Essay

Ist der „Jedermann“ ein schlechtes Stück?

Hamburg

„Jedermann!“ hallt es schaurig über den Salzburger Domplatz – und die säkularisierte Freizeitgesellschaft holt sich wieder einmal ihren Ablass für das Verdrängen von Krankheit, Not und Sterben. So charakterisierte vor Jahren schon der Theaterpublizist Andres Müry die Entwicklung von Hofmannsthals Stück zu einem „Spektakel des Todes“, das vor allem ein tourismusrelevantes Ritual geworden sei. Dies ist allerdings noch keine Kritik an dem altehrwürdigen Stück selber. Die traut sich dagegen Gerhard Stadelmeier zum wiederholten Mal in der FAZ (seine Verrisse sind Meisterwerke kreativer Bissigkeit). Seine Kritik der aktuellen Aufführung ist verbunden mit dem Befund, dass dem Stück von Hofmannsthal im Grunde nicht zu helfen sei. Warum?

Einige Wochen vor der diesjährigen Eröffnung der Salzburger Festspiele gab es in unserer kleinen Nachbargemeinde eine Aufführung des „Jedermann“ durch eine gut trainierte  Laienspielgruppe, stilgerecht im Hof einer barocken Klosteranlage. Ich ging hin, weil ich dachte, dass die altertümlich holzschnittartigen Figuren und Verse vielleicht bei Laien am besten aufgehoben wären und auch mal ein statuarisches „Aufsagen“ vertragen könnten. Im Lauf des Spiels wurde mir aber klar: dies ist ein äußerst kniffliges Unternehmen, das nur eine ganz ausgefeilte Regie mit den besten Schauspielern bewältigen könnte, eine Gratwanderung zwischen treuherziger Volkstümlichkeit, Ironie und Tiefsinn.

Den Tod als Figur lassen wir uns noch gefallen, aber der personifizierte Glaube auf der Bühne – ich merkte, das geht nicht mehr, und es ging auch vor knapp 100 Jahren nicht mehr, als Hofmannsthal das spätmittelalterliche Spiel vom Sterben des reichen Mannes für die Bühne erneuerte und in seinem Sinn adaptierte. Er bezog sich dabei hauptsächlich auf das anonyme englische Stück vom „Everyman“ (um 1490) und lehnte sich mit seiner Verssprache an Hans Sachs' „Comedi vom sterbend reichen Menschen“ (1549) an. Verstand er sich zunächst nur als Vermittler, der die alten Quellen „in Bescheidenheit aufzeichnen“ wollte, ähnlich wie es die Brüder Grimm mit den Märchen gemacht hatten, so sprach er doch später, als das Stück durch Max Reinhardt längst erfolgreich aufgeführt war, von einer „Transscription mit entscheidenden schöpferischen Elementen“. Hat er sich also mit dem Inhalt so weitgehend identifiziert, dass Andres Müry mit Recht von einem „Trutzstück der Antimoderne mit einer katholisch-restaurativen Botschaft“ spricht? Stadelmeier konstatiert lakonisch: „Kein Theaterstück. Eine Gruft aus Reimen.“

Es ist uns selbstverständlich, die griechischen Klassiker zu inszenieren, mittelalterliche Mysterienspiele zu zeigen, Opern von Monteverdi und die Bachschen Passionen aufzuführen – nur würde niemand ernsthaft versuchen, wie Bach und Monteverdi zu komponieren oder ein neues Euripides-Drama zu schreiben.
„Der Jedermann ist das klassischste aller klassischen Gräber für alles Neue, weil er das Ewige in Knittelversen fasst“, meint Stadelmeier. Nun muss man auch das erst mal können, und Hofmannsthal macht es virtuos. Auch Goethe hat im „Faust“ Knittelverse verwendet, die auch damals schon historisch waren. Möglicherweise ist er damit aber „moderner“ umgegangen als sein Kollege im modernen Jahr 1911.
Man mag die psychologische Stimmigkeit vermissen: Wieso sagt dieser zynische Lebemann bereits nach einer Stunde „Ich glaube“ - das glaubt ihm doch kein Mensch. Das ginge allerdings am Anspruch des Stückes vorbei.  In der alten „Moralität“ kam es darauf gar nicht an. Es galt das Exempel, die Lehre, verkörpert in Typen, die sich drastisch als solche vorstellen, ähnlich wie beim Kasperltheater, wo der Räuber selber sagt, was er für ein schlimmer Spitzbube ist. Nun erscheint aber der „Jedermann“ in einer Zeit höchster seelischer Verfeinerung und zartester Nuancen, für die gerade Hofmannsthal ein Beispiel ist. So konnte eigentlich nur ein Missklang herauskommen.

Warum wird der „Jedermann“ dennoch seit 1920 immer wieder gespielt? Ich kannte den Text früher nur ungenau und hatte vage Erinnerungen an eine Aufführung. Zwei Szenen waren mir aber als beeindruckend im Gedächtnis geblieben: der Anruf des Todes mitten ins pralle Leben hinein und dann der groteske  Auftritt des personifizierten Reichtums. Alles andere hatte ich im Grunde vergessen. Das wird nicht zufällig so sein. Dass wir sterben müssen bleibt eine niemals veraltende, ins Herz schneidende Wahrheit. Ebenso sind Reichtum und Armut ein unerschöpfliches Thema. Hofmannsthal hat bestätigt, dass er ausdrücklich auf die wachsende und problematische Bedeutung des Besitzes eingehen wollte; ein Zeitgenosse bemerkte dazu, er dramatisiere Simmels Philosophie des Geldes. Da reicht dann aber die moralische Zeigefinger-Figur des Bösewichts, der seinem armen Schuldner eigenhändig an die Gurgel geht, nicht aus. Am Ende bleibt wohl nur die Schadenfreude, dass dem beneideten Reichen sein Geld nichts nützt, wenn der Tod kommt und die Großen wie die Kleinen ohne Unterschied niedermäht. Das war in den alten Totentanz-Bildern Mahnung und Trost zugleich: König, Bauer, Bettelmann, sie müssen alle dahin.

Der hauptsächliche Grund dafür, dass man das Spiel zwar goutiert, aber die theologischen Einzelheiten mit Glaube, Rechtfertigung, Erlösung und aufgesagtem Glaubensbekenntnis eher verlegen an sich vorbeigehen lässt, scheint mir dieser zu sein: Uns fehlt die für die historischen Mysterienspiele entscheidende Dimension, nämlich der Ausblick in ein Leben nach dem Tod. Für das Bestehen vor dem höchsten Richter hatte man beizeiten zu sorgen und bangte angesichts der Ewigkeit vor der Frage: Gerechtigkeit – oder Gnade? Für Calderón war das Ernst – ist es das für uns noch? Ich kann die Frage nur stellen. Was der einzelne Zuschauer glaubt und nicht glaubt, was er mitnimmt oder in das Stück hineinlegt, ist seine Sache. Vielleicht ist es nur eine Ahnung von der Möglichkeit des „ganz anderen“.

Als Nebeneffekt meiner Jedermann-Überlegungen habe ich übrigens Hofmannsthals „Großes Salzburger Welttheater“ (nach Calderón) wiederentdeckt. Auch hier ist die religiöse Dimension natürlich Ansichtssache, aber mir scheint, der Autor hat dort auf überzeugendere Weise einen traditionellen Stoff adaptiert, hat augenzwinkernde Volkstheater-Laune mit feierlichem Weitblick kombiniert und jede Menge Denk- und Diskussionsanlass geschaffen. Man sollte es mal wieder lesen.

Das Lästern über den „Jedermann“ und seine Aufführungen ist, so hört man, ebenso Tradition wie das Stück selbst. Das Publikum lässt sich dadurch nicht beirren, und so kann man mit dem Kritiker amüsiert feststellen, dass die Republik Österreich nach dem Ende der Kaiserzeit längst wieder das schmerzlich vermisste Herrscherpaar hat: den Jedermann und die Buhlschaft auf dem sommerlichen Salzburger Domplatz.

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