Weltgehalt, gekippt
„auf dem hügel krak menschen
wie stoppelhaar im sonnenuntergang
während gegenüber auf dem wippensitz
der mond langsam seine stirn hebtein abgeknipster fingernagel
ein angebissenes brötchen“
Ein gemeinsamer Nenner von fast allen Texten in Anna Hetzers zweitem Gedichtband ist die treffliche Balance, die bestechende Ökonomie, die ihnen innewohnt: in den Bildern, den Klangmustern, der Aufbereitung von Details, dem Grad der Abstraktion. Diese Behutsamkeit – gepaart mit einer Lust, ihre Grenzen auszureizen – zeichnet diese Poesie aus, abseits aller sonstigen Qualitäten.
Davon abgesehen weisen die Gedichte unterschiedliche Stufen der Verdichtung auf, gerade was die Bildsprache angeht – in manchen Gedichten nähert sich diese fast schon dem üppigen Kredenzen eines Jan Wagner (mit geschickterer Dosierung) an, in anderen wird die Sprache reduziert auf eine konstatierende Funktion, der sinnlich Aspekt wir heruntergeschraubt auf die belassene Wahrnehmung, die blanke, gesetzte Schilderung. Manchmal wird der Regler für die Bildsprache sogar im selben Gedicht rauf- und runtergeschoben.
„im abteil macht luft abstriche
von der schleimhaut. an den augen pinzetten
ergebnisse dieser proben
interessieren nichtein gespräch öffnet sich. stricktuch
aus langeweile erzählt eine frau
dass sie zwei worte kannte als sie
nach deutschland kam hände und hoch“
In allen Fällen aber gelingt es der Balance und der Klangkomposition, die Gedichte zu sehr gefestigten Gebilden zu machen, deren Gestalt ebenso aus der Summe wie auch den Einzelheiten ihrer Details besteht; ich mag die dezente Wortmusik, die an Versrändern knospenden Assonanzen in diesen Gedichten, wie sie unaufdringlich wie Wellen das Geschehen näher an mich herantragen.
Unaufdringlich ist auch ein wichtiges Wort. Denn Anna Hetzers Gedichte haben eine Art, die sie wirken lässt, als wären sie thematisch kaum mit Hinblick auf ein Leser*innenpublikum verfasst worden. Sie werben nicht um Aufmerksamkeit mit großen Worten, aktuellen Bezügen, ewigen Topoi. Jedes Gedicht ist vielmehr der/m geschilderten Szene(rie), Gegenstand, Moment verpflichtet, schwingt sich nicht auf oder steigt in große Tiefen, entfernt sich nicht weit vom Ausgangspunkt seines Anstoßes. Selbstverständlich tun sich von dort viele Pfade auf, manche davon schon im Gedicht hervorgehoben, manche verborgen unter der Unscheinbarkeit oder in der Scheinbarkeit.
Ein gutes Beispiel für viele der beschriebenen Aspekte ist das Gedicht „Am Märchenbrunnen“, das beginnt:
„neunzehnhundertdreizehn zur eröffnung
tragen mütter ihre kinder in den armen
zu den fröschen. mitten im becken einer mit kroneparaden von schildkröten zu beiden seiten
mit helmen auf dem rückenfiguren der gebrüder grimm
wie lieblich sie defilieren.“
Der tatsächliche Brunnen befindet sich in Berlin, in Friedrichshain, und wurde, wie im Gedicht beschrieben, kurz vor dem Ersten Weltkrieg eingeweiht; Märchenfiguren der Gebrüder Grimm säumen den Brunnenrand, zusammen mit Schildkröten. Die Transformation der Schildkrötenpanzer in Helme stellt die Szenerie nicht nur in historische Zusammenhänge, sondern mündet am Ende des Gedichtes auch in eine noch größere Metapher:
„als eines tages panzerfäuste
in den takt ihrer geschichten fallenund er aufs neue errichtet wird, der brunnen
wieder sprudelt, sprudelt“
Eine Interpretationsmöglichkeit wäre, dass das Gedicht hier vom kurzen Ausflug in die poetische Abstraktion zurückkehrt in Welt der nüchternen Feststellung, denn der Brunnen wurde in den Gefechten des 2. Weltkriegs schwer beschädigt und im Anschluss wieder aufgebaut.
Eine andere wäre, dass im Zuge des Gedichts aus dem tatsächlichen ein metaphorischer Märchenbrunnen geworden ist. Folglich sprudeln hier keine Wasser, sondern die Märchen, die Heimatsagen – „ihre“ Geschichten und dieses „ihre“ ist hier ein weites Feld. Vielleicht überrauschen diese Geschichten die Erinnerungen an die Panzerfäuste, die Konsequenzen aus den vielen Ammenmärchen, die erzählt wurden. Hier wird eingelöst, was der letzte Satz des Klappentextes verspricht:
„Im Prisma ihrer Texte zerfällt große Geschichte in konkrete Bilder, die sich mit jeder Zeile neu zusammensetzen.“
In jedem Fall zeigt dieses Gedicht hoffentlich, wie gut Hetzer sich auf Balancen versteht, wie sie spielerische und ernste Aspekte, Vordergründiges und Hintergründiges verschmilzt und übereinander schiebt. Genau darum geht es ja auch bei „Kippbildern“: um eine Balance, die es letztlich unmöglich macht, zu sagen, dass ein Bild mehr als das andere da ist, dass man nur ein Bild sieht.
„einsatzbereit wie eine schnecke
in ihrem kalkhaus, stellenweise
mit poliertem fleisch tapeziert
sie selbst ein blutgefülltes kissenalles passiert ihren rücken und zeigt moleküle
als ausweis: die letzte zigarette
vor dem morgen, ein drückender rest
magensäure, zahnpasta, himbeeren, tee“
Der Band hat sechs Kapitel, wobei das zweite – „Deutsche Exportwaren“ – eher ein Intermezzo ist: eine Auflistung von deutschen Worten, die in andere Sprachen übernommen wurden oder dort ähnliche Begriffe geprägt haben (nebst der Wortgestalt in den anderen Sprache), darunter so Klassiker wie „Blitzkrieg“, „Hinterland“, „Sauerkraut“ und „Weltanschauung“.
Einige Gedichte spielen in polnischen Ortschaften (Hetzer war Stipendiatin der Villa Decius in Krakau), im Kapitel „Brücken“ geht es um Grenzverläufe und Übergänge (eines der eindrucksvollsten beschreibt eine Szenerie an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea). Ein weiteres Kapitel setzt sich mit der Zunge als Organ, Gestaltungswerkzeug und metaphorische Größe auseinander (Zitat über diesem Abschnitt). Die Texte aus dem letzten Kapitel, mit dem Titel „Postkarten“, beziehen sich jeweils auf ein Gemälde der Künstlerin Helena Parada-Kim.
Apropos Künstlerin: das Buch ist illustriert mit Zeichnungen von Andrea Schmidt, deren dunkle Stimmungen eine schöne, molltonartige Untermalung bieten und neben denen Hetzers Texte, bestehend aus viel weniger Schwarz auf viel mehr Weiß, befreit wirken, aber auch klarer und kantiger hervortreten (wobei ich diesen graphischen Aspekt auch nicht überbewerten will).
„zur diamantenen hochzeit
kommen alle und das personal
aus tischgesprächen bricht ein
in die eigene geschichte“
Es ist immer wieder schön, ein neues Buch vom Verlagshaus Berlin in Händen zu halten. Schön, dass es diesen Verlag gibt und dass er so unterschiedliche Dichtungen herausbringt. Hetzers Band ist ein weiterer Beweis für die Vielfalt dieses Programms und selbst eine schöne Vielgestalt. So oft erscheint die Welt bei ihr geordnet, in klare Abläufe zerlegt und doch wecken gerade ihre konstatierenden Sätze, die Umrisse ihrer Feststellungen unser Misstrauen. Aber wir müssen uns selbst fragen, ob dieses Misstrauen angebracht ist, ob wir in einer ihrer Beschreibung nur glaubten etwas anderes zu sehen, oder ob sich darin tatsächlich ein Kippbild verbirgt.
Denn die Gedichte – im Ton mal intensiv, mal neutral, und alles dazwischen – leiten uns nicht zur Eindeutigkeit an, sondern legen mit ihren Satzlinien eine ebenso subtile wie mehrdeutige Zeichnung an, die sowohl den Plan eines Labyrinths als auch schlicht ein Stillleben darstellen könnte. Viele schmale Irritationen, aber auch eine ganze Menge an präzis abgebildetem Weltgehalt, zwischen diesen Punkten kann die Wahrnehmung der Leser*innen frei oszillieren – und ich wünsche diesem Band viele Leser*innen. #poetisierteuch
„dem nebel sieht man die luftnot an
inmitten ein mensch, der regler bedient
und wippende menschen, die köpfe wie bojen
auf den frequenzen.“
Fixpoetry 2019
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