Essay

Sprachräume

Abschiede oder Willkommensgruß
Hamburg

1. Raum

Die Welt redet mit uns und wir reden mit der Welt. Kommunikation, die darunter leidet, daß wir die Welt nicht so verstehen, wie sie es meint, sondern so, wie wir unsere Begriffe setzen. Was bedeutet: in unserem Sinne. Wir meinen erkenntnisgesteuert durch Raum und Zeit zu schiffen, aber stehen mit unseren veralteten Denkweisen mehr denn je auf der Kippe uns zu verabschieden. Das Tempo der von uns angestoßenen Veränderungen suggeriert uns Bewegung, die frei macht, die moderne Welt will das Offene, um sich selbst zu begehen, dabei stehen wir fest in einem Kontext, den wir nicht verlassen können. Und doch verlassen wir ihn täglich mehr und mehr, verabschieden uns nicht nur aus Iglus und Waldhütten, sondern auch von Zwiesprache und Respekt. Die Moderne leidet darunter, daß sie nicht nachhaltig genutzt wird, die Möglichkeiten, die uns eröffnet werden, verkommen in dummen Klischees und bleiben in der plumpen Gegenwart der Menschen stecken. Die Moderne wird mißbraucht um sie zu Geld zu machen. Geld ist ihr Treibstoff, aber der wahre Treibstoff sollte das Eröffnen von Möglichkeiten sein, die wir uns vergegenwärtigen und auf eine andere Weise sinnvoll nutzen, als es im Massengebrauch bislang geschieht. Wir verwandeln unsere Welt in eine digitale Höhle, einen Schlauch aus Bits und Bytes, der davonschießt ins Herz eines Servers und im digitalen Nirwana endet. Das bunte Flimmern an den Wänden ist die Lightshow des Untergangs, ein Computerspiel in 3 D und wir davor mit unseren Brillen.

„Die gewöhnlichen Begriffe müssen neu durchdacht und dem komplexer gewordenen Kenntnisstand von der Wirklichkeit angepaßt werden. Dabei soll der Bewegung des Denkens, den Nebenbedeutungen und Assoziationen im Bewußtsein Beachtung geschenkt werden, da das Gewebe von nur halbbewußten Vorstellungen, das durch Sprache hervorgerufen werden kann, den Sinn dessen, was angesprochen werden soll, eventuell besser wiederzugeben vermag, als ein logisches Schlußverfahren.“ so schrieb es der Physiker Werner Heisenberg - ein Zitat (es begleitet das neue Buch von Martin Jankowski), das die Sorge zeigt, unsere Verfahren seien nicht ausreichend die Welt zu begreifen und die auf Logik basierende Kommunikation mit unserem Außen sei unvollkommen.

Logik ist für uns real. Wir haben sie als Ordnungsprinzip ausgemacht, das wir erfolgreich denken. Sie ist keine Erfindung von uns, sondern eine Findung. Sie bringt Struktur in den Anblick der Welt. Was wir mit ihrer Hilfe ertasten, gibt uns Gewißheit in der Dunkelheit unserer Höhle. Jahrhundertlang haben wir logische Fragen gestellt und logische Antworten bekommen. Mathematik und Logik sind die Grundlage, auf der sich leben läßt. Verläßlich und ausnahmslos gültig. Sie besetzen den Inbegriff des Wahren. Wer sich auf dem Boden der Wahrheit bewegt, geht nicht in die Irre. Die Angst sich zu verlaufen weicht zurück, das sichere Hantieren mit der Wahrheit minimiert die Gefahren -  es ist unsere evolutive Erfahrung, daß stimmige Erkenntnis uns bevorteilt und unsere Zukunft sichert. Die Strenge der binären Codierung, die Schärfe der logischen Begrifflichkeit billigt allem Digitalen und jeder Technik einen Vorschuss zu - wir vertrauen und bauen darauf (und kriegen die Rechnung doch selbst).

Erschöpft sich die Welt aber wirklich in der Art der Fragen, die wir stellen? Wie läuft unsere Kommunikation?

Francisco Varela und Humberto Maturana haben in ihrem Buch „Baum der Erkenntnis“ das biologische Konzept der Autopoiesis ausformuliert, in der die zeichenvermittelnde Interaktion bis hinunter auf molekularer Ebene als Kommunikation gesehen wird, die dafür sorgt, "dass die Struktur des Milieus in den autopoietischen Einheiten Strukturveränderungen nur auslöst, diese also weder determiniert noch instruiert“. Mit anderen Worten: Die Welt (das Milieu) ist da und kümmert sich nicht. Die autopoietische Einheit (der Mensch) ist selbst daran interessiert, die sie umgebende Struktur zu erkunden und sich ihr erfolgreich anzupassen. Es gehört zum Lebensvollzug sich der Welt zu stellen und durch ständigen kommunikativen Abgleich eigene Welt herzustellen. Sich selbst herzustellen.

Varela und Maturana nutzen dieses Konzept der Autopoiesis um „Leben“ bereits auf molekularer Ebene zu definieren. Wie man sieht, lassen sich die Prozesse problemlos auf komplizierter belebte Einheiten übertragen. Kommunikation ist in diesem weiten Sinn der Austausch von Information.

Auch Linguistik-Theorien stellen Kommunikation als den Austausch von Fracht dergestalt dar, daß  diese von einem Zug (=der Sprache) zwischen zwei Städten hin- und herbefördert wird. Die Fracht ist die Information. Man denkt diese Information als semantisches Material. Eine etwas reduzierte Sicht. Denn die Fracht, die weggeschickt wird, besteht nicht nur aus ihrem Satz, sondern sie ist angereichert mit Eigenschaften des Zuges, der sie befördert (er holpert womöglich und stolpert, ist winddurchgeschüttelt), als auch mit Eigenschaften der Städte, zwischen denen sie kursiert. Der Übellaunige sendet anders als der Verliebte. Der Gestresste empfängt anders als der Entspannte. Es lassen sich Milieu und Einheiten, ihre autopoietischen Prozesse und persönlichen Eigenschaften nicht heraustrennen. Es gibt zwar einen rein materiellen Aspekt, eine Zeichen- oder Signalfolge, die für den Kern sorgt, um den die eigentliche Kommunikation kristallisiert, aber sie stellt sich bei jedem Teilnehmer sofort in einem Raum auf, vielmehr: es entwirft sich bei jedem Teilnehmer im Zuge der Wahr-Nehmung sofort ein individueller Raum - selbst wenn es sich um mathematische Formeln handelt. Eine Zeichenfolge wieE= mc² bedeutet einem Physiker, der an „der Bombe“ mitgearbeitet hat, etwas anderes als einem Überlebenden in Hiroshima. Sogar die Beschaffenheit der Sprache spielt eine Rolle. Ein Ruf verhallt in den Schluchten und Klüften von La Gomera, ein Pfiff nicht. Bis zu zehn Kilometer weit trägt der Wind den Satz und die Guanchen sind in der Lage in ihrer Pfeifsprache wirkliche Unterhaltungen zu führen. Während die Kommunikation in der Wortsprache scheitern würde, in der Pfeifsprache gelingt sie – in dem speziellen Milieu des Vulkaninselgebirges bei Kenntnis der Sprache El Silbo.

Sprache muß also auf einer gemeinsamen Ebene ansprechen und für das dortige Milieu geeignet sein. Kommunikation ist nicht nur ein Austausch, sondern auch was der lateinische Wortstamm sagt:  communicare - „teilen, mitteilen, teilnehmen lassen, gemeinsam machen, vereinigen“ (Wikipedia), denn sie funktioniert nur, wenn die Involvierten etwas miteinander teilen. Dieses Etwas ist zunächst nicht die Information, sondern die Sprache. Und sie wird Stufe um Stufe auf der Leiter des Lebendigen komplizierter, weil die autopoietischen Prozesse komplizierter werden. Genügt auf molekularer Ebene das chemische Signal, muß die Sprache eines Astronauten Vorgänge eindeutig checken können, die ein äußerst komplexes Spiel abbilden. Das Milieu des Weltraumfahrenden verlangt eine extrem exakte Sprache, die Raketentriebwerke bauen kann und Computer, die von der Schwerkraft weiß und vom Sauerstoffgehalt in der Luft, um ihn als autopoietische Einheit dort behaupten zu können. Die Reputation der naturwissenschaftlichen Sprachen beruht auf solchen unvergleichlichen Erfolgen – wir sind in einer Höhle zum Mond geflogen und haben diese Höhle selbst gebaut. Wir beherrschen Milieus, in denen sonst nichts Lebendiges sein kann. Weil wir die Milieus soweit richtig lesen können, daß wir ihnen auf geeignete Weise antworten können. Ein Raumschiff enthält die Milieuantworten, die der autopoietische Prozess Mensch geben muß, um zu überleben. Aber es enthält auch den Traum und die Phantasie, den Wunsch und das Begehren. Das Raumschiff, die eigene Höhle im All, ist nicht nur möglich, weil es Antworten gibt, sondern auch weil es Fragen gibt.

Die Tatsache, dass man mit Formelsprachen und wissenschaftlichem Jargon definierte Hintergründe aufstellen kann, täuscht über das natürliche Geschehen der Sprache und verführt zu der Annahme, dass allgemeingültige Exaktheit möglich ist. „Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben“ hat Galileo Galilei euphorisiert. Und er irrt. Bloß weil man einige wenige, ausgesuchte und idealisierbare Weltverhältnisse mathematisch recht gut abbilden und brauchbar definiert kommunizieren kann, sollte das Mittel der Abbildung nicht zur Sprache des Abzubildenden hochstilisiert werden. Es sind numerische Aspekte, Beziehungen auf quantitative Merkmale heruntergebrochen, die in der Mathematik aus der Sicht des Menschen „eine Sprache finden“.

Dass man jemanden auf einem Foto wiedererkennt, selbst wenn man ihn nur schräg von der Seite sieht, macht nicht den Fotoapparat zur „Sprache“ des Fotografierten, mit der er versucht, sich in die Welt zu stellen. Der Weltauftritt eines Menschen ist wesentlich komplexer und ein Abbilden optisch wahrnehmbarer Aspekte auf einem Foto sagt nur bedingt etwas über seine wirkliche Anwesenheit. „Wer in einem blühenden Frauenkörperdas Skelettzu sehen vermag, ist ein Philosoph“ hat Tucholsky gesagt. Münzen wir den Satz um auf Mathematiker und Physiker alter Schule.

Wenn man die Welt rein mathematisch abfotografiert, nutzt man Aspekte, die sicherlich vorhanden und von ungeheurem Nutzen, aber nicht umfassend und erschöpfend sind. Einige Qualitäten (vor allem lebendige) bleiben unberücksichtigt – wohl auch, weil wir bislang keine mathematischen Sprachen dafür haben. Den meisten Fortschritten in der Physik lagen in der Vergangenheit Fortschritte in der Mathematik zugrunde und so ist es bis heute geblieben. Die Theoretiker der Superstrings harren der Neuigkeiten und arbeiten selbst daran mit.

Aber selbst, wenn man die numerischen Methoden und Verfahren stets weiterentwickelt, werden Aspekte in der Realität bleiben, die sich nicht auf diese Weise abbilden lassen, bspw. wenn die Beobachtungen biologische Prozesse aufgreifen. Es ist unangemessen (und wir vermessen uns), wenn wir in der Welt nur quantifizierbare Eigenschaften wahr haben wollen und parallel dazu beharrlich andere, qualitative Merkmale durch Reduktion zum Verschwinden bringen – noch heute unser gängigstes Denkmuster, das sich allmählich auflöst. Mathematische Sprache sagt von der Welt, sie sei reduzierbar auf mathematisch darstellbare Bezüge. Sie ist eine eng begrenzt gültige Fachsprache und arbeitet mit strengen Urteilen, die im Voraus axiomatisch festgelegt wurden.

Solche Vor-Urteile sind von Vorteil. Das Vorgefasste liegt griffbereit und passt auf die Welt schnell und ausreichend genau, um einen Vorsprung zu erwirtschaften. Das Hantieren mit Kategorien und Urteilen, die nicht immer wieder neu erarbeitet werden müssen, hat uns in der Evolution  entscheidende Wettbewerbsvorteile gesichert, erst recht wenn es Bestandteil der Kommunikation war. Das Vor-Urteil, so es die Strukturen des Milieus trifft, erlaubt ein planvolles ontologisches Schichten  entsprechend der autopoietischen Bedürfnisse. Das Wissen um Ding und Gesetz verleiht die Macht, der Zeit voraus zu sein und macht gerade deshalb zum zeitlichen Wesen. Wir entfliehen der Gesamtheit der Gegenwart, um in ihr noch besser zu bestehen. Unser Denken zerreißt den Moment, um ihn beurteilen zu können.

Wie kommt die Poesie in die Welt?

Die Poesie ist ein Schritt hinaus, ein nächster gangbarer Weg - über das normale Denken hinaus. Indem es den autopoietischen Zweck übergeht und unbeherrschte Sprachräume aufsucht. Poesie sollte sich vom Vor-Urteil lösen, also vom bekannten und bereits vorhandenen Urteil, das in uns auftaucht, sobald uns ein Verhalt begegnet oder sich ein Begriff aufdrängt. Das Unbekannte ist dabei nicht unbedingt das Unbenannte. Das poetische Benennen kann Bekanntes frei setzen und wiederbeleben, was tot schien. Poesie ist das Reich des Möglichen und unsere Welt ist eher möglich als durchkalkuliert, also poetisch. Von der Poesie können wir lernen, wie Dinge geschehen. Nicht als a+b=c, sondern als komplexe Geschehensräume, reaktive Sprachräume, unbeschrankte Lebensaufenthalte. Durch die Poesie erfahren wir das Lebendige, geben dem Material den Puls seiner Form. Sie geht nicht vorbei, sondern ist alles, was Vorbeigehen sein kann. Sie bleibt nicht stehen, sondern ist alles, was Stehenbleiben sein kann. Sie ist nicht betroffen, sondern alles was Betroffenheit sein kann.

Poesie ist, wie alle Kunst, eine Lebensäußerung. Ein Spiel mit dem Wahrhaben und Begreifen, das vom Nennen und vom Urteil weg ins Offene und Unbewohnte treibt, soweit es als Konstrukt aus eigenen Verabredungen, inneren und verinnerten Regeln und herbeigeschafften (angelesenen / aus Speichern entlehnten) Materialien dazu fähig ist. Die Zutaten und die individuelle Regie bestimmen den Radius der Spielwelt. Was man unter Poetologie ausstellt, ist im Grunde ein Script, mit dem ein subjektiver Möglichkeitsraum hergestellt wird für das eigene Wetter und den eigenen Film. Das Script kann wie jeder Entwurf entgleisen und zum Selbststreicheln werden, in der Regel ist es aber das Gegenteil, nämlich der Schlüssel für Nicht-Ich-Gebiete, wo Worte, Ideen und Formen plötzlich eigene Lebenshorizonte haben in denen sie agieren und reagieren und der Künstler zum Instrument wird, auf dem sich das spielt.

Der Künstler ist eine Zulassungsstelle. Hier gehen die Speicher eines Ichs über in das Verfahren von Inhalt in einen neu zu bildenden Raum und seinem Verfahren in diesem Raum. Der Prozess ist nicht einfach, er findet als Weg statt. Man weiß nicht, was passiert. Irritationen gibt es genug, Seile, die halten, Emotionen, die leimen, Musik, die hineinspielt und übertönt. 

Das Erstaunliche am Material der Sprache ist dabei, daß es sich nie in einem allgemeingültigen, fertigen Zustand befindet, sondern immer in der Person bedingte Zustände annimmt. Ein Wort hat Farbe und riecht, es wird in hochkomplexen neuronalen Mustern erinnert und fährt mit dem Boot weit raus, es kentert und schwimmt um sein Leben. Man findet es unter Schutt, verstaubt und verletzt, man findet es als Kleinod der Auslage oder vermodert, leise als Ton und laut wie eine Musik und findet es nur in genau demjenigen so, der sich dem Wort gerade aussetzt, ob als Schreibender oder als Leser. Genau deshalb ist es so spannend, dieses Material irgendwohin zu stellen (in ein Gedicht) und zu schauen, wie es dort reagiert.

Der Materialist (der Künstler, der mit dem „Material“ arbeitet und Inhalt verneint) lebt also insgeheim vom Immateriellen (das durchweg ein Geschehen ist und kein statisches Objekt). Er vertraut darauf, daß das Material etwas anrichtet, das mehr ist als materiell. Das ist im Prinzip, was Dada getan hat. Die Zerstörung der Bedeutung dient dem Sprung in eine neue Aufmerksamkeit, hat Dieter Mersch über Schwitters Merzbilder treffend resümiert. Es gilt das Leben des  Materials zu entdecken, das Fundstück kann etwas, es wird zum Zeichen, das zufällt, nicht weil es zufällt, sondern weil es planvoll ästhetisch betrachtet und in einen ästhetischen Kontext überführt wird. Das Material fällt in den Künstler hinein und was in ihm geschieht ist nicht mehr zufällig. Er hat ein Script.

Immer enthält das Script mehr oder weniger klare Anweisungen, verhandelbare Ge- und Verbote, aber auch kuriose Sätze, geheime innere Absprachen, Hasslieben und Verneinungen, Spielabsagen. Je nachdem in welchem Kontext sich der Spieler selbst sieht, worin er sich situiert, mit welchem Einsatz er zu seiner geistigen Einrichtung und zu seiner Kleidung kommt. In der stark vernetzten Gegenwart, in der von allem gewußt wird und Modelle praktischerweise in Klischeeformen gedacht werden, die auf Oberflächen ausmustern, wird Orientierung oft zu einem Zappen und einem raschen Blättern im fremden Script. Ein Blick in die Wohnung des anderen genügt und man weiß wer er ist. Ein Blick auf das Gedicht des anderen und man ahnt das fremde Script. Verweigert es sich zunächst, scheint es interessant und weckt Interesse.

Wir sortieren die Welt (und auch Gedichte) per Vor-Urteil. Die Informationsfluten sind manchmal so hoch, daß ein eigenes Manövrieren nur noch funktioniert, wenn man überfliegt. Es braucht viel Zeit, um sich selbst positionieren zu können in den Enzyklopädien der bislang hochgewachsenen und erprobten Schreibweisen und Verfahrenstechniken und eigentlich hört das Dazulernen nie auf.  Die Entwicklung der Poesie hört nie auf. Keine Generation hatte so viel auf dem Tisch, wie die jetzt aktive. In den seltensten Fällen räumt man den Tisch leer und fängt neu an. Meistens versucht man sich erstmal einen Überblick zu verschaffen, mit was man es zu tun hat. Talent allein reicht längst nicht mehr. Der Akteur braucht Wissen, Mut zur Performance und Erfolgswille. Am besten er studiert und das Studium wird zum Ausweis, mit dem er die Hallen des Betriebs betritt.

„O daß ich unbekannte Sätze hätte,/ seltsame Aussprüche, neue Rede,/ die noch nicht vorgekommen ist,/ frei von Wiederholungen,/  keine überlieferten Sprüche,/  die die Vorfahren gesagt haben.“ stöhnte Chachepereseneb schon 1800 vor Christus.

Das neue Gedicht muß sein. Nicht das Gedicht, das von selbst (im Selbst) entsteht, sondern das Gedicht, das ohne das spezielle Script nie entstehen würde und so bislang noch nicht entstanden ist. Nur das Neue bringt ausreichend frischen Wind, der den eigenen Drachen in die Höhe trägt. Konkurrenz belebt das Geschäft um das neuartige Gedicht und/oder das noch nicht dagewesene Schreiben. Man sucht ein Kostüm, das niemand sonst anhat und noch keiner kennt und steht plötzlich vor dem Zwang zur Behauptung. Man verdriftet vom offenen Sagen zum assertorischen Urteil oder zu Schaurede und Deklamation. Selbst Kosmetik ist bei Gedichten ein Thema – klar, es geht um die Erscheinung und das Vermeiden von schädlichem Schein, es geht um Material und  Optik, um Schnitt, Frisur, Schminke. Es geht darum, mit der Sprache etwas anders zu machen.

Der einfachste Weg, sich zu unterscheiden, führt zunächst über den formalen Aspekt. Wir tun uns heute leichter neue Formen zu behaupten als revolutionär Inhalte oder revolutionäre Inhalte zu bekennen, weil Inhalte und ihr Verstehen in Verruf gekommen und angebliche Wissenspfründe (zu Recht) ungewiß geworden sind. Gedichte, in denen etwas gewußt wird, sind unitäre Transformationen der bourgeoisen Eitelkeit und der Arroganz des sich selbst überschätzenden Menschen, der seine Perspektive nicht mehr als biologische Annäherung wahrnimmt, sondern als Maß. Gedichte, in denen nicht mehr über Gewißheiten gestritten wird, sondern die um einen Sinn herum Sprache versammeln, sind zwar Verdichtungen, aber sie erzeugen eher Panzerungen statt Spielwiesen.

Unsicherheit über die Welt und die Rolle des Menschen in ihr ist gegenwärtig die ehrlichste Antwort, die man literarisch formulieren kann. Das Meiste, was aktuell politisch oder wissenschaftlich gesagt wird, ist eine Hängehilfe für ideologisch verfärbte Großformate und Wunschbilder im Hintergrund, und kein tragfähiges Konzept für eine offene Zukunft. Und auch das Ichige als Zitat erntet in der Poesie (seit den Entgleisungen der 70er ins Private) berechtigtes Mißtrauen, weil es oft genug seltsame Lebensentwürfe und -modelle spiegelt. Obwohl es auch liebt, auch zweifelt, auch hofft, hat das Ich von heute einen anderen  Aggregatzustand, es kann nicht mehr durch die Unendlichkeit fliegen, sondern fließt durch ein Jetzt, das mit schweren Hypotheken belastet ist. Ein labyrinthisches Kanalsystem. Es ist dermaßen komplex, daß man für kleinste Durchquerungen schon Abkürzungen braucht, Sprünge. Dazu Unmengen Label und Ordner, in denen man rechts und links Dateien ablegt und benennt. Modernität verlangt eine Schneise, in der sie sich selber begeht.

Die Szenerie, in der Poesie aktuell stattfinden muß, hat Bühnenbilder von erschreckender Tiefe. Weltbilder sind ineinander geschichtet, durcheinander geflochten, übereinander geworfen. Sie sind chancenreich, aber auch grundübel. Offenherzig, aber auch brutal. Sie sind vielgesichtig und undurchschaubar. Ein süßer Schein lacht vom Wühltisch, darunter sitzt ein Kind ohne Zukunft. Unkulturen haben sich so fest in den Alltag gewebt, daß man ihnen nicht mehr ausweichen kann. Selbst wenn man etwas in bester Absicht nutzt, ein notebook, um einen Essay zu schreiben, klebt auf eine unsichtbare, hinterhältige Weise Blut daran. An allem klebt etwas anderes, als man es denkt, es ist verborgen der Preis der Moderne. Die Begriffswelt, die zu ihr geführt hat, behandelt die Welt und mißhandelt sie als Nutzfracht. Der Glaube an die Macht der Technik und die Stimmigkeit der Naturwissenschaften, an einen steten Fortschritt, der automatisch zu einem vermehrten Wohlstand führt, formuliert noch immer Gebete, die sich als Politik getarnt in den Vordergrund unseres Daseins spielen. Mit gefalteten Händen sitzen die Ichs im Kapitalismus fest, als wäre er eine Kathedrale.

Altes Denken steckt in jedem Stück Plastik, in jeder Socke, in jeder Angelschnur. Die Masse der Menschen ist zu einem unbeweglichen Kollektiv verschwommen, das in die Röhre kuckt. Ein Trauerspiel, das als action daherkommt. „Komm schon! Komm schon!“ bellt der Held  den Anlasser des Flugzeugs an, das ihn hier wegbringen soll (obwohl er noch nie zuvor eine Flugzeug geflogen hat), weil gerade die Welt hinter ihm in ein Meer flüssiger Lava wegbricht. Er wird es schaffen. Das Flugzeug wird anspringen und die Menschheit wird gerettet. Der Preis für diesen Film ist der Untergang der Wirklichkeit und am Ende der wirkliche Untergang.

Die Welt ist überklebt - sie ist übervölkert mit Zitaten und zugepflastert mit Klischees. Der Mensch selbst ist ein Muster, eine Stereotype, ein Klischee – man kann ihn reduzieren auf triviale Eigenschaften (man muß es nicht, aber wir tun es) und beliefert ihn frei Haus. Das Bild, das die Konsum- und die Geldwelt vom Menschen hat, ist entwürdigend. Es zeigt sich in den Klischees, die allgegenwärtig sind und eine Verpackung schreiend rot aussehen lässt mit einem gelben „Päng“  und nicht einfach schlicht. Die Sprache des Kapitalismus äußert sich in den Mustern der medialen Bombardements. Sie sagt: der Mensch will beballert sein, verführt, übers Ohr gehauen, gebauchpinselt und betrogen. Er will die Mogelpackung und die Wichsvorlage. Sein Ich braucht den Konsum und die Grenzenlosigkeit. Er ist über alles andere Leben erhöht und die Begründung der Welt, seine geistige Elite führt ihn sicher in eine Zukunft der Allmacht, weil sie über die richtigen Karten verfügt.

In Wirklichkeit sind diese Karten alt und oftmals erschreckend unvollkommen bis schlichtweg falsch. Wer dennoch behauptet, er wisse Bescheid, gibt damit zu, in seinem eigenen Gefängnis zu leben. Niemand in der Moderne weiß Bescheid. Wir sind angekommen in Westindien. Keiner kennt sich im Außerhalb wirklich aus und wir erzeugen mit genau diesem begrenzten Wissen immer mehr Innerhalb. Es spiegelt eine evolutionsbiologisch verständliche Tendenz im Menschen, sich in seine eigene Tiefe hineinzuentwickeln und völlig autonom von der Umwelt zu werden. Eine Höhle zu finden, in der er sich einrichten kann. Wer die Natur mit eigener Umwelt ersetzt, das Inventar kontrolliert und ein eigenes Klima nutzt, ist weniger anfällig gegen externe Willkür und Unbill. Er behauptet sich leichter.

Das ist der Platz, auf dem die Poesie stattfinden soll. Einerseits überwältigende Fülle und schwierigste Komplexität, durchaus befleckt, andererseits genau deshalb Raum für Offenes und neue Chancen und eine bessere Welt. Je vielfältiger die reaktiven  Flächen, umso mannigfaltiger die Möglichkeiten – Wissen ist in einer unglaublichen Breite und Tiefe möglich. Ein Grunddilemma der Moderne ist das Zehren zwischen ihrer Basis und ihrem Flackern. Damit wir uns immer wieder neu erfinden, nehmen wir das Gewesene als Basis. Wir befinden uns heute in der kritischen Situation, daß diese Basis wegbröckelt. Materiell und ideell. Jede vergangene Zeit konnte ihre Utopien auf dem Boden ihres Wissens und dem Reichtum der Erde aufstellen - unsere Zeit, die herumschwirbelt in der Luft wie ein Feuerwerk, verliert gerade ihren Boden. Er ist ausgezehrt. So ist die Jetztzeit noch ungeheuer reich in ihren Lebensäußerungen, aber bereits arm an Substanzen, um das Feuer weiter zu schüren. Aus dem freien Entschluß zu Kohle und Öl wird ein zukünftiges Muß zur Nutzung regenerativer Energien. Aus der freien Wahl der Feldfrucht wird eine alternativlose Entscheidung pro Biodieselpflanze. Die Möglichkeiten verengen sich wieder, je länger der Mensch die Erde beackert. Der Verbrauch einer Ressource ist auch der Verbrauch möglicher Welt. Das Aussterben des Eisbären nimmt uns das Fell.

Bedeutungen ändern sich, gehen verloren. Neue Zusammenhänge erfordern neue Bedeutung. Es ist wichtig, unsere Begriffswelt auf den Prüfstand zu schicken. Heisenberg hat Recht, wenn er dabei der Logik und der Mathematik als alleiniges Mittel der Weltvergewisserung mißtraut. Sie kennen nicht alle Wirkmomente und Reaktionstiefen. Das gleiche Mißtrauen verdienen auch die als Religion installierten Gesellschaftssysteme. Der Kapitalismus als Wachstumsmaschine hat seine Erfolge gehabt, im Wiederaufbau – er scheitert als Bewahrer. Was Heisenberg sich wünscht, ist im Grunde genommen Poesie. Die Öffnung des Denkens, das neue Hinhören auf Reaktionstiefen schon in der Sprache und der Begrifflichkeit, eine andere Anwesenheit, die anderes behauptet.

 

2. Behauptung

Behauptet wird überall und seit je.  Man kann sich behaupten und etwas behaupten. Das Prinzip ist ohne Unterschied. Wessen eigene Behauptungen schlüssiger und zutreffender sind, schlagkräftiger und überzeugender, der tut sich leichter sich selbst zu behaupten.

Behauptung ist auch nichts Neues in der Kunst. Der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn sagt: „Kunst ist die Behauptung von Form“. Übersetzt: die Behauptung hebt Form in den Rang von Kunst. Der Künstler nimmt Maß und erklärt Nicht-Kunst zur Kunst. Marcel Duchamp erklärt ein Urinoir zum Springbrunnen. Das Behaupten gehört in die Welt als biologisches Folgenreich des Erkennens und ist ein Motor der Evolution. Das in der Bildenden Kunst vorherrschende „Originalitätsgebot“, das man seit langem als maßgebliche Antriebsgröße ausmachen kann, führt in der äußerst komplexen Kunstwelt zu immer stärkerer Spezialisierung und immer weiträumigeren Abseitserkundungen. Dort ist die künstlerische Praxis ein Projekt der konzeptuellen Artikulation von Welt, welche von Laien als Kunst nicht mehr erkannt werden kann, weil ihnen der Kontext des Konzepts und die Kenntnis der Gebiete fehlt. Spezialargumente liegen den Behauptungen zugrunde, die dem Nicht-Fachmann verschlossen bleiben (müssen).

Die Kunstakteure leben und denken in Sonderwelten, deren Zugänge verhängt sind. Dieser Hermetik liegt der Glaube zugrunde, daß der Mensch kunstfähig sei. Daß er neben Kunstfertigkeit (wozu heute auch geistige Erkundungen, gelehrte Umfassungen und kluge Denkoperationen gezählt werden) auch eine Gültigkeit besäße, die ihn heraushöbe aus der übrigen Natur. Kunst hat Bedeutung.

Die Anthropologie sieht in den ersten Künstlern Schamanen, denen die Abbildung eine Beschwörung ist, Teil eines Zaubers, der den Menschen mit Gott verbindet oder sogar ein kleines Stückchen annähert. Im Zentrum steht dabei das Abbild des Externen mit den Mitteln des Internen. Die Verinnerung der Welt wirft sich an das erweiterte Ich der Höhle. Die Natur und das Göttliche sind das Abbildungswerte. Das ändert sich mit zunehmender Verfeinerung der Techniken. Immer mehr Internes geschieht im künstlerischen Prozess und schlägt sich nieder, bis schließlich der Mensch nur noch sich selbst abbildet. Jetzt ist die ganze Welt zur Höhle geworden.

Die Kunst macht das Menschen-Ich zum Teilhaber einer Macht, die Welt erzeugt und verändert. Über Jahrtausende bleibt sie etwas Anbetungswürdiges und bisweilen Übersinnliches, ein sonst unerreichtes Extra, das den Menschen zum Schöpfer neben Gott macht. Das Welterzeugende ist gleichzeitig Weltverwandelndes. Die Kunst sei in der Lage, die Welt zu verändern. Der Schamane Beuys predigt die soziale Plastik, mischt sich überall ein  und behauptet, sein größtes Kunstwerk sei sein eigenes Leben. Das Eigene ist das Göttliche. Der Stellvertreter tritt auf und auf der Stelle. Die Stelle heißt Gott. Ein selbsterfundenes Prinzip. Jesus ist nicht mehr alleine. Aber anders als der Erlöser ist der Behaupter von Kunst für die Gesellschaft nicht wirklichkeitsrelevant – er wird als Möglichkeit geschätzt, als Lebensäußerung eines Modus, den erst die Konzentration und Vertiefung in einem fernen Abseits ermöglichen und nicht das alltägliche Leben, ein Modus, der allerdings nicht verbindlich ist für das eigene Zentrum in der Mitte der Welt. Die Kunstwelt ist zunächst eine Parallelwelt, die nicht zuständig ist für die Geschehen in der realen Gesellschaft.

Im Lyrikbetrieb ist es nicht anders. Auch hier gibt es Kunst, die, weil sie dazu erklärt wurde, Kunst ist, und nicht, weil sie das Kollektiv als solche erkennen würde. Das soll und darf nicht gegen sie sprechen. Wenn Dubuffet die Kultur als „eine tote Sprache“ brandmarkte, „die nichts mehr mit dem gemein hat, was auf der Straße gesprochen wird“, dann nicht, um (mit der Sprache der damaligen Zeit) dem dumpfen Rausch des Pöbels das Wort zu reden, sondern aus romantischer Verkennung der wirklichen Verhältnisse. Er traute der ideengesteuerten Kunst nicht zu, den Mensch als Ganzes anzusprechen und suchte deshalb nach Primitivität und Ursprünglichkeit. Er verneinte damit auch die im technischen Fortschritt angelegte Komplexität, die dem Menschen das Endgültige und Immergültige raubt und zum ständigen Lernen verdammt. Die rasende Moderne hat Konstanz nur in der Ungewißheit und konfrontiert mit dem Spielcharakter der Welt. Während sich der Mensch einen verläßlichen Alltag wünscht, rennt die Zeit in immer neue Zeit und immer schneller. Anker werden wichtig. Positionen eingefroren, um nicht zu verschwimmen in einer ständig wechselnden Umwelt. Die Gesellschaft teilt sich auf: wer davonschwimmt, belebt den Rand und macht Entdeckungen, wer im Zentrum ankert, versucht zu verinnern, was Neues hereintropft und kann es nur zum Teil.  Das Kollektiv ist zerrissen, es gibt wenige offene Teile, die gegenwärtig sein können und große romantische Teile, die Festigkeit wollen und Festigkeit üben. Die im festen Teil verinnerten Behauptungen tragen sich wie ein Pyjama oder ein Totenhemd. Es sind die abgelegten Klamotten der Avantgarde von gestern, zurechtgeschnitten für den Massengebrauch und systemgerecht gefärbt. Das verankerte Wissen des Kollektivs ist als Grundlage für einen Stoff, aus dem die Zukunft gewirkt ist, unbrauchbar. Es läßt sich eine spannende Kunst mit den Formeln des Kollektivs nicht ausrechnen. Die von der Masse assimilierte Kunst wird zur bloßen Fertigkeit, ihre Erzeugung ein Muster. Wer die Casting-Kandidaten reihenweise Gesten und Phrasierungen der etablierten Stars beim Nachsingen aufführen sieht, erlebt wie Kunstvolles zum Zitat und zum allgemeingültigen Muster wird. Der Nachahmer ist der Lieblingsmensch des Systems. Er übernimmt und trägt weiter. Er lebt im Gleichstrom und schaltet durch. In der Popwelt hat deshalb derjenige Erfolg, den man widerstandsfrei durchschalten kann. Und die Geldmenschen in der Popwelt denken, das habe zu tun mit gewissen Merkmalen, die man bloß aufzurufen habe und dann klimpern die Penunzen. Sie produzieren und verbreiten Klischees.

Ideen sind Brennstäbe. Die Kühlwasser des Kunstbetriebs halten sie stabil und schalten Energie durch. Und ähnlich wie in der Popwelt verbreiten sich Klischees. Das funktioniert mit Zuständigkeit. Die im Abseits entstandene Kunst wird weitergetragen von zuständigen Personen. Jurys, Kuratoren und Redaktionen halten Ausschau nach bestimmten Merkmalen und handeln danach. Wir subventionieren diese Intervention, wollen eine nicht massenmarktgesteuerte Kunst. Personen werden installiert, die für uns sieben. Deshalb hat jede Moderne ihre Kennzeichen, ihre Chiffren und Vorlieben, die als Kulturangebot durchgereicht werden an die Gesellschaft und allmählich aufgesaugt. Schließlich gibt es Moden.

Kunstvolles ist zitierfähig, weil es in ihm Muster zu entdecken gibt. Das Script bedingt die Form und  Form kann imitiert werden. Die amerikanische Künstlerin Elaine Sturtevant, die der Appropriation Art Bewegung zugerechnet wird (einer Kunstrichtung, die das Kopieren bereits vorhandener Werke zu einer Metakunst erhebt), hat das Vorhandensein von behaupteter Form zur Ausgangslage für ihre eigene Arbeit gemacht:  der empathischen, detailgetreuen Nachbildung. So hat sie existierende Werke von Warhol, Jasper Johns, Lichtenstein, Duchamp, Beuys, Kiefer, Paul McCarthy, Felix Gonzalez-Torres u.v.a.m. nicht einfach parodiert, sondern nahezu ununterscheidbar nachgemacht oder nachgestellt. Für Sturtevant keine bloße Aneignung fremder Ideen, sondern der Versuch einer konsequenten Nachempfindung des zugrundeliegenden Scripts bis in seine heimlichen und unheimlichen Details. Ihre Erzeugnisse haben einen so hohen Grad an Identität, daß Warhol auf die Frage nach der Technik seiner Siebdrucke geantwortet haben soll: „Ask Elaine!“.

„Ein Bild ist ein Gewebe von Zitaten aus den zahllosen Ecken der Kultur.“ sagt die amerikanische Konzeptkünstlerin Sherrie Levine. Zumindest entsteht es genau auf diesem Gewebe. Selbst wenn die Gänsefüßchen fehlen, sind Zitate allgegenwärtig. Sie führen im Hintergrund dazu, Sätze anders zu sagen, Bilder anders zu malen. Und zwar genau anders. Die Kenntnis des Zitats ermöglicht das Unterscheiden und Ausscheiden. Die Welt ist heute so voll von bereits gehabter Kunst und schon erkundeter Gangart, daß Originalität längst auch die Art und Weise beinhaltet (beinhalten muß), wie Zitate in die eigene künstlerische Arbeit einfließen und welchen Einfluß das Vorhandensein einer jahrhundertelangen kulturellen Produktion unterschiedlichster Spielart für das Positionieren des Eigenen hat. Wie geht man damit um, daß es das Meiste schon gab? Muß man alles neu und immer wieder erfinden? Was tun mit stimmigen Ansätzen und geglückten Versuchen, die schon hinter uns liegen? Leugnen? Verstecken? Fälschen? Oder materialisieren und zitieren?

Robert Ryman verdingte sich 1953 für mehrere Monate als Wachmann am Museum of Modern Art – er brauchte das Geld und wollte gleichzeitig die Kunst studieren. Er fand in dieser Zeit zu seiner eigenen Kunst: weiße Leinwände, die er wortkarg in die Welt entließ mit dem Kommentar: „The basic problem is, what to do with the paint.“

Michalis Pichler von der Ateliergemeinschaft Milchhof hat in seinen bemerkenswerten „Statements zur Appropriation“ notiert: „Bestimmte Bilder, Objekte, Töne, Texte oder Gedanken würden im Bereich dessen liegen, was Appropriation ist, wenn sie irgendwie ausdrücklicher wären, manchmal strategisch, manchmal schwelgend im Ausleihen, Klauen, Aneignen, Erben, Assimilieren . . . Beeinflusst-, Inspiriert-, Abhängig-, Gejagt-, Besessen-Sein, Zitieren, Umschreiben, Überarbeiten, Umgestalten . . . Revision, Reevaluation, Variation, Version, Interpretation, Imitation, Annäherung, Improvisation, Supplement, Zuwachs, Prequel . . . Pastiche, Paraphrase, Parodie, Piraterie, Fälschung, Hommage, Mimikry, Travestie, Shan-Zhai, Echo, Allusion, Intertextualität und Karaoke.“ Das ist nichts anderes als ein Script zu einem künstlerischen Umgang mit dem Zitat und zeigt die die Schwierigkeit: alles ist möglich und man braucht eine Strategie. Der strategische Umgang mit Material entscheidet über seine Gültigkeit als Kunst. Material kann alles sein. Fremde Scripts werden so zu Zeichen, die man nutzen kann. Das Zitat eröffnet die Möglichkeit zur Collage.

Ganz aktuell zeigt das Museum für neue Kunst in Karlsruhe die Ausstellung „Hirschfaktor – Die Kunst des Zitierens“, die hinterfragt, ob und wie Ikonen der Moderne und ihre stilprägenden Werke in der aktuellen Kunstwelt als Zitat aufscheinen. Die grundsätzliche Frage die Kurator und Museumsleiter Andreas Beitin dabei stellt, ist die: „Gibt es in der Bilderflut der Moderne überhaupt noch einen Anspruch auf Originalität?“. Die Antwort ist Ja. Aber die Stufen, von denen aus man diesen Schritt noch gehen kann, liegen sehr hoch. „In der heutigen Zeit ist es schwierig, wirklich noch etwas Innovatives zu leisten. Deshalb suchen die Künstler die Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt.“ sagt Beitin. Diese Um-Welt ist gestaltet. Sie ist bereits geformt. Es gehört nicht nur zu einer neuen Ehrlichkeit, sich zu Zitaten offen zu bekennen, sondern es ist ein weiterer Schritt in die Unabhängigkeit vom Externen, wenn man das Menschheitsinterne als Material zu einer neuen Kunst benutzt. Die Aneignung des Eigenen, des kulturell Erzeugten, als Spiel mit der Welt. Die Grenze verwischt: Welt ist nicht mehr getrennt vom Mensch, sondern der Mensch ist mit allem was er ist und erzeugt selber Welt. Er be-schreibt die Welt mit sich. So wird sie zu einem Text, der nur noch ihn enthält und den man in die Kunst einliest.

„Es ist ebensoviel unvorhersehbare Originalität im Zitieren, Erfinden, Transponieren und Widerhallen, wie im Erfinden.“ sagt Michalis Pichler. Er denkt dabei eine Bewußtheit in den Umgang mit dem Zitat, die es in der Kunst zwar geben mag, die man aber im Getümmel der Alltagswelt vergeblich sucht. Dort ist das allgegenwärtige Zitat zur Mimikry geworden, die eine eigene Schwäche verdecken soll: daß man eigentlich keine eigene Sprache hat und sein Leben in adaptierten Plots ausagiert. In der Kunst ist das Zitat zum Material geworden, das man nutzt, wie man Ocker oder Karmesin aufträgt. In neuen Zusammenhängen entwickelt es eine neue Sensation, das „thaumaton des Da“, wie es Dieter Mersch genannt hat, die Verwunderung über die Singularität eines künstlerischen Moments. Das Vor-Bild wird nicht bloß imitiert, sondern sein Besonderes materialisiert und Teil einer neuen Collage.

Anders die Imitation: der theatralische Vollzug des Nachahmens verlangt Beschränkung in der Sache und Gehorsam gegen das Schema und damit in erster Linie wirkliche (das kann auch intuitive sein) Kenntnis von Sache und Schema. Die Imitation nimmt das Greifbare und versucht seine Griffigkeit auf ein Neues zu übertragen. Das ist beim Gebrauch liebgewonnener überlieferter Muster so (wie im Skeuomorphismus), als auch beim Ausleuchten des Aufleuchtens eines Sterns am Kunsthimmel. Die geistige Simulation sorgt für Einsichten in Ichstrukturen, ohne deren Kenntnis eine Geste nicht authentisch sondern mechanisch wirken würde.

Der Poetologe im Poeten erkennt hier viele Prozesse, denen er sich selbst nie ganz verschließen kann. Ingeborg Bachmann bekennt in einem Gespräch mit Josef-Hermann Sauter im Jahr 1965, es „langweilen mich Gedichte meistens, ich lese fast keine mehr, hier und da erinnre ich mich an eine früh gehörte Zeile, an einen Ausdruck, und wenn mir etwas sehr gefällt, wenn ich meine, es müsse gerettet werden, dann verwende oder variiere ich einen Ausdruck, gebe ihm einen neuen Stellenwert. Das ist also, wenn Sie so wollen, ein Verhältnis zur Vergangenheit, ein Arbeitsverhältnis, das zum Beispiel in der Musik seit jeher vorkommt.“ (Michael Gratz grub dieses Zitat unlängst in der lyrikzeitung aus). 

In der Poesie gibt es weitaus mehr Muster, die zitiert oder vermieden werden, als man denkt. Es gibt Imitation und Nachahmung. Dabei kann man auch abstrakte Denkattitüden nachahmen und Denkmoden genügen. Man kann ein Ich verweigern, das im Text etwas Privates anrichtet, man kann Worte vermeiden, die nach etwas schmecken, man kann Verweigerung verweigern. Groucho Marx hat einmal gesagt:  the key to success in business is honesty and fair dealing. If you can fake that, you’ve got it made. Fake ist ein Thema überall in der Welt, auch in der Kunst. Wer ein feines Gespür für das Angesagte hat, kann selbst zum Ansager werden. Er muß nur die entsprechenden Muster zeigen. Also immer dran bleiben, vorne mitschwimmen, die Antwort auf die Frage vorneweg denken: what is the key to success in poetry nowadays? In einer Poesie, die sich formal orientiert und den Inhalt ignoriert, ist der Kuckuck willkommen.

Zu negativ gedacht? Zu pessimistisch? Richard Kämmerling erörtert in Ernst-Wilhelm Händlers Roman „Wenn wir sterben“ (2002) die Übernahme der Gegenwartsliteratur durch den Kapitalismus: „Es geht nicht nur darum, dass der Kapitalismus die Menschen zerstört, nein, viel finsterer: Die Individualität ist konvertierbare Münze geworden, simulierbar und imitierbar. Was sich besonders dünkt, ist nur Ausdruck eines Allgemeinen.“ Das Vorhandensein von Individualität bestimmt einen Wert, mit dem man Kasse macht. Je spektakulärer das Individuum aufschlägt, desto gewinnträchtiger das Paket. Der Wunsch nach Originalität verführt zur Übertreibung und zur Imitation und erzeugt Ichs, die in Blasen leben. Wirkliche Authentizität wird, sobald sie überzeugend auftritt, sofort vom Markt und der Masse assimiliert. „der markt kann sich alles anverwandeln“, sagt Händler, „weil er alles ausdrücken kann.“ Wie eine Orange. Er handelt mit Orangengeschmack und kann einen Furz vergolden.

Die Lyrik hat einen kleinen, sehr durchwachsenen Markt mit vielen Untergenres - und einen eigenen Betrieb. Geld gibt es auch – in Form von Literaturpreisen, Stipendien, Dozentenlohn und Juryentgelt. Und zwar mehr als jemals zuvor. Mußte früher der Buchverkauf das Einkommen sichern, sind es heute Gelder aus Töpfen. Weil niemand kauft, was geschrieben wird. Es gibt kulturelle Förderungen für Buchprojekte (was leider dazu führt, daß Titel, zu denen Gelder in Aussicht stehen, von den in ihrer Existenz bedrohten Verlagen lieber publiziert werden, als spannendere Konkurrenzmanuskripte) und naives Selbstengagement (bis zur Selbstausbeutung). Es gibt Plattformen, Inseln, auf denen sich leben lässt, und Netzwerke, mit denen sich leben lässt. Es gibt Personen, die als wichtig gelten und die hofiert werden (müssen). Schrankensteher, denen man Zoll in Form von Demut zahlt. Die Lyrik ist also nicht gefeit gegen menschliche Schwäche und bitterem Pragmatismus. Sie ist kein letzter Rest idealer Gesellschaft, sondern ein Betrieb, der sich am Rande abspielt (und auch viele positive Seiten hat; mehr, als die hier anklingenden negativen es vermuten lassen), in einem gewissen Sinn gettoisiert. Als Sammelbecken der poetischen Beantwortung der Welt ist sie Metaraum und weitläufigen Zuströmen ausgesetzt und enthält selber Strömungen. Hier findet die künstlerische Sozialisation, die kulturelle Positionsbestimmung statt. Neues verteilt sich schnell, es gibt Ansagen und Warteschleifen. Etwas wird aufgerufen und passiert. Und obliegt dann jener schnelllebigen Verdauung, wie sie der Gegenwart eigen ist.

Weil sich alles Neue nach und nach gleich anfühlt, ist es irgendwann nicht mehr von Belang. Das Muster wird zum Allgemeingut und langweilig. Man sucht nach wieder Neuem, noch nicht Dagewesenem und spekuliert mit der Form. Eigentlich ist es die Suche nach einer unverbrauchten Perspektive, aus der man Dinge anschauen kann. Aber man schnitzt an der Form, weil die sich schneller und von Mustern sicher geleitet verändern lässt. Das Script als Fräse ist bei vielen zeitgenössischen Lyrikern eine Maschine, die zwar Form erzeugt, aber wenig Inhalt.

Ist der Künstler überhaupt zuständig für Inhalt? Kann es Form geben ohne Inhalt? Ist Inhalt ein Verhalt der Form, sobald sie angeschaut/berührt/belebt wird, oder verhält sich Form gar nicht?

Form generiert „So-Sein und nicht anders“ – deshalb spricht sie Ge- und Verbote aus, „be-deutet“ was geht und nicht geht. Bedeutung entsteht, sobald Form in der Welt auftritt. Wenn sie auf ein zweites trifft. Ein Ding allein ist ohne Zeit und ohne Bedeutung. Im Zusammenspiel erst zeigt sich Form als Grund für eine mögliche Regel und erlangt Bedeutung. Das ist ganz elementar und auf alle Stufen der Weltprozesse übertragbar. Es braucht immer das Zweite, das Weitere. Form allein verliert sich im Nichts. Obwohl sie das Nichts braucht, um sich zu zeigen, erlangt sie ihre Bedeutung erst durch die Anwesenheit eines Zweiten. Das Wort „Anwesenheit“ sagt es sehr tief: es hat mit der Berührung des Wesens eines Anderen zu tun. Wie diese Berührung ausfällt wiederum, hat genauso mit dem Wesen des Berührenden zu tun, wie mit dem Wesen des Berührten. Daß wir verschiedene Wellenlängen des Lichts als „Farben“ lesen, hat eine Bedeutung, die nicht nur im Licht angelegt ist, sondern sich evolutiv über Jahrmillionen aus den reaktiven Flächen der Welt aufgestapelt hat bis hin zum „Raum des Auges“ des Menschen  (unsere Art zu sehen, hört nicht auf beim Auge – es gehört ein Teil des Gehirns dazu und am Ende die Gesamtheit „Mensch“). Also entscheidet nicht alleine die Form von etwas über das Entstehen von Bedeutung, auch das Wesen des Zweiten, desjenigen Dings, das dieser Form begegnet. Seit der Quantenphysik wissen wir es naturwissenschaftlich offiziell: daß wir nichts berühren können, ohne es zu beeinflussen. Jede Berührung kreiert Bedeutung und diese Bedeutung entsteht nicht allein aus dem So-Sein des Dings, sondern auch aus dem So-Sein des Anwesenden (oder seines Signals). „Die Dinge selbst beginnen im Lichte des Sinns zu posieren, sobald sie den Blick eines Subjekts auf sich spüren“, sagt Jean Baudrillard.

Dort setzt die Poesie an. Sie bringt Worte zueinander und kombiniert Räume mit anderen Räumen, So-Sein mit So-Sein, Anschein mit Aufschein, macht damit transparent oder dunkel, eng oder weit, bunt oder uni. Wenn das Gedicht ein Raum ist, dann hat es auch Inhalt. Besser umgekehrt gesagt: wenn Worte beieinander innehalten und zum Gedicht werden, dann ist Raum die bedingte Folge. Wie jedes emergente Phänomen erzeugt es eine eigene Dimensionalität, die direkt von der Form seiner Bestandteile, aber eben nicht allein von ihr abhängt. Seine Bedeutung erhält es, sobald es gelesen wird.

Und natürlich: es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen, welche Art von Gedicht er in die Welt stellt und welche Räume er damit ermöglicht. Das Verantworten hat tatsächlich mit dem Substantiv Antwort zu tun. Es zeigt die Art und Weise, wie der Mensch die Welt liest und welche Antworten er zu geben und zu leben bereit ist. Es beinhaltet neben den Worten, Versen, Strophen auch den Dichter und sein Script.

Die Verantwortung findet unweigerlich statt. Mit teils enttäuschenden und teils faszinierenden Ergebnissen. Auf vielerlei Ebenen findet die moderne Lyrik zu Gedichten, die anders frisch und neu sind, als die Gedichte, die noch vor einer Generation als frisch und neu galten. Ein Wandel geschieht. „Traditionsbruch vollzieht sich auf dem Boden der Tradition“ führt Hans Heinz Holz an und erinnert  an eine Rede, die der englische Rokoko-Maler Sir Joshua Reynolds vor Kunstschülern hielt: „Je umfassender daher Ihre Kenntnisse hervorragender Werke ist, desto mächtiger wird ihre Erfindungsgabe und – so paradox dies auch klingt – desto originaler werden Ihre Entwürfe sein.“

Der Wandel in der Kunst ist allenthalben spürbar.  Die Wissensspeicher sind voll und die Kontakte zur Aktualität sekundenschnell. Form ist überall und neue Form geschieht alltäglich. Die Bemusterung der Welt ist ein Lebensakt, der immer rascher verläuft und auf allen Ebenen für Inspiration und veränderte Kalkulation sorgt. Auch derstate of art fließt und erlebt sich fließend. Die fast gleichnamige Ausstellung moderner Fotografie, die derzeit in Düsseldorf läuft, zeigt beispielhaft, zu welcher anderen Qualität künstlerischer Arbeit das poetisch Mögliche einer vernetzten Welt führen kann. „Ästhetik, Inszenierung verändern sich. Migration und Globalisierung sind neue Themen. Die Neuen Fotografen haben einen anderen Blickwinkel auf die Geschichte der Fotografie. Sie haben neue Heroen – aus der Geschichte und aus anderen Disziplinen. Sie haben keine Scheu mehr vor dem Auratischen und Sublimen. Und sie sind offen für neue Präsentationsformen, für Installationen, für eine Durchmischung der Medien und Materialien. Die Fotografie, so scheint es, ist endgültig in der freien Kunst angekommen.“ (nrw-forum zur ausstellung state of the art photography).

Tatsächlich gibt es erstaunlich kunstfertige, bislang nicht gekannte Ansätze und Verwirklichungen – da werden Ausschnitte von google-maps zu großformatigen Landschaftsbildern collagiert (und sehen aus wie Gemälde der Pop-Art), da werden Körper digital verfremdet zu verformten Monstrositäten mit erstaunlichen ästhetischen Qualitäten, Bilder werden bis ins Exakteste inszeniert oder ihr Zu-Fall zum Kunstfall definiert, immer auf eine Weise, die sichtlich in einer Tradition steht, aber trotzdem neu ist, indem sie nicht nur die technischen und formalen Möglichkeiten der Zeit aufnimmt, sondern auch ihre Inhalte. Das Portefeuille des Tuns reicht vom Konzeptuellen bis ins Malerische und wird sehr bewußt genutzt.

„Es ist nichts außer uns, was nicht zugleich in uns wäre“, hat Goethe formuliert. Aus dem, wie wir heute das neue Gedicht schreiben, wird uns (meist zeitversetzt, später) bewußt, was dabei in uns vorging. Das Script ist nicht nur ein Sammelsurium  von Anweisungen, sondern ein Erkenntnisspeicher und repräsentiert den Bewußtseinszustand (welches Bewußtsein zur Verfügung stand). Reservate werden dabei genauso offenbar wie Zuständigkeiten. Maxim Biller hat von der Gegenwartsliteratur gefordert, sie müsse wieder blutiger Ernst werden und über Schreibkollegen geurteilt, ihre Bücher seien von Papierleichen bevölkert, „die nichts wollen, nichts hassen, nichts lieben, die nicht fallen können, nicht schreien, nicht töten.“  Biller wünscht sich für die Prosa, was in der Lyrik unter Betroffenheit fällt (und sorgsamst vermieden wird) und sagt dazu Realismus - was für Romane und Erzählungen durchaus funktioniert. Die Lyrik rechnet das schon lange weg. Es gibt keinen Aufschrei, es gibt kein Gefühl, keine Leidenschaft, es gibt kein Ringen. Der Lyriker funktioniert ganz nach Script und Vorschrift, in den Formen, die er sich gibt. Er hat leidenschaftslos zu sein, was sein Leben betrifft, verbohrt in die Poetologie seiner Sprache. Maxim Biller spricht eine ähnliche Problematik in seinem „Stadtplan von Kiel“ (1991) an: „Noch nie gab es eine Schriftstellergeneration, die ein derart ereignis- und konfliktloses Dasein geführt hätte wie die unsere. Noch nie waren die Probleme eines Jahrgangs so belanglos und entrückt von allem wahrhaft Existenziellen. Uns bewegen doch höchstens mal ein paar Liebesprobleme oder eine völlig abstruse, abstrakte Angst. Aus diesem Stoff lassen sich keine Epochenromane und Gesellschaftsepen basteln.“

Diese Analyse aus den 90er stimmt so nicht mehr. Abgesehen davon, daß für Lyriker andere Dimensionen gelten (und selbst Prosaleute sich zwangsläufig zurückziehen müssen, zurückgezogen sein müssen, um zu schreiben): es gibt Stoff, aber er ist oft eine Wand. Die Komplexität und Komplizität, die Undurchsichtigkeit der Weltkontexte machen die Sache nicht einfacher. Und die grundversorgte Gettoisierung der Akteure sorgt für Exklusivität und Banalität gleichzeitig. Es gibt eine andere Gegenwärtigkeit, die unsicher sein muß, um sicher zu gehen.  Der Lyriker hat, anders als der Romancier, mit Unschärfe auf kleinstem Raum zu tun, er ist auch Quantenphysiker. Er bedient sein aufwendiges Instrumentarium, um ein Proton zu zertrümmern oder ein Neutron zu erzeugen. Die großen Sachen gehen ihn nichts an. Als Spezialist nutzt er Spezialwerkzeuge. Richard Kämmerlings „kurzes Glück der Gegenwart“, das für die Prosa gilt, verkürzt sich noch mehr in der Lyrik – dort ist es der Moment. Auch das Formen des Moments. Man kümmert sich um Geschehen, das für andere oft nicht einsichtig ist. Es ist wirklich eine Welt, die nicht Welt oder eben noch nicht Welt ist, sondern gerade erst entsteht. Man möchte fast von einem Aufstehen sprechen, dem der Lyriker als Betrachter beiwohnt. Die Frage bleibt: was steht da auf? Ist es ein belangloses Flimmern aus beliebigen Zusammenhängen, ein Spiel, das sprachliche Geschehnisse erzeugt und vor deren „Wirklichkeit“ dann staunend der Dichter als sein Erzeuger steht, oder ist es ein wie auch immer  sinngebundenes Konzert der inneren Band. Mit Sinn, der sich in das Spiel der Musiker bindet, die unser Ich bevölkern, Jazz, der sich im Zusammenspiel findet (wenn man Zusammenspiel zuläßt und die Musiker nicht als bloße Ausführende vom Blatt mißbraucht).

Sebastian Kiefer führt in seinem wunderbaren Buch „Die Moderne und ihre Simulation. Eine Gegengeschichte der deutschen Poesie.“ aus, die Literatur sei noch nicht in der Moderne angekommen, sondern drehe sich mit neuen Sätzen im alten Kreis. Sie illustriere die Moderne nur, simuliere sie, statt sie zu verkörpern. Kiefer vermisst die Form, die zum Inhalt wird und sieht in der Gegenwartsliteratur ein „feuilletonistisches Abfeiern der Bezeichnungskrisen und Weltentzauberungen und Ich-Zerfälle und Legitimationserosionen, um im selben Augenblick das traditionelle prosodische und rhetorische Bezeichnungsempfinden zu immunisieren gegen dieselben.“  Wir sagen das Neue im alten Format. Er fordert ein neues Sagen, das der Moderne angemessen ist.

Soweit d'accord. Seine Analyse deckt sich mit der in diesem Essay vorher behaupteten Allgegenwart des Zitats und dem körperlosen Unwesen der Imitation, „weil das Reproduzieren, Variieren, Klischieren schon je die Stelle der Modernisierung vertrat.“ Es ist gut möglich, daß diese Mechanismen eine grundliegende Eigenschaft der Moderne anzeigen, sich selbst zu illustrieren, daß das ursprüngliche authentische "Ist" notwendigerweise von einem breitenwirksamen „als wie“ begleitet wird. Was einmal ist, ist beim nächsten Mal schon als wie.

Kiefer behauptet: die gewöhnliche Nutzung der Sprache generiere automatisch herkömmliche Literatur, auch wenn sie moderne Inhalte transportiere. Man müsse das „alltägliche Bezeichnungsempfinden“ übersteigen, um in einer neuen Literatursprache zu sprechen, die der Moderne entspricht. Im Übersteigen ist bildlich ein Akt angelegt, der sehr gut trifft: die prinzipielle Offenheit des Jetzt (es ist der Startpunkt der Moderne) erzeugt Tiefe und das Gestapelte der Vergangenheit stellt Hürden davor auf, die man übersteigen muß. Nur daß man vom Aussehen der Tiefe nichts weiß, solange man nicht in ihr unterwegs ist. Kiefer sagt: Es fehlt Substanz. Wir plappern über die Moderne und leben sie nicht.

Und wir leben sie doch. Aber auf seltsame Weise. Es gehört zum Wesen der Zeit, so zu tun als schreite sie voran. Als gelte es etwas zu übersteigen, Sekunde um Sekunde. Modern ist demnach, was gerade „in“ ist, was in diesem Moment drin zu sein drin ist. Schon der nächste Moment kann anderes enthalten. Die Moderne füllt den Moment immer neu, sorgt für das Ändern der Muster zu etwas anderem hin. Form, neue Form, wieder neue Form (aber immer dasselbe Prinzip: „Kleid“). Der moderne Mensch hält nicht fest, sondern ist offen dem gegenüber, was gerade passiert. Er kommt nie an. Der Weg ist nie verstellt, weil die Zeit immer weiter läuft. Deshalb kann die Moderne aber auch nie ankommen, will es auch nicht. Ankommen heißt für sie Stehenbleiben. Sie übersteigt nicht nur, sondern sie stolpert drüber weg. Ihr inhärant ist das Unvermögen verläßlich in der Gegenwart zu sein. Komplexität ist ihr Feind. Ignoranz gehört zu ihrem Tagesgeschäft.

Das Zeitkonzept, wie es der moderne Mensch denkt, etikettiert Gegenwart gerne mit Stillstand. Der Begriff Gegenwart ist zudem durch esoterische Belagerung zur ariden Zone ausgetrocknet, in der nichts „Wirkliches“ passiert, sondern nur seelische Momente herumtropfen. Verbreitet ist die Denke das Spannende, das Lebenszugewandte passiere nicht dort, wo man wohnt, sondern wo man aufsteht und geht und Neues erlebt. Es muß Zukunft geben und die Zukunft gehört der Moderne. Das ist allein schon physikalisch nicht richtig. Alles was geschieht, geschieht in der Gegenwart. Und gerade sie ist der Einstieg in das „Steigerungsspiel der Moderne“ (wie es Gerhard Schulze beschrieben hat), das auch nur eines von vielen möglichen Spielen ist. Gegenwart ist auch offen, aber nicht modern. Sie ist nachhaltig. Sie wartet auf das Gegenüber, auf den Nachhall, sie will die Antwort und nicht übergangslos die nächste Frage. Wenn es tatsächlich eine Literatur gibt, die wir brauchen, dann ist es eine Literatur, die gegenwärtig ist und nicht „modern“. Dabei spielt es keine Rolle wie sie formal beschaffen ist. Wer dem Moment sein Aussehen diktieren will, diktiert auch dessen Inhalt, er beklebt ihn und fälscht ihn, macht ihn modern oder unmodern, obwohl er substanziell etwas anderes ist. Wir sollten aufhören mit der als „avantgardistisch“ fehlinterpretierten Jagd nach neuer Form, sie endet genauso in neurologischen Fakten wie alle Form bisher. Unser Gehirn wird sich in den relevanten Zeitspannen dem Wesen nach nicht ändern und Sprachprozesse werden sich auf absehbare Zeit (wohl für Jahrtausende) neurologisch auf immer gleiche Weise anzünden. Wir sollten Ausschau halten nach neuer Gegenwart. Das ist womöglich viel „avantgardistischer“ und ändert wirklich etwas.

Sebastian Kiefer sieht in der Literatur ein träges Ungetüm, das sich der Evolution der Kunst verweigert und lediglich „die Revolutionen der modernen Erfahrungswelten mit den Mitteln der Vormoderne illustrieren will“. Sie stellt die Moderne nicht körperlich dar, sondern malt sie uns hin. Was sich Kiefer erhofft ist ein Sagen jenseits des Ichs, ein Sagen, das nur Sprache will. Es ist – das hört sich seltsam „unmodern“ an, trifft aber die Sache - das alte Ideal des ichlosen Dichters, der vollkommen in seiner Kunst, dem künstlichen Erzeugen, aufgeht und hinter dem Kunstwerk verschwindet. Insofern kein neues Begehren, sondern eine eher traditionelle, romantische Vorstellung. Der aufscheinende Text soll Sprache enthalten, die nicht von der Moderne redet, sondern sie darstellt. Die in der Sprache stets beigepackte Ichhaftigkeit soll ausgeschaltet sein und der Text als Kunstwerk die absolute Hoheit haben.

Die Illustration mithilfe der Sprache ist ein Erzählen, statt mit Strichen und Farben, Flächen und Formen ausgeführt mit Worten. Das Narrative gehört in das Wesen der Sprache, schon weil sie ihrem Wesen nach Bezug nimmt, bezeichnet, Verhältnisse und Verhalten aufzählt und bereits das einzelne Wort erzählt.  Es ist biologisch nicht zu haben ohne Geschichte, es kann im Menschen nicht sein, ohne „dort hingekommen“ zu sein. Es muß sich zweimal gebildet haben, einmal in der Kulturgeschichte und einmal in der persönlichen Geschichte und erfüllt dann einen Raum, den es – modern oder nicht modern – nur in der Person gibt, die das Wort soeben gelernt hat. Wenn ich „blau“ anhand des Himmels lerne, werden die neurologischen Schaltungen von anderer Farbe sein, als beim Blau der Rassel. Die Verknüpfungen werden wachsen und mit der Zeit ergänzt werden um neue Erfahrungen. Sprache gibt es nur als organisches Metagewebe im Sprechenden und kann von dort aus allenfalls Bezug nehmen, also eine Erzählung starten, wie sie zum Gegenstand kommt. Sie ist nicht der Gegenstand. Sie kann auch als angerichtetes Muster nur begrenzt etwas verkörperlichen, weil ihre Konsistenz Automaten im Gehirn anschaltet, die eigene Arbeit tun. Am ehesten noch könnten Lautgemälde Kiefers Forderung nach einem veränderten Bezeichnungsempfinden, das der Bildhauerei ähnelt, erfüllen. Die Sprache, wie sie sich natürlich im Menschen anlegt, kann das Verkörperlichen nicht leisten, weil sie sich im Menschen nicht als materiell identifizierbarer Körper ablegt, den man bei Bedarf hervorholt, sondern als kompliziert durchgeschalteter elektrischer Raum. Wenn wir unsere Sprache benutzen, erzeugen wir in uns eher ein Feuer, eine Explosion, ein Happening, als ein Stück Text, das definierte Zustände kennt. Die vielen Ichs in uns singen dazu ein Lied. Wenn man also „Text“ will, muß man ein strenges Regiment führen und eindeutig das Oberkommando haben. Eine klare Linie, einen bewußten Schnitt, mathematisches Kalkül. Man muß eine Sprache sprechen, die es auf natürliche Weise nicht gibt. Also künstliche Sprache?

Ob das ein Fortschritt wäre? Sprache regulieren und beherrschen? Soll definieren und Ist-Zustände kontrollieren? Klarheit verordnen, Rezepte ausschreiben, Pläne durchpausen, Material bereitstellen. Worte ins Korsett, Bedeutung ins Bett. Gehört das zum nötigen Handwerk: Strenge, Einfrieren, Stillgestanden? Oder wollen wir lieber ein Sprechen, das seine natürlichen Möglichkeiten ausschöpft, in ihnen gern und frei ist, was es ist. Also eine Gegenwärtigkeit, die Schranken rausnimmt, Definitionen aufbricht, Verbote überholt und Spiel zuläßt. Was ist die wirkliche Moderne – das krampfhafte Verdeutlichen-Wollen des Zerfalls des Tradierten oder das Aufschließen neuer Momente? Müssen wir, um modern zu sein, die Definitionshoheit haben und sie verteidigen, oder genügen Toleranz und Respekt im Offen-Sein für Neues?

Für Sebastian Kiefer bedeutet die Modernisierung der Literatur „zuallererst ein Springquell der Gestaltungslust …, ein Jungbrunnen der Magie“ - er denkt das eigentlich der Gegenwart Eigentümliche der Moderne zu. Eine Lesart, die sich womöglich nur im Begriff unterscheidet.

Wenn es heute eine Literaturgattung gibt, die Kiefers Ideal der Verkörperung nahekommt oder bereits umsetzt (zu diesem Schluß kommt auch er selbst), ist es die Lyrik. Sehr viele Akteure sind heute weiter als der Betrieb. Glaubt man einigen Statements bspw. in der lyrikzeitung geht es einfach darum ein gutes Gedicht zu schreiben und um nichts weiter. Wie das auch immer aussieht, auf welche Weise es interessant und spannend ist, das spielt zwar eine Rolle, aber es spielt eben nur eine Rolle. Das aufwendige theoretische Untermauern ist ein fast schon unzeitgemäßes Bemühen um ein Stützgerüst für die eigene Behauptung. Niemand will noch Mauern. Es geht um das Gedicht, das so oder so ausfallen, so oder so ge- oder mißfallen kann. Die verwirklichte Gebärde des Gedichtes wird mitgelesen, so oder so, und ein poetologischer Rettungsversuch scheitert ohnehin am nackten Fakt des Gesagten. Das Gedicht ist kein Text, der Moderne verkörpert, sondern Sprachvergewisserung, die in der Moderne geschieht. Dabei auch wie ein Körper aussehen kann – es ist erlaubt, was authentisch gelingt. Eben weil sich die Aspekte der Welt nicht erschöpfen, kontextabhängig sind, und die Sicht auf Dinge nur aspektweise gelingt (im Sinne der dem Blick zugrundeliegenden Fragen), gelingen Gedichte aspektweise. Das wird von einigen Lyrikern heute sehr deutlich gesehen. Das Gedicht als Sprachraum ist ein Ereignis, das in den eigenen Moment findet und in das der eigene Moment findet. Mehr identische Verkörperung von Moderne geht nicht. Ich kenne keine andere Vorschrift dafür, als gegenwärtig zu sein.

Klingenberg, 15.02.2012

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