Keine Kreativität mehr
Hatte Joseph Beuys das wirklich gewollt? Überall wird inzwischen gemalt, gebastelt, geschrieben, musiziert und dilettiert, obwohl offenkundig ist: Jeder Mensch ist fast immer kein Künstler. Jeder könnte aber ein entspannter Biertrinker*in sein. Doch schon im Kindergarten wird den kleinen Nichtskönnern eingeredet, Kreativität sei was Tolles und selbstgebastelte Geschenke würden Freude bereiten. Wer schon mal einen gehäkelten Topflappen bekam, weiß, nur selbstgekaufte Geschenke machen Freude. Sie sind nicht schief und funktionieren sogar. Und wenn nicht, kann man sie zumindest umtauschen. Ich wäre ja durchaus dafür, auch schlechtgebastelte Geschenke zurückzugeben. Leider sind Kinder noch nicht so kritikfähig. Aus falsch verstandener Humanität habe ich deshalb auf diese erzieherische Maßnahme verzichtet, als ich mal von der Tochter meiner katholischen Freundin ein Lesezeichen bekommen habe. Es sah aus wie, und jetzt muß ich meine Worte wohlüberlegt anwenden, eher wie der erste Versuch aus dem Anfängerkurs einer Andersbegabtenwerkstatt. Es bestand aus einem Stück Pappe. Um die Pappe herum war grobstichig von ungeübter Kinderhand ziemlich viel Stoff genäht worden. Ich hätte auch einen halben Ziegel ins Buch legen können, so dick war das. Einem Kind aus Bangladesch wäre das natürlich nicht passiert, weil es schon sehr gut nähen kann, sonst kriegt es nichts zu essen. Das verbessert zwar einerseits die selbstgebastelten Geschenke ungemein, ist aber andererseits nicht unbedingt kindgerecht. Ich will allerdings den emotionalen Mehrwert solcher Geschenke nicht ganz außer Acht lassen. Jedes Mal, wenn ich dieses Lesezeichen in einer Schublade wiederfinde, bin ich sehr gerührt darüber, daß aus dem Kind, das mir das gebastelt hat, doch noch etwas geworden ist.
Ich war als Kind freilich nicht viel besser, im Gegenteil. Jahr für Jahr habe ich immer dieselben Weihnachtskarten gebastelt. Ich faltete ein weißes Blatt Papier, malte mit Filzstift einen grünen Tannenzweig vorne drauf und schrieb „Frohe Weihnachten“ hinein und dazu dann noch die Adressaten, also liebe Oma, lieber Opa, liebe Mutti, lieber Vati. Ich glaube, ich habe erst damit aufgehört als ich 15 war. Dagegen sind die mundgemalten Postkarten von minderbemittelten Blinden wahre Meisterwerke. Ich malte eben ohne Lust und mit noch weniger Talent. Der Pfusch diente mir als symbolisches Als-ob-Geschenk. Nur einmal, aus vollkommener Ratlosigkeit darüber, was ich meiner Mutter zum Geburtstag schenken könnte, kam ich auf die tolle Idee, ihr den Inhalt meines Sparschweins zu schenken. Immerhin 20 Mark legte ich ihr hin und sagte, daß sie sich was Schönes kaufen soll. Doch anstatt sich zu freuen, guckte sie mich nur enttäuscht an und gab mir das Geld zurück. Ich brach in Tränen aus, weil sie es nicht angenommen hat. Ich verstehe ihr Verhalten bis heute nicht. Wenn mir mal ein Kind Geld schenken möchte, dann würde ich es aber dankend annehmen.
Am Gymnasium konnte man den Kunstunterricht zum Glück irgendwann abwählen. Bis es soweit war, hatte ich aber ausreichend Traumata angehäuft. Ein wichtiger Grund, warum ich wahrscheinlich nie verrückt werde und in einer psychiatrische Klinik lande, ist die Vorstellung, mich mit anderen erwachsenen Menschen in einem Raum wiederzufinden, wo ich plötzlich wieder ein Bild malen muß.
Vor einigen Jahren ist mir aber wieder was Traumatisches passiert an dem Geburtstag einer Bekannten, weil sie auf die Idee kam, ein Schreibspiel zu spielen. Man sollte sich einen Satz ausdenken, ihn auf ein Blatt schreiben, das man umfaltet, damit der nächste ihn nicht sieht, der dann ebenfalls einen Satz hinschreibt, und so fort. Am Schluß würde der gesamte Text vorgelesen werden. Ich überlegte und überlegte, denn ich wollte ja nicht einfach nur einen Satz hinschreiben, sondern einen guten. Die Gastgeberin versuchte mich zu ermuntern, es sei doch nur ein Spiel. Schreiben ist für mich aber kein Spiel, sondern Schmerz und Verzweiflung. Ich schrieb schließlich etwas, von dem ich hoffen durfte, daß es vor der Ewigkeit Bestand haben würde, als die ersten Gäste bereits nach Hause gingen.
Deshalb kann ich auch mit dem sogenannten „creative writing“ überhaupt nichts anfangen. Wenn Leute, die offenkundig keine Schriftsteller sind, etwas ausdrücken wollen, warum nehmen sie dazu nicht einfach einen Pickel? Es wird sowieso zu viel geschrieben. Mein Vater denkt ja, ich werde mit meinem Roman, den ich seit Jahren ankündige, nicht fertig, weil ich zu faul sei und mit Nichtigkeiten meine Zeit vertrödele. Er verkennt mich völlig. Im Gegensatz zu Thomas Mann nehme ich wenigstens Rücksicht auf die Gefühle meiner Familie. Es muß ja nicht jeder erfahren, daß mein Vater oft furchtbar cholerisch, meine Mutter schrecklich überbehütend und meine Oma eine große Verehrerin von Adolf Hitler war. Ich weiß, die Idee ist nicht neu, aber man sollte einem Schriftsteller auch mal einen Preis für ein Buch geben, das er nicht geschrieben hat. Diesen Preis würde ich jedenfalls einigen Schriftstellern von Herzen gönnen.
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