, in der sich uns Wirklichkeit erschließt (bzw. vermittelt wird): Sprache schafft Realitäten, deshalb müssen wir sie mit besonderer Sorgfalt nutzen.
Allen klassischen Regeln entgegengesetzt verlaufen in dem Roman vier Erzähllinien - durch vier Erzähler/Figuren gestaltet -, mal linear, mal parallel, mal umgekehrt, mal ineinander mündend, fast verwechselbar, und sie ergeben eine eigenwillige Struktur des Romans. Dem Leser erschließt sich eine bruchstückhafte Welt durch eine tastende, erkundende Sprache, die am Ende sich selbst in Frage stellt. Ob die Finsternis der Nacht und ihre "Arbeiter" Wirklichkeit, Traum, Symbol, eine Allegorie oder Thema eines entstehenden Romans sind, bleibt rätselhaft und offen, ebenso die Beschattung des Schriftstellers O., auf den Befehl seines früheren Schulkameraden N. hin, der nun ein Netz von Geheimagenten befehligt. Während in einer fiktiven Stadt die Nacht wie eine alles ausfüllende Masse niedersinkt und sich kriechend ausbreitet, verbreiten ihre unheimlichen "Arbeiter" eine diffuse Angst, spielen an heimlichen Stellen auf Befehl Todesschützenspiele. So werden immer mehr misshandelte und getötete Menschen dem Morgen überlassen. Die Zeit der Helligkeit wird immer kürzer, die Menschen auf der Straße werden immer gleichgültiger und eine grausige Atmosphäre breitet sich aus. Die Finsternis hat sich schließlich als System etabliert.

An einigen Ausschnitten aus diesem Roman möchte ich veranschaulichen, wie in Die Nacht die Genesis "rückwärts", ähnlich wie bei Derrida, aufgerollt wird. Karasu demonstriert, wie ein Zeichen eingeführt und dann dessen Bedeutung als Teil der Machthierarchie gefestigt wird:
"In den Straßen gehen die Arbeiter der Nacht umher. Sie beobachten, in welche Häuser die Brote, die viereckigen oder die ovalen Brote, die langen Brote hineingehen. Jemandem, der wachsam genug ist, entgeht nicht, dass sie sich zwar gebärden, als würden sie nichts von Bedeutung tun, doch so manches Mal doch Folgendes tun: Einer von ihnen geht und macht an einer gewissen Stelle einer Tür ein Zeichen, eine kaum deutliche Markierung. Das ist etwas, was rührige Beobachter irreführen soll. In keinem der markierten Häuser wird viereckiges Brot gegessen; aber das ist kein Zeichen, welches ein Hinweis darauf wäre, dass in jenem Haus Brot von dieser oder jener Form gegessen wird. Noch dazu werden die Türen so gekennzeichnet, als wäre dies ein so gut wie zufälliges Geschehen. Zumindest sieht es so aus."

Das ist ein universelles System-Prototyp, das auf die Verängstigung der Menschen, die „anders“ sind, baut. Wie sie sich etablieren konnte, sehen wir im nächsten Schritt:
"Den Gerüchten nach soll angeblich das Brot in seiner Hand nicht viereckig gewesen sein; oder er war wohl nicht schwarzhaarig; oder gehinkt soll er haben ... Gerede all das, natürlich. Niemand kennt die Wahrheit. Außerdem, gibt es denn eine Wahrheit, die man kennen müsste? Nicht einmal das weiß man. Was dagegen bekannt ist, was zu sehen ist, dass die Arbeiter unvermittelt an Wänden, an Ecken, aus Toren auftauchten, jenen jungen Mann aus der Menge heraustrennten, in ihre Mitte nahmen, und als sie wieder auseinander gegangen und verschwunden waren, blieb ein blutiges, undefinierbares Haufen Fleisch zurück. Nach Berichten von Augenzeugen, die ihn vor seinem Ende inmitten der Arbeiter der Nacht gesehen hatten, kann dieses Stück Fleisch nicht einmal die Hälfte jenes wohlgestalteten jungen Mannes gewesen sein. Über dieses blutige Fleisch wurden Holzspäne gestreut, trockene Blätter gelegt.
Am nächsten Morgen haben die Vorbeigehenden an der Stelle, wo der junge Mann zerstückelt wurde, im eisigen Licht des nicht hell werden wollenden Tages, auf dem Asphalt nichts als einen ins Dunkle neigende Fleck sehen können.
Inzwischen suchen die Menschen in den Gesichtern der Menschen nach geleckten Mündern, an den Händen nach Krallen. Aber die Arbeiter sind, weil sie Arbeiter der Nacht sind, tagsüber nicht auf den Straßen zu sehen. Waren die Arbeiter der Nacht früher einmal wie jedermann? Es gibt Leute, die daran glauben möchten.
Würden sie sich, wenn es dem so wäre, weniger fürchten?"

Die Angst um das eigene Leben macht aus den Menschen Marionetten - die wichtigste Voraussetzung für die Erhaltung jeder Machthierarchie:
"Manche finden es merkwürdig; manche dagegen finden darin nichts Erstaunliches: Die Arbeiter der Nacht waren am Anfang lediglich eine Menge Leute, über die man erzählte, von denen man gehört hatte, die Thema von Gesprächen waren; mit der Zeit nahmen sie hier und da Gestalt an, wurden gesehen, gehört; erst sehr viel später waren sie so wirksam, dass sie alle verängstigt, geschlagen, gebrochen, getötet haben, das wurde erst in den jüngsten Tagen für jeden plötzlich zur Wirklichkeit. Obwohl von Anfang an jeder die Regung der Angst in seinem Bauch fühlte, jeder..."
Die Hinterfragung wird provokant, wenn wissenschaftliche Erklärungsversuche zu Legitimierungen des Unrechts werden:
"Ärger, Angst, Unterdrückung fließen leicht ineinander über, nehmen die Gestalt des anderen an; was von Innen kommt, wirkt wie von Außen verursacht, das von Außen resultierende wirkt wie von Innen bewirkt. Alle drei sind Manifestationen des Ichs, des Gefühls der Niederlage des Ichs. Wurden die Arbeiter der Nacht immer nur aus Menschen rekrutiert, die aus dem Gefühl der Niederlage durchgedreht sind? Sind diese Arbeiter immer Menschen, die sich von ihren Kindheitstraumas nicht befreien können, die ihre Lieben nicht nach Lust und Laune in die Arme schließen können, deren Fleisch mit ihrem Fleisch nicht vereinigen können?
Es gibt Leute, die derartiges, die ähnliches sagen, diskutieren, die die innere Struktur der nahenden Wellen der Nacht analysieren."

Karasu wendet sich an den Leser, der sich seiner Verantwortung bewusst werden soll:
"Der Leser (man müsste sagen der Lesende; wie sich doch der Autor daran gewöhnt, sein Gegenüber als "Leser" zu sehen ... Obwohl diesmal, "die Leser" nicht "der Leser" sein werden; es wird vielleicht ein einziger dieses Heft lesen), der Lesende, warum soll er eine derartige Unterscheidung machen? Oder, wozu soll der Autor seine subjektiven Gedanken von den anderen Teilen trennen, anstelle, dass er die verschiedenen Ebenen des Werkes sucht und plant, soweit es ihm möglich und differenzierbar erscheint? Ich habe nicht selten über solche Typen gelacht, die nach den Spuren des Autors in seinem Werk gesucht haben."
Werk und Wirklichkeit - der Anteil des Denkens und die Neigung, die Welt als eine bestimmte Ordnung zu sehen, bzw. alles nach bestimmten Denkmustern zu ordnen, kann zu trügerischen Folgerungen führen, unseren Weg ins Desaster ebnen:
"Wir müssen wohl auf die Erzeugung eines trügerischen Gefühls verzichten, das Schreiben als ein Mittel (oder Mittler) zu betrachten, das Ordnung in eine ordnungslose (besser gesagt, nach menschlichem Ermessen außerhalb einer Ordnung befindliche) Welt bringen könnte, oder dass es bereits eine Ordnung gebracht hätte. Schreiben, sprechen, handeln wird uns nicht an diese (von uns letztlich nur kritisierten) Abwesenheit einer Ordnung gewöhnen."
Schreiben als Irreführung - wie bei Derrida. Wie aber steht es mit der Sprache? "Jeder Gedanke trägt die Dimensionen der Schemas in die sie gepresst wurde, die der Begriffe." Sollten sie aufgebrochen werden? Was würde das bedeuten?

"Wir akzeptieren theoretisch, dass die Struktur unseres Sehens, unseres Verstandes, unseres Denkens uns zu einer Reihe Irrtümern, zu falschen Schlüssen führen können, aber genauso wenig wie wir diese Irrtümer und falschen Schlüsse, aus welchen Gründen auch immer, zu erkennen bereit sind, genauso halten wir es für eine besondere Klugheit, nicht auf die Worte jener hereinzufallen, die sie uns zeigen und schildern. Wir verstehen nicht einmal, dass unserem Gegenüber, einem uns nicht ähnlichen Menschen, jene Dinge, die wir Grundwahrheiten nennen, nicht Grundwahrheiten sein müssen. Allerdings gelangen wir zu diesem theoretischen Schluss erst, wenn wir die Irrtümer, die die verschiedenen Denkstrukturen verursacht haben, betrachten."

Die Welt aber, die Dinge, existieren auch ohne menschliches Zutun. Sie zu Wörtern zu machen, zu Begriffen, die wir nach unserem Willen nutzen, ja ausnutzen, ist an sich schon eine Anmaßung. Wer wohl der erste war, der Worte gemacht hat? "Sehr wenige Menschen nur wissen, was das bedeutet. Die meisten Menschen glauben, dass diesseits der Kulisse die einzige Welt sei. Aber hinter der Kulisse halten diejenigen die Fäden allein in den Händen, die die Welt der Fädenhalter kennen."

Wer die Sprache beherrscht, beherrscht die Menschen - das ist die postmoderne Formel der Macht. "Es wird der Tag kommen, an dem wir werden begreifen müssen, dass wir uns vom Zauber der Worte trennen sollen." Die Entzauberung heißt, die Wörter und ihre Bedeutung zu prüfen, ihnen neue Bedeutung zu verleihen: "Vielleicht verleiht der Mensch der Sprache, je weniger er spricht - auch wenn es sonderbar klingt - vielfältigere Bedeutung."
Und schließlich gelangen wir zu der Krone der Schöpfung, zum Menschen. Ist die Bedeutung, die ihm beigemessen wird, gerechtfertigt? Angesichts der Bilanz dieses Romans, sicher nicht.
"Eines der Worte, von deren Zauber wir uns entfernen müssen - eines der wichtigsten - ist das Wort "Mensch". Wir benutzen es wie einen Talisman, machen ihn zum Träger der bestmöglichen Bedeutungen. [...] Verzichten wir darauf, den Menschen auf die höchste Stufe zu stellen, ihn für wichtiger zu halten als Tiere, Pflanzen, Wasser, Berge, in der Überzeugung zu leben, dass alles für den Sklavendienst an den Menschen erschaffen worden ist. Vielleicht würden wir dann den Wert der Menschen verstehen und lernen, dass er nur zusammen mit dem Tier, der Pflanze, dem Wasser, dem Berg, dem Stein einen Sinn haben kann, haben könnte, vielleicht können wir dann erst dem Menschen gegenüber Achtung empfinden."
Und die letzte, abschließende oder alles aufhebende Frage ist:
"Kann man, wenn man all das aufgeschrieben hat, dem Wahnsinn entgehen?"

Darauf gibt es wohl keine verbindliche Antwort.

Orhan Pamuk : Mein Name ist Rot

Anders als bei Bilge Karasu sieht das Experimentelle bei dem Bestseller-Autor und seit 2007 Nobelpreisträger Orhan Pamuk aus. Nach einem erfolgreichen Rezept mischt Pamuk literarische Zutaten und Kniffe, die für den anspruchsvollen westlichen, in seinen Vorurteilen bestätigten Leser als exotisch gelten und zudem die “Bildung” und den “Dialog der Kulturen” zu fördern scheinen. Im Gegensatz zu Bilge Karasu hat sich Orhan Pamuk von seiner ersten Publikation an intensiv um die bestmögliche Vermarktung seiner Bücher persönlich gekümmert.

Der Roman Mein Name ist Rot spielt im Winter 1591 in Istanbul, im Milieu der Miniaturmaler des Sultans und ist eine Mischung aus Krimi, historischem Roman, kunsthistorischem Exkurs in die venezianische Malerei des 16. Jahrhunderts und in die türkische  Miniaturmalerei, einer erotisch gewürzte Liebesgeschichte, und um allen diesen Themen herum winden sich Intrigen, die ineinander greifen und die vorwärts treibende Kraft des Romans bilden. Der wichtigste Faden im Roman behandelt die orientalische Miniaturmalerei, nicht nur weil um sie herum der kriminologische Teil des Romans angelegt wurde, sondern auch weil der Autor darüber mit detaillierten Einzelheiten aufwartet. So wird mehr oder weniger subtil die Grundlage für einen wertenden Vergleich zwischen West und Ost auf eine Weise möglich, die nicht nur die Kunst, sondern auch die Gesellschaften zueinander in Bezug setzt und damit die ständige Herabsetzung des “Orients” und die alle Vorurteile beinahe unbemerkt bedienende Aufwertung des Westens zementiert.
In diesem Falle halte ich bereits das Deckblatt des Buches (türkische Originalausgabe) für semiotisch (Zeicheninterpretation) bedeutend. Das Bild ist eine Collage aus einer Gesichtshälfte einer Frau, die aus einer beliebigen Illustrierten stammen könnte. An der Stelle des Auges steht ein Bildausschnitt aus der persischen Miniatur Miraçname, das in Täbris (Persien) ca. 1360 entstanden ist. Weitere Teile stammen aus verschiedenen Schehnamen (Königsbücher), u.a. das von Sultan Ibrahim Mirza 1556, Firdausis (?) aus 1522, aus dem von Schah Tahmasp in Auftrag gegebenen Schehinschahname, und aus dem Selimname 1597. Als erstes fällt ins Auge, dass sich alle angegebenen Quellen in Werken, die ausschließlich in den U.S.A. von amerikanischen Kunsthistorikern erfasst und bewertet wurden, befinden. Es fällt weiter auf, dass die Ausschnitte aus zwei Jahrhunderten, aus der Zeit von ca. 1330 bis 1597, stammen und persischen und türkischen Ursprungs sind. Mir scheint, hieraus ergeben sich einige Fragen, und wir dürfen gespannt sein, wie sie im Roman gehandhabt und beantwortet werden.

Wenn wir uns dem Text zuwenden, müssen wir uns zum Kern der Geschichte durch einige Schichten durcharbeiten, die Collageteile nach postmoderner Manier sind. Betrachten wir gleich den Auftakt des Romans: der Monolog eines Toten. Der sprechende Tote ist ein ermordeter Istanbuler Miniaturmaler, der jedoch seinen Mörder nicht nennt, sehr wohl aber den Grund seiner Ermordung:
"Hinter meinem Tod steckt eine ekelhafte Verschwörung gegen unsere Religion, unsere Traditionen, unsere Weltbetrachtung. Öffnet eure Augen, seht und erkennt, warum die Feinde dessen, was wir leben und glauben, die Feinde des Islam, mich getötet haben, warum sie euch eines Tages auch ermorden könnten. Die Predigten des Erzurumlu Nusret Hoca, denen ich mit tränenden Augen gelauscht hatte, verwirklichen sich nun Schritt für Schritt. Ich sage es euch, auch wenn das von uns erlebte in einem Buch aufgeschrieben würde, könnte es nicht einmal vom besten Miniaturmaler unter uns abgebildet werden. Genauso wie die erschütternde Kraft des heiligen Korans. Daraus folgt, dass es nicht abzubilden ist. Ich zweifle daran, dass ihr das verstanden habt."

Bei der Ermordung dieses Malers geht es also um Bilder, genauer um die Abbildung von Menschen und Ereignissen. Einerseits unterliegt dies im Islam einem Verbot, andererseits wäre das nichts anderes als die "Abbildung der Wirklichkeit", Mimesis also. Zur Mimesis ist die Haltung der Religionen sehr unterschiedlich, ja geradezu entgegengesetzt, was sich in der christlichen Malerei des späten Mittelalters und in der Ornamentik islamischer Gebäude aus der Blütezeit am deutlichsten widerspiegelt, wobei beide Stilrichtungen sehr konkrete Funktionen zu erfüllen haben. Mimesis spielt im Roman Mein Name ist Rot - genau wie die reale Stilistik der christlichen und der islamischen Malerei - eine brisante Doppelrolle: Zum einen erlangt die Inszenierung durch bildhafte, detailreiche Beschreibungen von Istanbuler Stadtteilen und Szenen aus dem Alltagsleben realistisch wirkende Züge. Zum anderen bildet Mimesis selbst, genauer der Diskurs unter den Malern über die Abbildung der Wirklichkeit, aber auch über den individuellen Stil in der Kunst, einen Haupterzählstrang. Sehen wir also, um was für Bilder es sich handelt. Es erzählt der Teamleiter der Hofmaler, Eniste Efendi, der später auch selbst ermordet wird:
"Mein Auftraggeber ist seine Heiligkeit, unser Padischah, das Fundament der Welt, sagte ich. Weil das Bilderbuch geheim zu halten ist, hat unser Padischah über den obersten Schatzmeister für mich Geld zur Verfügung stellen lassen. Ich habe mit den besten Meistern der Hofmaler einzelne Verträge abgeschlossen. Den einen ließ ich einen Hund, den anderen einen Baum, einen anderen die Randornamente und die Wolken am Horizont, einen anderen die Pferde malen. Die Sachen, die ich malen ließ, sollen, genau wie bei den venezianischen Meistern, die ganze Welt unseres Padischahs repräsentieren, das war mein Wunsch. Aber diese sollten, nicht wie bei den Venezianern, Hab und Gut, sondern natürlich sein inneres Reichtum, die Freuden und Ängste der Welt unseres Padischahs abbilden. Wenn ich das Geld abgebildet habe, doch nur um es gering zu schätzen, den Teufel und den Tod, weil wir sie fürchten. Ich weiß nicht, was das Gerede besagt. Die Unsterblichkeit der Bäume, die Müdigkeit der Pferde, die Frechheit der Hunde sollten die Welt unseres Padischahs repräsentieren, das wollte ich abbilden."

Keine Bilder ohne eine Geschichte - das ist die Auffassung der Miniaturmaler, was soviel heißt, dass das Bild nicht die Wirklichkeit abbildet, sondern eine Fiktion ist. Diese Überzeugung wurde aber erschüttert, als Eniste Efendi zwei Jahre zuvor, also 1589, als Gesandter des Sultans nach Venedig reiste:
"Niemand kann sich ein Bild ohne Geschichte vorstellen.
Ich hielt das zumindest für unvorstellbar, fügte ich mit vorgetäuschter Reue hinzu. Vor zwei Jahren reiste ich erneut als Gesandter unseres Padischahs nach Venedig. Ich schaute mir ständig die Porträts der italienischen Malermeister an. Ohne zu wissen, welche Geschichte, welche Szene die Abbildung zeigt, aber bemüht zu verstehen und diese Geschichte herauszubekommen. Eines Tages, als ich einem Bildnis an der Wand eines Palastes begegnete, blieb ich wie verwurzelt stehen.
Das Bild war die Abbildung eines Menschen, ähnlich wie ich. Ein Ungläubiger natürlich, nicht wie einer von uns. Aber wie ich ihn so betrachtete, spürte ich, dass ich ihm ähnlich war. Obendrein war er mir nicht im geringsten ähnlich. (...) Mir kein wenig ähnlich, aber warum auch immer ... er ließ mein Herz höher schlagen, als wäre es ein Bild von mir.«"

Also nicht nur Abbildung, sondern sogar die Abbildung des Selbst. Erkenntnis des Selbst in der Abbildung, auch wenn diese einen anderen zeigt. Mimesis als Thema, Mimesis als Diskurs-Faden, als theoretische Auseinandersetzung, als Differenz zwischen westlicher und östlicher Kultur, aber mit Wertung - also gedanklich gar nicht postmodern! An diesem Punkt kann man erahnen, dass diese Wertung nicht zum Vorteil der orientalischen Miniaturmalerei ausfallen wird, zumal - wie es später im Text angedeutet wird - der Mord nicht nur geschieht, weil Bilder malen dem islamischen Glauben widerspricht, sondern weil der individuelle Stil unter den Malern Anlass für Eifersucht und Neid (also Todsünden) war. Als Kriterium der Unterscheidung und Wertung europäischer/westlicher sowie orientalischer/östlicher Kunst wird die unterschiedliche Maltechnik, die Komposition des Bildes, der Stil und die Entdeckung der Perspektive verwendet. Der türkische Meister Osman fasst die Ideale der Miniaturmaler zusammen, die sich auf die erwähnten Punkte beziehen:
"»Heute würde ich, um zu verstehen, wie rein er ist, einem jungen Maler drei Fragen stellen.«
»Welche sind das?«
»Ist er versessen darauf, nach neumodisch chinesischer und europäischer Art unbedingt einen eigenen Stil zu haben? Wünscht er, dass er als Miniaturmaler eine persönliche Note hat, eine eigene Atmosphäre, und will er, wie die neuen europäischen Meister, durch eine Handzeichnung in einer Ecke des Bildes, diese bestätigen? Um das zu erfahren, würde ich ihn als erstes nach Stil und Handzeichen fragen.«
»Dann?« fragte ich mit Respekt.
»Dann würde ich erfahren wollen, was dieser Maler empfindet, wenn nach dem Tode der Schahs und Padischahs, die die Bücher bei uns in Auftrag gegeben hatten, die Bilder in anderen Büchern verwendet werden würden. Das ist eine hochsensible Sache, der man weder mit Kummer noch mit Freude zuvorkommen kann. Deshalb würde ich den Maler nach der Zeit des Bildes und nach der Zeit Gottes fragen. Verstehst du mein Sohn?«
Nein. Aber ich habe es nicht gesagt. »Das dritte?« fragte ich.
»Das dritte ist die Blindheit!« sagte der große Meister, der oberste Miniaturmaler Osman, und als würde das Gesagte selbstverständlich keinen Kommentar nötig haben, schwieg er.
»Was an der Blindheit?« fragte ich beschämt.
»Die Blindheit ist still. Wenn du das erste und das zweite, was ich vorhin sagte, zusammenführst, zeichnet sich die Blindheit ab. Die tiefste Dimension der Malerei ist, das zu erblicken, was in Gottes Dunkelheit sichtbar wird.«"

Um die ersten Punkte – um den individuellen Stil und um das Handzeichen – wird der Diskurs geführt, durch den ganzen Roman hindurch und zugleich der Eindruck erweckt, der Mörder sei derjenige Maler, der auf persönlichen Stil Wert legt. Schließlich findet sich der Mörder, auch die Liebenden kommen nach vielen Abenteuern zusammen und die Miniaturmalerei im Osmanischen Reich siecht - laut Orhan Pamuk - weiterhin perspektivlos dahin. Am Schluss rundet ein kleiner Scherz Pamuks Weltbetrachtung ab. Die weibliche Hauptfigur Seküre erzählt:
"Vielleicht schreibt er es auf, deshalb habe ich diese unabbildbare Geschichte meinem Sohn Orhan erzählt. Ich gab ihm ungeniert die Briefe, die mir Hasan und Kara geschickt hatten, und die Pferdebilder mit der ausgelaufenen Tusche, die in der Tasche des armen ermordeten Zarif Efendi waren. Er ist immer nervös, gereizt und deprimiert und schreckt nicht davor zurück, den Menschen, die er nicht mag, Unrecht zu tun. Seien Sie Orhan deshalb nicht böse, wenn er Kara kopfloser, unser Leben schwerer, Sevket als schlecht und mich schöner und frecher als ich bin, geschildert hat. Denn um seine Geschichte schön und glaubhaft zu gestalten, lügt er alles mögliche zusammen."
Wenn man weiß, dass Orhan Pamuks Mutter in der Wirklichkeit Seküre heißt und sein Bruder Sevket, dann scheint es, als würde er den ganzen Roman relativieren wollen - er - Orhan - lügt ja schließlich alles mögliche zusammen! Ein merkwürdiger Sinnrahmen.

Betrachten wir nun die formale Ausführung des Romans. 59 Kapitel, die jeweils als Monologe gestaltet sind und oft mit erlebter Rede einhergehen, sind voller Merkmale des postmodernen Romans. Typisch ist der fehlende allwissende Erzähler und die fehlende Figurenpsychologie. Obwohl die Handlungsführung linear wirkt, gibt es sowohl eine Simultaneität der Handlungen, als auch Sprünge in verschiedene Zeiten. Allerdings sind diese Sprünge weder genau terminiert, noch scheinen sie auf genaue Kenntnis der Materie zu basieren, sie sind beliebig und höchst ungenau. Sie sind andererseits argumentativ bedeutend und unter dem Aspekt einer Beweisführung bezüglich der Unvollkommenheit der türkischen Miniaturmalerei von technischer Wichtigkeit. Sie sind schwer lesbar und wirken verwirrend, sogar auf solche Leser, die sich mit der Materie auskennen. Die Kapitel sind überschrieben mit den Namen der jeweils Sprechenden. Als Neuerung bezeichnet Orhan Pamuk, dass ein Toter spricht, ein Hund, ein Baum, ein roter Farbfleck, das Geld, ein Pferd, also Teile der Bilder. Allerdings sind derartige Techniken in der Weltliteratur keineswegs neu, und in traditionellen Märchen gibt es schon seit jeher sprechende Tiere, Fabelwesen und andere Kreaturen. Also kann man das nicht als eine originelle Schreibtechnik Pamuks deklarieren - wie sogar deutsche “Kritiker” dies tun.

Auch in diesem Roman ist die Sprache eine besondere Schwachstelle von Pamuk. Es gibt grammatische Fehler, Syntaxfehler, vor allem aber Stilfehler. Ganz besonders fällt ins Auge, dass alle Figuren - nicht nur in diesem Roman Pamuks - auf die gleiche Art und Weise sprechen, der alte Maler verwendet den gleichen Wortschatz und Syntax wie sein siebenjähriger Enkel, die junge Witwe redet die gleiche Sprache wie der Mörder - kurz gesagt: keine der Figuren ist an einer angemessenen Ausdrucksweise wieder zu erkennen.
Am Ende des anstrengenden Leseaktes stellt sich die Frage, was im Roman beabsichtigt wurde? Unterhaltung? Wohl kaum, denn die Lektüre ist - unnötigerweise - viel zu schwierig gestaltet. Das mögliche Ziel, einen allgemeingültigen Wahrheitsbegriff zum Thema Wertigkeit der Kulturen zu etablieren, was wegen der willkürlichen Gegenüberstellung der unterschiedlichen Auffassungen über die Malerei im christlichen Europa und dem islamischen Orient plausibel wirkt, scheint sehr nahe liegend. Um dies nachvollziehen zu können, wenden wir uns zuerst der Zeit der Handlung zu. 1591 ist die Herrschaft von Sultan Murad III., jenes Sultans, der eine ganze Reihe neuer und neuartiger Bilder in Auftrag gegeben hat. Der auch im Roman erwähnte Osman war tatsächlich der oberste Miniaturmaler dieser Epoche und aus seiner Feder bzw. aus seinem Atelier stammt vor allem der berühmte Surname, das Buch des Festes. Auf 500 Bildern wurde das Beschneidungsfest des Kronprinzen Mehmed III. im Jahre 1582 verewigt. Wenn wir angesichts der Zeitangabe, 1591, die Frage stellen, an welchem geheimen Buch die Miniaturmaler aus dem Roman gearbeitet haben könnten, kommen mehrere Werke in Frage. Es könnte sich um das Werk Hünername (Das Buch der Heldengedichte) handeln, an dem "die besten Künstler der Epoche" gearbeitet haben müssen. Die Miniaturen stammen von Osman selbst. Erzählt werden die Kriege Sultan Süleyman des Prächtigen. Da aber von ihm im Roman keine Rede ist, kommt dieses Werk kaum in Frage. Das oft erwähnte Buch, das von dem persischen Schah Tahmasp in Auftrag gegeben wurde, ist ein Album aus dem 16. Jahrhundert und wurde Sultan Murad III. zum Geschenk gemacht. Die eingeklebten Bilder darin stammen aus verschiedenen Epochen und aus verschiedenen Malschulen, können also auch nicht das fragliche Werk sein, obwohl im Roman überwiegend Bilder aus diesem Werk erwähnt und erörtert werden. Am wahrscheinlichsten ist es, dass das fragliche Werk der Schehinschahname ( Das Buch des Königs der Könige) ist, das die Ereignisse der Herrschaft Murads III. in persischer Sprache erzählt und von einem Aserbaidschaner erstellt wurde. Es handelt sich um ein besonders schönes Werk, in dem „Eleganz und Harmonie der Gestalten trotz eines raffinierten Geschmacks eher konventionell (sind). Im ganzen Buch gilt die besondere Aufmerksamkeit der Zeichnung der Pferde, und die Komposition scheint dem Maler besser zu gelingen, wenn es sich darum handelt, Reiter zu beschreiben. Die Darstellung des Pferdes war übrigens von jeher eine der größten Talentproben der orientalischen Maler und sogar der Dichter." - führt der weltbekannte türkische Kunsthistoriker Mazhar Ipsiroglu aus. Aber ob daran 5 bis 6 Maler gearbeitet haben, ist nicht genau überliefert. Aber da es sich um eine große Zahl von Pferden handelt, dürfte dies das fragliche Buch aus dem Roman sein. Trotz der hohen Qualität gilt dieses Bilderbuch als Ausnahme seiner Zeit, denn es steht dem persischen Stil nahe und es ist in Persisch verfasst. Insofern ist es für die zeitgenössische türkische Miniaturmalerei untypisch. Was Bekanntheit und Wertungen der türkischen Malschule betrifft, möchte ich eine wichtige Anmerkung zitieren:

"Wie kommt es, dass eine Nation von so großer historischer Bedeutung, deren hervorragende Leistungen auf dem Gebiete der Architektur, der Teppichweberei, der Töpferei und der Fliesenkeramik bekannt und allgemein gewürdigt sind, auf diesem besonderen Gebiete der Kunst im Westen so wenig beachtet worden ist? Einer der Hauptgründe ist die Tatsache, dass es weder in den europäischen Museen und Bibliotheken noch in denen der Vereinigten Staaten erstklassiges und beglaubigtes Material gab und gibt, da der größte Teil davon in der Türkei geblieben ist, wo er zunächst fast unzugänglich war."
Dies könnte erklären, warum die Quellen des Deckblattes, auf die sich Orhan Pamuk stützt, möglicherweise irreführend sind. Allem Anschein nach hat Pamuk die sehr guten türkischen kunsthistorischen Auswertungen überhaupt nicht herangezogen und nahm sich sehr viel literarische Freiheit ausgerechnet an dem Punkt, den er offenbar kritisieren wollte.
Aber auch was die italienische Seite der Kunst betrifft, scheint es Unstimmigkeiten zu geben und es stellt sich eine sehr wichtige Frage: Warum Orhan Pamuk aus dem berühmten Cinquecento, aus der immensen Auswahl an berühmten Künstlern der Renaissance, so etwa Leonardo da Vinci, Michelangelo, Raffaelo bis hin zu Tiziano, keinen Künstler namentlich erwähnt, sondern sich lediglich in Allgemeinplätzen über Licht, Perspektive und Anordnung ergeht. Insbesondere erwähnt er nicht, dass auch in der Malerei des Cinquecento unter den verschiedenen Malschulen Konkurrenzkampf bestand - mal ganz abgesehen von der Haltung der Kirche und dem Machtkampf der Medicis und der Päpste - und der im Roman hochgehaltene individuelle Stil, vielmehr der Diskurs über denselben, in Europa erst im 18. Jahrhundert rein künstlerisch entfachte, weil die Malerei schon zur Zeit Tintorettos (Ende des 16. Jahrhunderts) in dem so genannten Manierismus zu ersticken drohte. Und gerade in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erlebt die italienische Malerei eine Sinnkrise - zwar auf sehr hohem Niveau -, aber es tritt ein politisch und weltanschaulich verursachter Stillstand ein.

In Venedig, zu dem das Osmanische Reich im 16. Jahrhundert intensive Beziehungen unterhielt, wirkte zu der Zeit der Romanhandlung der geniale Porträtmaler Tintoretto (1518 -1597). Möglicherweise bezieht sich Pamuk auf seine Werke, vor allem auf einige hervorragende Porträts, ohne ihn jedoch zu benennen. Tintoretto galt in der Malerei als eine Ausnahmeerscheinung, als ein Genius, das die Themen, die Farben, die Maltechnik revolutionierte, der bis dahin ungekannte Dynamik in die Bilder brachte. Die orientalische Miniaturmalerei mit Tintorettos Bildern vergleichen zu wollen, ist ein gewagtes und unlauteres Unterfangen. Außerdem drängt sich die Frage auf, was ein derartiger Vergleich beweisen sollte? Welchen Wahrheitsbegriff möchte wohl Orhan Pamuk seinen westlichen Lesern vermitteln?

 

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