Land ohne Zukunft
Wir folgen einem Jungen und seiner Schwester, die Plastiktüten und Nüsse auf dem Basar verkaufen, die im Sportstadion Wasser ausschenken und dafür in Polizeigewahrsam kommen. Wir folgen ihnen, wie sie vom Vater abgeholt werden, er selbst Lastenträger in den Straßen von Saddam City, und wie die drei zur Mutter heimkehren, die den Interessent*innen der Nachbarschaft die Zukunft aus der Hand oder dem Kaffeesatz liest.
Shams und Qamer, „Sonne“ und „Mond“ auf Arabisch, sind als Kinder unzertrennlich. Ihre Namen sind Ausdruck der Hoffnung ihrer Eltern, dass aus ihren Kindern später einmal glückliche Menschen werden. „Ihr sollt so frei und mächtig werden wie euresgleichen am Himmel“, sagt der Vater, der mit seiner Frau nach den Kriegen mit dem Iran und mit Kuwait aus dem Südirak in die Nähe von Bagdad zieht.
Doch ein erfülltes Leben scheint für einen Jungen wie Shams außer jeder Reichweite. Nach der Schule muss er für seine Familie dazuverdienen, und wäre seine intelligente Schwester nicht, müsste er die Demütigungen von Straßenbanden ertragen. In einer Welt, in der Frauen nach einer Hochzeitsnacht ohne roten Flecken auf dem Bettlaken entehrt sind und im schlimmsten Fall auf dem „Friedhof der Namenlosen“ enden, in der eine selbstsichere, schöne Ehefrau von ihrem Mann aus Eifersucht in Brand gesetzt wird, erscheint Shams‘ Schwester Qamer als eine leuchtende Identifikationsfigur. Abbas Khider beschreibt ihre Reaktion auf einen Anmachspruch auf folgende Art und Weise:
„Er hielt mit seinem Wagen neben uns und rief aus dem Fenster: „Ein Engel, der auf dem Bürgersteig spazieren geht! Ich glaube, ich brauche eine Brille – oder bist du etwa echt? Steig ein, Süße, und wir fliegen davon!“ […] Sie [=Qamer] lächelte und antwortete dem Jungen: „Ein Esel, der Autor fahren kann! Ein Wunder der Evolution! Steig aus, Süßer, und ich zeige dir, wie echt ich bin!“ Er kurbelte das Fenster sofort hoch und haute ab.“
Es gibt einige solcher Stellen, an denen Khider, der selbst mit 23 Jahren aus dem Irak floh, seine Figuren Empowerment erfahren oder hoffen lässt. Sinnbild für die Wünsche und Träume des lese- und schreibbegeisterten Shams ist der „Palast der Miserablen“, ein monatliches Treffen in der Wohnung eines blinden Literaturstudenten, während dem Literatur leidenschaftlich besprochen und rezitiert wird. Hisham, Kamal und Yara vervielfältigen Texte aus dem Ausland, spazieren freitags auf dem Büchermarkt und schreiben selbst über ihr Leben, um der Welt eines Tages zu erzählen „was hier im Lande wirklich vor sich geht“.
Doch auch hier ist die Politik allgegenwärtig, die Shams‘ Welt zu einer Welt der Bedrohung und der Zukunftsangst werden lässt.
Besonders deutlich wird das, als Shams 1999 etwa 18 Jahre alt ist und von allen Bezugspersonen verlassen wird. Nicht nur seine Schwester heiratet und zieht nach dem finanziellen Ruin zurück zu den Verwandten im Südirak, auch Yara, Hisham und eine Freundin aus der Iraker Mittelschicht fliehen nach Jordanien, den Libanon oder Europa. Für ihn stellt sich die Frage nach einer Auswanderung nicht, hat er doch kein Geld für ein Visum, Sorge um seine Eltern und Angst vor der Gefangennahme an der Grenze. Er ist Gefangener des eigenen Landes, Gefangener seiner sozialen Herkunft, Gefangener unter den wachsamen Augen der Gefolgsleute Saddam Husseins. Ohne Aussparungen schildert Abbas Khider mit klarer Sprache die klaustrophobische Realität von Gewalt, Angst und Folter, unter der Iraker*innen vor der Jahrtausendwende lebten – eine Realität, die das deutsche Leser*innenpublikum wohl am liebsten ausblenden würde und die es zwangsläufig verstören muss. Khider schreibt dieses Schicksal, das stellenweise an die nahe Perspektive auf den jungen Zain aus dem preisgekrönten libanesischen Film „Capernaum“ von Nadine Labaki erinnert, trotzdem für ein deutschsprachiges Publikum auf – ein literarisches Projekt, das in Zeiten von Islamophobie und Hate Speech gegen Geflüchtete politische Schlagkraft hat.
Mit großem Geschick gelingt es Khider, auch Kritik an der eigenen Rolle eines in Fremdsprache veröffentlichenden, nach Europa geflüchteten Autors zu thematisieren, wenn er seinen jungen Autor Hisham beim Treffen im „Palast der Miserablen“ Kritik an Exilautor*innen äußern lässt:
„Was bringt es, wenn man irgendwo im fernen Ausland gegen die Diktatur anschreibt, aber nur Exilanten lesen das dann? Das ändert doch gar nichts und ist nur für die Schublade geschrieben.“
Und auch gegen die europäische Leserschaft ist eine Spitze gerichtet:
„Glaubst du ernsthaft, dass sich irgendwer da draußen für unsere Probleme interessiert? Wir sind doch nur eine schnelle Zeitungsschlagzeile oder eine Kurzmeldung in den Nachrichten wert. […] Wieso sollte unsere Geschichte irgendwen jucken, der gerade gemütlich im warmen Kaffeehaus in Wien oder Zürich sitzt und seine fette Torte mit einem Kaffee runterspült?“
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