Wahlen und Wörter
0. Wahl-O-Mat
Da immer irgendwo Wahlen anstehen und dann immer irgendwo eine(r) oder etwas auch rät, man müsse diesmal diese Partei oder jene Bewegung wählen, sei hier einmal stattdessen meine Ratlosigkeit ausbuchstabiert. Denn eigentlich weiß ich nur, wenn überhaupt, was (und darum wen) ich nicht wählen will. Und nur hierüber kann man ja reden, „zwischen Wissen und Entscheidung” besteht „ein praktisches Diskontinuum”, so Peter Sloterdijk – und: die Entscheidung selbst ist in der Wahlkabine gut aufgehoben, Bekenntnisse interessierten mich nie so sehr, wie Herleitungen möglicher Optionen.
Optionen. Hat man aber welche? – „Vervielfältige Deine Vokabulare”, riet Richard Rorty, es liegt an den Wörtern … nun denn!
1. Wirtschaftskompetenz
Was genau diese Wirtschaft sei, ist dabei eigentlich schwer zu erklären. Vermutlich ist damit die Kapitalakkumulation mancher Menschen gemeint, in bezug darauf Kompetenz, diese zu sichern und zu beschleunigen, was dann ein Wirtschaftswachstum wäre, das für alle gut sei: als würden damit proportional mehr jener allerdings im Grunde virtuellen Geldmittel – längst ohne Deckung – zur Verfügung stehen, mit denen sich dann auch proportional größere Probleme lösen ließen … die aber Wirtschaftsprobleme schon sein müßten, denn dann die Mittel der Wirtschaft zu entziehen, um etwa für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, wäre nur dann nicht wirtschaftsinkompetent, wenn sonst nicht, um bei diesem Beispiel zu bleiben, der soziale Friede gefährdet wäre, was wiederum der Wirtschaft schadete, angeblich. Dagegen könnte aber auch Verschleiern helfen – ist Populismus also … irgendwie so etwas wie Wirtschaftskompetenz?
Allgemein schrieb von den Lockungen der Wirtschaftskompetenz mit Blick auf die USA jedenfalls Rorty:
„Die amerikanische Wirtschaft entgleitet allmählich der Kontrolle durch die amerikanische Regierung und damit auch der Kontrolle der amerikanischen Wähler. Für ein Prozent der Amerikaner, die vierzig Prozent der Vermögenswerte ihres Landes besitzen, ist diese neue Situation recht angenehm. Ihre Dividenden steigen bezeichnenderweise dann, wenn Arbeitsplätze von Ohio nach Südchina oder von North Carolina nach Thailand verlegt werden.
Auch die Stärke des Dollar trifft sie nicht übermäßig, solange die Anlageberater ihre Dollar mit einem Knopfdruck in andere Währungen konvertieren können. Mit Amerikas Zukunft steht für sie immer weniger auf dem Spiel, weil sie immer mehr in eine effiziente Weltwirtschaft investieren – eine Wirtschaft, deren ungebrochene Effizienz- und Produktivitätssteigerung einer ständigen Ausdehnung des globalen Arbeitsmarktes in stets noch ärmere Länder entspricht. Es ist völlig unbegründet zu meinen, was für General Motors oder Microsoft gut ist, sei auch für Amerika gut.”
– Richard Rorty
So ist zuletzt nur mehr die Frage, ob jene, die also Kapital akkumulieren und, wofern sie das müssen, davon abgeben, aufgrund dessen, was man Bildung oder Herrschaftstechnik nennen könnte, hierin überhaupt kompetent sein wollen; oder dies nicht eine gnädige bzw. populistische Geste gegenüber jenen sind, die auf ihre Kompetenzen stolz sind und ihre Ausbeutung für die Mächtigen gleich miterledigen.
2. Soziale Gerechtigkeit
Diese ist – wäre – dann gegeben, wenn alle zufrieden sind, also etwas zwischen Kommunismus und erfolgreich applizierten panem et circenses-Praktiken. Ein natürliches Maß gibt es nämlich nicht, man kann zwar sagen, daß der Kontrast zwischen dem Reichtum einiger Menschen, die immer weniger zu verorten sein dürften und immer mehr die einzige funktionierende Internationale zu sein scheinen, und den Ärmsten obszön ist, aber ab wann ein Verhältnis nicht ausbeuterisch ist, ab wann – siehe Punkt 1. – Maßnahmen nicht verschleiern, was sie beheben sollten, oder die Ausbeutung effizienter gestalten, eine Ergotherapie für den fast kaputten Arbeiter muß beispielweise, wie etwa Baudrillard andeutet, nicht immer aus moralischen Gründen gewährt werden, all das bleibt unklar. Vielleicht ist Irritation darum das einzige Geschäft der Linken, und zwar u.a. qua Bildung: Revolution in spe, bis man weiß, was nach dieser kommen könnte.
„Es ist an der Zeit, jene Form linker Politik wiederzubeleben, die seit der großen Wirtschaftskrise bis in die frühen sechziger Jahre an den amerikanischen Hochschulen verbreitet war – eine Politik, die sich im wesentlichen darum kümmert, die Reichen daran zu hindern, die übrige Bevölkerung auszunehmen.”
– Richard Rorty
3. Demokratie
Was ist eine Herrschaft, die die aller sein will? Über wen?
Aber der demos meint ja nicht alle, sondern jene, die den demos konstituieren. Das ist vermutlich richtig (weil tautologisch) und problematisch zugleich: So kann man aber jedenfalls Volkspartei sein, wie die ÖVP, die österreichische Schwesterpartei von CDU/CSU, die ja nicht völkisch ist…
Das Volk aber sagte hoffentlich nicht: „Let’s make … great again!” Denn dann wäre da womöglich schon der ochlos am Ruder, neben demos und ethnos sozusagen das dritte Volk – der Pöbel, der Teil der Bevölkerung, der zum demos nicht gehört und darauf stolz ist. Denn der ist ja etabliert, was schon fast ein Schimpfwort geworden zu sein scheint. Revolution sine spe bleibt hier: wenn sie kommt, so nur als Wallung, als Austausch einiger derer, die man als establishement oder was auch immer dem diffus unzufriedenen Quasi-Volk vorsetzt.
Da ist dann auch spätestens klar, warum Nationalisten so talentiert im Ausspähen von Minderheiten sind, die sie allerdings je durch Nominalisierung erst erfinden, worauf die hilflose Reaktion gegenwärtig zu oft ist, die unschmeichelhaft benannte Minderheit umzubenennen, als gäbe es das als solches nun einmal (rassistisch, sexistisch, …) konstruierte Signifikat zum problematisch befundenen Wort fortan so einfach.
Die einzigen, die dann die Existenz der so geschaffenen Minderheit sozusagen richtigerweise dementieren, sind zynischerweise die, die sie schufen: „Black lives matter!” – „All lives matter”, so wurde jenen erwidert, die mit den rassistischen Zuschreibungen wenigstens ein Anliegen zu verknüpfen suchten.
„Divide et impera” – Teil der Wirtschaftskompetenz?
4. Sicherheit
Sicherheit ist kein absoluter Begriff, es sei denn, man wäre sich sicher, daß einen im wort case Gott gnädig aufnimmt. Ein Minimum an Sicherheit wäre gegeben, wenn – zurecht oder zu Unrecht – jeder meinte, daß wir (denn wer sonst sollte sicher sein..?) a. nicht für das verantwortlich seien, was b. einem nicht alle „vernünftigen” Optionen nehme …
… falls das statistisch denn der Unsicherheitsfaktor wäre, nicht für den einzelnen Wohlstandserkrankungen, dazu Autounfälle und das erstaunlich hohe Risiko, sich irgendwann umzubringen – und für alle die Klimaerwärmung … oder die üblichen Vorgangsweisen, politisch Sicherheit zu schaffen..:
„Je intensiver die Öffentlichkeit über künftige Krisen diskutiert, desto geringer ist der institutionelle Wandel, den diese auslösen. So gibt es keinen guten Grund, warum die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens, der USA und Israels ihre Bürger nicht darüber informieren, wie viele atomare Sprengkörper sie besitzen, wie viele künftig gebaut werden und unter welchen Umständen sie zum Einsatz kommen sollen. Es gibt auch keinen Grund, die Wahrheit über die Entwicklung chemischer und biologischer Waffen zu verschweigen und der amerikanischen Öffentlichkeit Informationen darüber vorzuenthalten, warum mit ihren Steuergeldern »waffenfähiges Anthrax« hergestellt wurde. Und warum werden die Budgets und die Aufgaben der U. S. National Security Agency oder ihres britischen Gegenstücks geheim gehalten?”
– Richard Rorty
5. Europa
Man sollte die Größe der EU nicht wesentlich unterschreiten, wenn man an die Möglichkeit glaubt, über Politik verhandeln zu können. Ansonsten hat man die Oligarchie weniger Reicher, die sich bereits formieren mag, und zwar ohne Gegenüber, das nicht einfach als „lokale Störung” behoben werden kann, wie es, wertfrei formuliert, im Fall des Irans, der u.a. postkolonial Verträge nachverhandeln wollte, mit Mohammad Mossadegh geschah. Damit dies nicht geschieht, braucht es ein einigermaßen stringentes Zusammenspiel aller, das darauf hinauslaufen müßte, die EU zu so etwas wie den Vereinigten Staaten von Europa zu machen – unbequem für die Wirtschaftskompetenten, wenn auch noch nicht an und für sich klug. Insofern ahnt man auch hier, daß Nationalisten und jene sich vertragen, jedenfalls, wo die Angst vor der Destabilisierung nicht zu groß ist, rechts wie links ist Unsicherheit, rechts aber eine ohne damit verbundene Chancen.
6. Grenzen
Was sich de-finiert, hat Grenzen. Diese zu negieren ist vielleicht das Streben nach jener Größe, derer Politik bedarf, aber irgendwann auch töricht – vor allem, wo diese Grenzen eben politisch gegen die Oligarchen stehen, die Mobilität zur Sache derer machten, die qua Kapitalakkumulation den Standort wählen und mobil sein können, um dann wiederum hier oder dort Kapital einzusetzen (und zu akkumulieren), dabei Beschäftigungsverhältnisse apolitisch diktierend, siehe Punkt 1., apolitisch übrigens, wenn man nicht auch diese Unterbindung dessen, was politisch wäre, als politisch erachtet.
Die Restriktion ist also paradox das Universelle, das es ohne Restriktion nur als Chimäre gibt.
7. Flüchtende
Flüchtende sind keine Flüchtlinge. Es sind Menschen, die kommen, die dafür alles aufgeben und ihr Leben riskieren, die man also nur aufhalten könnte, indem man ihnen dieses, das sie riskieren, nähme. Was tun? Man muß Fluchtgründe beseitigen, weil man die Grenzen – siehe oben – nicht einfach öffnen kann, ohne damit jenen alles zu ermöglichen, die die Fluchtgründe schufen und schaffen.
Dazu kann man zynisch Desinformation gebrauchen, denn auch wenn Europa nicht Kanaan, wo Milch und Honig fließen, ist, ist der Hinweis, hier zu leben sei gar nicht so erstrebenswert, in den Gebieten, aus denen Menschen fliehen, so zu schwach, man müßte lügen…
Oder man müßte postkoloniale Verhältnisse angehen, etwa, daß die BRD ein mächtiger Kaffee-Exporteur ist, man müßte Destabilisierungen qua Intervention oder auch Waffenexport zwecks Erdöl unterlassen, …
Ebenso aber muß man denen, die dennoch kommen oder schon angekommen sind, eine Perspektive geben, sei’s im Bleiben, sei’s in der Rückkehr. Tertium non datur, eine dritte Option besteht nicht, auch wenn man Grenzen hat, kann man diese nicht so dem Außen zurechnen, daß das, was Europa sei, nicht erodiert, wenn und insofern seine Grenze (und das bleibt sie, auch wenn das Mittelmeer die Grenze sein soll, die man dann eben einfach wie einen Paß zu Südtirol „dichtmachte”) zur Duldung des Todes wird.
8. Ökologie
Ökologie muß diskutiert werde, denn …
* … ob nun wegen der Umwegrentabilität, weil ein halb leerer oder schließlich unbewohnbarer Planet auch ganz, ganz wenigen nicht mehr das bietet, was Wirtschaftswachstum genannt werden könnte, …
* … ob aus sozialen Gründen, weil nicht alle im gleichen Maße betroffen sind, noch: „emanzipatorische” Katastrophen aber seien möglich, siehe Ulrich Beck, …
* … ob aufgrund der Erkenntnis, daß man Menschenaffen nicht formaliter Menschenrechte zugestehen muß (die man Menschen realiter aberkannt hat), um nicht in allem nur Mittel und in manchem auch Zweck zu sehen, …
* … ob schließlich aus der Ahnung, daß ein unbewohnbarer Planet den Menschen zum ersten Mal in eine Lage brächte, für die das Wort „alternativlos” trifft, …
… jedenfalls wird, wer die Frage der Ökologie ausblendet, womöglich schon bald für alle anderen Fragen keine Antworten mehr brauchen.
9. Wahlbeteiligung (oder: Demokratie, pt 2)
Wer nicht wählt, hat eine Wahl getroffen – das System ist damit nicht (revolutionär und um Fortsetzungen zudem denkbar verlegen) umzustürzen, also hat man bloß sich als Akteur zeitweilig aus diesem entfernt: die Mehrheit stärkend, die Beschlüsse erleidend.
Das Griechische nennt den, der dies tut, idiotes. Wenn man sich den Bildungsgrad der Nicht-Wähler ansieht, stimmt das übrigens – und das ist immerhin quasi ein Argument für jene, die aber diesen Text wohl eher nicht lesen dürften, es auch weiterhin so zu halten.
Wie hält man es nun mit denen, die mobilisieren wollen? Mobilmachung als Demokratisierung..?
10. Bewegung
Eine Partei ist keine Bewegung. Eine Bewegung wäre eruptiv, vermutlich links, falls die Beteiligten wissen, was links meine, … nicht wählbar, sondern allenfalls Vorbereitung von etwas, das dann ein Programm hat und dergestalt institutionalisiert wählbar wird.
Ein Programm nämlich, aus dem sich ableiten läßt, wie man zu den genannten Begriffen und noch vielen stehen wolle, braucht es. Und nein, eine heimliche Agenda wie die Destabilisierung des Politischen, dann mit einem ausländerfeindlichen Scheinprogramm „zugeschmückt”, also systemisches Lügen, dies ist dabei nicht einmal ein Grenzfall des Akzeptablen.
Programmatik als Notwendigkeit: Dies ist, was übrigens gerade auch vor allem die Grünen erkennen müssen, sie sind programmatisch entzweit: ein Teil von ihnen mehr oder weniger Kommunisten oder wenigstens Sozialisten, die die Natur vage solidarisch einzubeziehen versuchen, der andere eher Bürgerliche, die aber ihrem Gewissen symbolisch etwas Gutes tun wollen und den Baum vor der Villa schön finden, die also die grüne Farbe als seelisches Ventil mißbrauchen, …
… ein wenig wie jene unter den Sozialdemokraten – „Die SPD tritt bitte ab sofort wieder in Erscheinung”, was „sie dabei vertritt, ist eigentlich egal, das war früher ja nicht anders”, so die Taz zu diesem insgesamt virulent werdenden Aspekt jener Partei –, wackere Sozen, die den Merkel’schen Sachzwängen bis hin zur Ausbeutung im In- und Ausland folgen wollen, aber: auf eine irgendwie menschliche, nette Art…
11. Stoßseufzer
Tja … und wen soll man nun wählen..?
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