Die Angst in den Schatten
„Wir wissen genau, dass es das Ding unterm Bett nicht gibt“, sagte Stephen King einmal, „wir wissen aber auch, dass es uns nicht erwischen kann, wenn wir die Füße unter der Decke lassen.“ Aus genau dieser Art kindlicher Ängste (vor denen auch manch Erwachsener in stürmischen Herbstnächten nicht sicher ist) hat Dan Simmons Anfang der Neunziger einen Roman gemacht, über den King wiederum sagte: „Eines der wenigen Bücher, die man gelesen haben muss.“ Nun sind King und Simmons befreundet, aber das macht die Aussage nicht weniger wahr, wenn auch mit einer kleinen Einschränkung – aber dazu später mehr.
„Sommer der Nacht“ heißt dieses Buch. Im Juni 1960 sitzt Dale Stewart in seinem Klassenzimmer in der Old Central School und beobachtet, wie sich der Sekundenzeiger unerträglich langsam seinem Ziel nähert: Dem Beginn der Sommerferien. Dale ist gerade zwölf geworden. Sein Leben fängt gerade erst an, die Zeit von Old Central hingegen ist vorbei. Der alte Klotz soll abgerissen werden – das Obergeschoss ist schon lange verrammelt, der Glockenturm dicht, die Bibliothek ausgeräumt. Nie wieder werden Dale und seine besten Freunde hier sitzen müssen, und auch die alte Lehrerin Mrs. Dubbet geht bald in Rente. Doch ausgerechnet an diesem letzten Schultag verschwindet ein Kind. Manche haben Tubby Cooke zuletzt gesehen, als er ins Untergeschoss zu den Toiletten ging. Eine Lehrerin hingegen meint, er sei nach Hause gegangen. Doch dort taucht er nie auf. Manche in dem kleinen Kaff Elm Haven, Illinois, erinnert das an die Jahrhundertwende, als gleich mehrere Kinder spurlos verschwanden.
Dale bester Freund Duane will es genauer wissen. Tagsüber hilft er seinem versoffenen Vater auf der Farm und in den Maisfeldern. Nachts wühlt er sich durch die Geschichte des Ortes. Doch entscheidende Stellen fehlen – und die Chroniken einige Jahre sind nirgends mehr auffindbar. Die Schulleitung hakt Tubbys Verschwinden einfach ab, der Polizei ist es offenbar egal. Also vertraut sich Duane seinem Onkel an, und auch der merkt, dass seltsame Dinge vor sich gehen in Elm Haven. Als er der Lösung, die mit der alten Schule zu tun hat, näherkommt, stirbt er bei einem Unfall. Klar, dass Duane nicht an einen Zufall glaubt. Und die düstere Gestalt, die nachts durch das Maisfeld streift, macht ihm ebenso Angst, wie der Abdeckereilaster vom ehemaligen Schulhausmeister, der Dale, Duane und ihren Freunden mehr als einmal nach dem Leben trachtet.
Es ist ein Buch über das Ding unterm Bett. Über das Ding im Schrank. Über das Ding im Keller. Das Ding auf dem Dachboden, das nachts leise scharrt. Über die Gestakt im Maisfeld und über das, was seit mehr als hundert Jahren in der alten Schule haust – und das auf gar keinen Fall will, dass sie abgerissen wird.
Simmons baut seine Geschichte langsam auf und steigert den Terror dann von Seite zu Seite. Das hochsommerliche Idyll des ländlichen Idaho und die unbändige Freude über die unermessliche Freiheit der Sommerferien verwandelt sich bald in einen düsteren Alptraum voll schlafloser Nächte, in denen all diese Ängste zum Leben erwachen. Dass die kindliche Perspektive so gut getroffen ist, dass man sich schon nach wenigen Seiten gänzlich in der Welt der jungen Protagonisten wiederfindet, hat dabei einen Grund: Es handelt sich um den Autor und seine Freunde. Simmons ist selbst in der Gegend um Peoria aufgewachsen, die Handlung basiert zu weiten Teilen auf seiner eigenen Kindheit. Wer dieses Buch liest, ist selbst wieder zwölf Jahre alt und fängt unweigerlich an, sich vor den Schatten in der Zimmerecke zu fürchten und blickt immer mal wieder zum Fenster – nur um sicherzugehen, dass er nicht von einem bleichen Gesicht beobachtet wird...
Zehn Jahre später, kurz nach der Jahrtausendwende, knüpfte Simmons mit „Im Auge des Winters“ wieder an den Stoff an. Vierzig Jahre nach dem Sommer 1960 kehrt Dale Stewart, inzwischen leidlich erfolgreicher Autor von Schundromanen, nach Elm Haven zurück und quartiert sich in dem Farmhaus ein, in dem damals Duane wohnte. Er will ein Buch über jenen Sommer schreiben, aber an vieles kann er sich kaum noch erinnern. Es dauert allerdings nicht allzu lange, bis er merkt, dass das, was ihn als Kind geängstigt hat, noch immer hier lebt. Und auch in diesem dunklen Winter streift es nachts durch den Mais.
Um nochmal zum Anfang und zu Stephen Kings Aussage über das Buch zurückzukehren: Wenn man sich auch nur ansatzweise für Schauerliteratur interessiert, dann gehört „Elm Haven“ zweifellos zu den wenigen Büchern, die man gelesen haben muss. Es ist schlicht und einfach eins der größten Meisterwerke des Genres. Dass nun beide Romane in einer überarbeiteten Neuauflage erscheinen, war längst überfällig.
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