Kolumne

Seitenwechsel [3] Johanna Hansen

Geschrieben werden Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstehen und in der WORTSCHAU veröffentlicht werden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag, Start: Montag 1. Juli 2019, machen sich fünf Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhalten, woran sie arbeiten, was sie erleben, essen, wie sie sich durch den Tag bewegen und was sie bewegt etc. Auf diese Art entsteht simultan ein Tagebuch, das einen vielschichtigen Blick auf eine jeweils individuell erfahrene Welt wirft. Dabei geht es um die Frage, ob es, seitdem die ganze Welt vor der Haustür zu liegen scheint, also: ob und wie es angesichts der uns abhandengekommenen Ferne und angesichts der Globalisierung möglich ist, zeitgleich an sehr verschiedenen Orten und aus sehr unterschiedlichen Perspektiven etwas entstehen zu lassen, das heimisch macht, jenseits länder- und gedankenbezogener Trennungslinien. Wie kann das aussehen? Es geht um die Suche nach einer Form, mit der sich die verlorene Distanz wiederentdecken lässt. Und es geht darum, ob und wie Nähe sich dadurch neu definieren lässt.

 

Düsseldorf, Montag, 1. Juli 2019

In der Frühe das schrille Kreisen der Mauersegler im Juliblau. Dann plötzlicher Sturzflug von zwei Vögeln in die beiden Nester unter unserem Hausdach. Hin und wieder segelt eine einzelne weiße Daune von dort hinunter und bleibt im Buchsbaum hängen. Aber die stammt wahrscheinlich von den Tauben, die oft auf dem Dachvorsprung im fünften Stock sitzen. Direkt über den Nestern der Mauersegler. Im Hinterhof pickt meine Lieblingsamsel unter den Hortensien Rosinen auf, die ich für sie streue, und verschwindet dann mit Flugrufen, den Schnabel voller Rosinen, über die Hofmauer und die asphaltierten Stellplätze vor den Nachbarhäusern aus meinem Blickfeld. Immer häufiger wagt sie sich bei geöffneter Terrassentür in die Wohnung. Gestern flog sie auf das oberste Brett des Bücherregals, Abteilung Wälzer (deutsche Geschichte) und begann zu singen. Von drinnen nach draußen. Ein frei lebender Vogel, der mich inzwischen bis auf einen halben Meter an sich heranlässt. Wenn ich draußen die Pflanzen versorge, folgt die Amsel mir von Strauch zu Strauch. Ich kann ihr in die Augen sehen und bilde mir ein, sie schaut zurück. Vielleicht ist es der Vogel, den ich vor zwei Jahren unbeabsichtigt vor einem Sperber rettete. In steilem Flug schoss er gerade auf das Küken mit Stummelschwanz herunter, das kaum flügge auf der Lehne eines Gartenstuhls balancierte, als ich zufällig in den Hof trat, um die Stauden zu wässern. Gerade noch rechtzeitig störte ich den Raubvogel. Die Singvögel verstummen schlagartig und flüchten in die Kletterrosen oder ins Efeu, sobald einer der beiden Sperber, die ein paar Straßen weiter auf dem Kirchturm ihren Horst haben, in Sicht- und Hörweite ist.

Mittags. Es gibt die ersten Johannisbeeren. Ich kaufe auch noch Kirschen und Aprikosen im Supermarkt. Möchte Kompott daraus kochen und Marillenklöße machen. Ein Lieblingsrezept meiner Patentante. Sie hatte es von einem Besuch in Wien an den Niederrhein mitgebracht und servierte die Klöße mit zerlassener Butter und gerösteten Semmelbröseln. Seit vielen Jahren bereite ich sie im Sommer als Erinnerung an meine Tante zu, die in ihrer Jugend innerhalb der Großfamilie die einzige Frau war, die Motorrad fuhr, ihre Uhr auf der Innenseite des Handgelenks trug, Lampenschirme mit den Etiketten exotischer Weinbrände und Zigarrenbanderolen beklebte, im Ausland gelebt hatte und nach ihrer Rückkehr in Slingpumps mit lackierten Fußnägeln durch die Felder in der Umgebung der Kleinstadt spazierte, wo wir lebten. Als Reaktion auf ihre Extravaganzen schlossen die ortsansässigen „Frauen und Mütter“ sie gern aus ihren Kreisen aus und ihre angeblich in fremden Revieren wildernden Katzen wurden von empörten Jägern zur Strecke gebracht. Meine Tante blieb dennoch ein Freigeist und lieh mir lange vor dem Fremdsprachenunterricht in der Schule französische, englische und italienische Wörter aus. Ich übte sie vor dem Zubettgehen, schlief damit ein, und sie flogen nachts um mich herum wie schillernde Falter aus Papier.

Nachmittags.
Eine Ausstellung abgebaut. Meine beiden Helfer tragen die Bilder aus dem Auto ins Atelier. Beide wohnen im blauen Haus gegenüber unserem gelben. Uli ist Keramiker und Christopher ein Volkswirt, der Ballettstunden nimmt. Sie sind sehr geduldig mit mir, der Ungeschickten, die es schwer damit hat, Bilder beim Hängen auf dieselbe Höhe zu bringen.

Im Litradio einen Beitrag nachgehört über die strukturelle Diskriminierung von Frauen im Literaturbetrieb. Kaum zu glauben, dass selbst promovierte Frauen im Literaturbetrieb nur halb so viel verdienen wie ihre männlichen Kollegen. Die Kluft setzt sich bei der Preis- und Stipendienvergabe fort. Es besteht ein deutliches Gefälle bei renommierten Preisen zu Ungunsten von Autorinnen. Ich schwanke zwischen Wut und Resignation. Falle dann vorübergehend zusammen wie Schnee in der Sonne. Und da liege ich jetzt. Eine Pfütze Ohnmacht, die in der Sommerglut verdampft.

Abends. Wieder im Senter Tagebuch von Angelika Overath gelesen. „Sent. Der Abstand. Schreiben ist ein pralles Leben. Man ist dauernd in Gefahr, dem guten Alltag abhanden zu kommen. Oft habe ich Angst vor Menschen, weil mir die Sprache fehlt. (Ich schaffe den Sprung nicht vom Text ins Gespräch, in die andere Dichte.) ... Wäre manchmal Schweigen Heimat?

Angelika Overath hat mich durch ihr Buch auf die Idee gebracht, vier Autorinnen und Autoren zu einem Projekt einzuladen, bei dem wir simultan an verschiedenen Ecken der Welt an einem gemeinsamen Tagebuch schreiben. Angelika Overath schrieb Alle Farben des Schnees, nachdem sie von Tübingen in ein kleines Dorf im Unterengadin gezogen ist. Bei der Lektüre des Buches weicht jedes Mal der innere Druck von mir, den ich so oft fühle. Der Druck entsteht u. a. durch die zunehmende soziale Kälte als Folge von Wettbewerb und Leistungsdruck in sämtlichen Lebensbereichen. Eskalierende Gewaltbereitschaft. Enge. Letztere auch als Folge extremer Bauverdichtung in der Stadt.

Im Senter Tagebuch geht es um die Erfahrungen einer Städterin, die im Engadin ihre Grenzen erweitert. In einer Natur, die noch nicht zur Kulisse für Events aller Art verkommt. Die Berglandschaft hält das eigene Leben, rhythmisiert es. Jeder ist mit jedem verbunden.

Sich in der Bewegung zu verwurzeln ist das, was mich fasziniert. Ich frage mich, ob es, seitdem die ganze Welt vor der Haustür zu liegen scheint, also: ob es angesichts der uns abhanden gekommenen Ferne auch möglich ist, zeitgleich an sehr verschiedenen Orten und aus sehr unterschiedlichen Perspektiven etwas entstehen zu lassen, das heimisch macht, jenseits geographischer und politischer Trennungslinien. Wie kann das aussehen? Ich suche nach einer Form, mit der sich in Zeiten der Globalisierung die verlorene Distanz wiederentdecken lässt. Möchte mich austauschen jenseits der Mauern, die nicht nur in den Köpfen bereits vielerorts wieder entstehen. Und ich möchte wissen, ob und wie Nähe sich durch das gemeinsame Projekt neu definiert.

 

 

***Erschienen in Wortschau, Ausgabe 34, Oktober 2019, Mein Tier, mein Wildtier, mein Einhorn. Herausgegeben von Johanna Hansen & Wolfgang Allinger. Autor*innen dieser Ausgabe: Sascha Kokot, Astrid Nischkauer, Harald Kappel, Esther Andradi, Michael Bauer, Achim Raven, Judith Sombray, Andreas Hutt, Sabine Göttel, Johanna Hansen, Wolf Senff, Jan-Erik Grebe, Bess Dreyer, Tom de Toys, Jörg Kleemann, Manfred Ach, Patrick Wilden, Stan Lafleur, Michael Hillen, Bernd Lüttgerding, Mechthild Hagemann, Jens Stittgen, Wolfgang Allinger, Kathrin Schadt, Gundega Repše, James C Hopkins, David Oates. Hier bestellen!

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