Von Elstern, Raubkatzen und Nachtmenschen
Vorgehabt hatte ich eigentlich, Hototogisu von Eric Giebel rasch und zügig zu rezensieren. Aber dazu kam es nicht, was allerdings nichts mit dem Buch zu tun hatte, sondern anderweitige Gründe hatte. Ich las es aufmerksam, machte mir Notizen – aber dann kam etwas dazwischen, ich legte es also beiseite, nahm es dann viel später nochmals zur Hand, las es neuerlich – es kam wieder etwas Dringendes dazwischen, ich legte es neuerlich beiseite um später nochmals zu lesen zu beginnen, etc. Hototogisu begleitet mich damit schon über einen sehr langen Zeitraum. Und ich kann daher sagen, dass wir es hier mit sehr feiner Literatur zu tun haben, die mit der Zeit nichts von ihrem Aroma verliert, sondern im Gegenteil wie guter Wein reift und ihre Besonderheit immer mehr entfaltet. Es schadet den Prosaminiaturen überhaupt nichts, sie zwei-, drei-, vier-, oder gar fünfmal zu lesen. Das spricht für ihre Qualität.
Prosaminiaturen lautet der Untertitel und wir haben es mit Kurzerzählungen zu tun, 14 Stück sind es. Die Texte von Eric Giebel zeichnen sich gerade durch ihre Mitmenschlichkeit aus. Es ist egal, welche Prosaminiatur man sich herausnimmt, in jeder wird den jeweiligen Protagonisten voll Mitgefühl und Respekt zugehört und zugesehen.
Ihr wart mir aufgefallen, gleich nachdem ich die Straßenbahn betreten hatte. Ein ungleiches Paar, dachte ich, unzertrennlich! […] Vielleicht wäre ich auch während der Fahrt stumm geblieben, doch sie redete englisch mit dir. Ihre Worte waren sorgsam gewählt und sanft in die Frühsonne gesetzt. […] Sie sprach für dich wie eine Mutter, die mit ihrem Kind viel Schlimmes durchgemacht hat und das Schweigen akzeptiert. […] Wir sind eben richtige Nachtmenschen, sagte sie, die einander gefunden haben und nicht mehr loslassen.
Der stumme Nachtmensch um den es hier geht ist tatsächlich ein Hund mit zottigem Fell. Ganz alltäglich scheint diese Begegnung mit einer Hundebesitzerin in einer Straßenbahn in einer deutschen Stadt, doch bei genauem Zuhören erweist sich das Schicksal der beiden als alles andere als alltäglich. In dieser Prosaminiatur wird erst mit der Zeit klar, dass es um einen Hund und keinen Menschen geht. Es gibt auch die umgekehrte Situation, in der nicht von einem Hund wie von einem Menschen gesprochen wird, sondern in dem eine Frau als Raubkatze gesehen wird. Zu Tieren werden können in den Prosaminiaturen aber nicht nur Menschen, sondern auch Schrift:
Das sieht ja lustig aus.
Was meinst du?
Na, wie deine kleine Schrift verläuft und ein Zoo daraus wird.
Ein Zoo?
Ja, sieh doch, Tiere rennen über das Papier, das hier ist ein Pferd, das eine Kuh, das ein Hund und das ein
Äffchen.
Hmm, vielleicht hast du recht … Aber wieso ein Zoo?
Na, du sperrst doch die Tiere in diesem Blatt Papier ein.
Du meinst, es wäre besser, sie freizulassen?
Sicher!
Aber sag, wie soll ich das machen?
Hör doch einfach auf zu schreiben und schenk mir das Äffchen.
Derjenige, der hier gerne das Äffchen geschenkt bekommen würde, ist das Kind Franklin, das bisher noch nicht lesen gelernt hat und daher einen ganz eigenen Blick auf die Handschrift des Ich-Erzählers hat. So wie der Ich-Erzähler hier das Kind als sein Gegenüber ernst nimmt und durch Nachfragen versucht, Franklins ungewohnte Sichtweise zu verstehen, gehen auch die anderen Prosaminiaturen auf ihre jeweiligen Protagonisten ein und vermitteln uns im Lesen so ein Gefühl dafür, was es heißt, Empathie und Anteilnahme zu leben.
In den Prosaminiaturen von Eric Giebel begegnen oder begleiten wir Menschen für einen Augenblick oder auch etwas länger. Selbst in der kürzesten Begegnung erhalten wir Einblick in das Leben und Innerste der jeweiligen Protagonisten. In den Prosaminiaturen werden Lebenslügen offenbart, Erinnerungen an längst Vergessenes werden wach und Kindheitstraumata nochmals durchlebt. Eric Giebel kann eines wirklich gut, was erstaunlicherweise nicht alle Schriftsteller können: sehr aufmerksam und geduldig zuhören.
Beim Straßenverkäufer holte ich mir eine Portion Weizentortillas mit Frijoles. Mein Körper stand auf rissigem Grund. Mit meiner Hand deckte ich die gleißende Sonne ab und blickte in den wolkenlosen Himmel. Ich fühlte mich leicht. Ein Windhauch hätte mich umwerfen können.
In vielen der Prosaminiaturen tauchen Tiere auf, die mit Menschen sprechen, oder Menschen, die mit Tieren sprechen. Beim Nachtmenschen handelt es sich noch um eine an sich gewöhnliche Begegnung mit einer Frau mit Hund in einer Straßenbahn. Es gibt aber auch Prosaminiaturen, in denen Tiere sich wie Menschen verhalten. So begegnen wir beispielsweise in einer Prosaminiatur einem sprechenden Vogel und in einer anderen einem Bier trinkenden und philosophierenden Orang-Utan. Wir haben es hier aber keineswegs mit Fabeln zu tun, wie der Klappentext betont. Die Tiere haben die Funktion, Entfremdung sichtbar zu machen:
Die Tiere stehen für die Menschen in ihrer Vielfalt, für ihre Probleme im Kontakt zu anderen Menschen und zu der sie umgebenden Natur.
Aber es geht in den Prosaminiaturen nicht nur um Probleme im Kontakt zu anderen Menschen, sondern auch um gelungene Kommunikation und Verständigung:
„Verstehe!“, sagte Liam, nachdem er Joshs Blick nicht ausgewichen war und also durch das Fenster in der Wand gesehen hatte, „kannst nix sagen, kannst deine Freude nicht zeigen. Aber das ist okay, ich seh sie auch so!“
Ebenso wie es in den Prosaminiaturen misslungene und gelungene Kommunikation gibt, gibt es auch gescheiterte und erfüllte Leben und Lebensentwürfe, die sich vor uns auf jeweils nur wenigen Seiten entfalten. Es gibt im Band sehr traurige Prosaminiaturen, wie die in welcher ein vom Elsternruf Geweckter erst allmählich rekonstruieren kann, woran ihn das Schackern der Elstern erinnert: An den Autounfall, den er selbst durch Übermüdung verursacht hatte und bei dem er Frau und Kinder verlor. Das letzte, was er vor dem Sekundenschlaf noch wahrgenommen hatte, war der warnende Ruf der Elstern gewesen.
Er versucht, seine Erinnerungen, seine Bilder zu ordnen. Aber er erkennt nur eine dauerhafte Überbelichtung, eine irreversible Beschädigung des Materials. Es kommt ihm so vor, als hätte ihm jemand in einem endlos langen Traum sein Gehäuse geöffnet, um etwas zu entfernen. Dabei muss Licht eingedrungen sein. Das Geschrei der Elstern erinnert ihn an etwas. Er muss nachdenken. Warte, Geduld, mir fällt es gleich wieder ein! Etwas schmerzt.
Und dann gibt es auch sehr positive Prosaminiaturen im Band, wie die von Shani, einer sehr starken Frau aus Kenia, welche aus einer Nomadenfamilie stammt und nach dem Studium in ihre Heimat zurück kehrt um im Kenianischen Nationalen Bibliotheksdienst tätig zu werden und mit einer Kamel-Karawane regelmäßig Bücher zu den Kindern in entlegene Dörfer zu bringen. Sie selbst hatte als Kind sehnsüchtig auf ebendiese Kamelbibliothek gewartet um ihrer Welt entfliehen zu können. Und nun möchte sie anderen Kindern damit eine Chance auf ein anderes Leben schenken, ihnen von der Gleichberechtigung der Buchstaben erzählen und als selbstbewusste und selbstbestimmte Frau die strengen Rollenbilder und Traditionen in ihrem Land etwas aufbrechen.
Die Sprache der Prosaminiaturen ist schlicht und zugleich unvermittelt immer wieder sehr poetisch, beispielsweise wenn Worte aus der Tiefe eines Lebens tropfen:
„Wie meinst du das?“ Sein Schweigen knistert in meinen Ohren. Er starrt ins Leere. Als ich mich schon abwenden will, tropfen unvermittelt wenige Worte aus der Tiefe seines Lebens auf den blanken Estrich.
Mit Eric Giebel haben wir einen Dichter vor uns, diese Tatsache wird besonders deutlich in der ersten Prosaminiatur, welche gleich zwei Haiku enthält. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet in dieser Prosaminiatur zwei Haiku vorkommen, da in ihr am Beginn mit Masaoka Shiki auch ein Haiku-Dichter als Figur vorkommt.
Junges Grün und Wind,
das Schattenspiel der Blätter:
satter Blick, schwebend.
Der Titel Hototogisu bezieht sich auf ebendiese erste Prosaminiatur, in welcher ein Hototogisu (ein japanischer Gackelkuckuck) der Protagonist ist. Es ist jedoch kein gewöhnlicher Kuckuck, sondern der „Zeitvogel“, der kurzerhand beschließt, die „Ost-West-Passage“ in Angriff zu nehmen und „ganz entgegen meiner genetischen Disposition“ von Asien nach Europa zu fliegen um das Land seiner Brüder kennen zu lernen. Auf dem Weg macht er Halt in der russischen Stadt Inta und bleibt dann dort ein halbes Menschenleben lang, bevor er weiterzieht um schließlich sein Ziel, den Auwald am Altrhein, zu erreichen.
Die Prosaminiaturen führen uns um die ganze Welt und in unterschiedliche Zeiten. Manche lassen Handlungsort und Zeit offen, andere verorten sich sehr exakt räumlich, beispielsweise in Tegucigalpa (Honduras), Warschau, das Dorf Maramtu (Kenia), oder Galway (Irland). Zeitlich einordnen lassen sich die Prosaminiaturen zum einen durch das Auftauchen historisch belegter Persönlichkeiten, wie Nikolaj Gogol, zum anderen durch die explizite Nennung von Jahreszahlen. Zwei der Prosaminiaturen behandeln konkret genannte historische Ereignisse und tun das auf die gleiche Weise und zwar indem wir auf das jeweilige Ereignis aus unterschiedlichen Perspektiven Beteiligter blicken. In der Prosaminiatur „Hecker, Struve, Robert Blum“ geht es um den Vorabend der Revolution im November 1918 in Darmstadt, als es fast zu blutigen Aufständen gekommen wäre. Hier blicken wir aus drei Perspektiven auf das Geschehen: der eines aufgeregten Kindes, das noch wenig vom Geschehen versteht, der eines blutdurstigen Soldaten, welcher aus dem Gefängnis befreit wird, und der eines Gewerkschaftsvertreters, der durch unermüdliche Gespräche und Reden die Soldaten zu besänftigen wusste. Hier bleiben wir noch nahezu in einer Zeitebene, Kind und Soldat berichten direkt vom Geschehen, während der Gewerkschaftsvertreter uns dann rückblickend erzählt, was er in der Nacht alles unternommen hatte um ein Blutvergießen zu verhindern.
In der Prosaminiatur “Das blonde Schaf“ geht es um das Warschauer Ghetto und die Freundschaft zweier Mädchen, einer Jüdin und einer Katholikin, die bis zur endgültigen Trennung der beiden Bestand hatte, welche für die eine den sicheren Tod in Treblinka bedeutete. Erzählt wird uns hier in vier Abschnitten aus den unterschiedlichen Perspektiven von vier Frauen aus drei Generationen. Und erzählt wird in dieser Prosaminiatur auch in verschiedenen Zeitebenen, also zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Der erste Abschnitt beginnt 2007 in Warschau mit der alten Witwe Olga, sie begegnet ihrer deutschen Nachbarin Anna, einer jungen Frau, die an diesem Tag von einem kleinen Mädchen begleitet wird. Das Kind erinnert Olga an ihre jüdische Jugendfreundin Martha, zu der sie bis zuletzt gehalten hatte, auch wenn sie ihr nicht helfen hatte können. Der nächste Abschnitt spielt ein Jahr zuvor in Darmstadt und ist aus der Sicht von Anna erzählt, die gerade dabei ist, nach Warschau aufzubrechen, wo sie ihre Doktorarbeit über das Warschauer Ghetto schreiben möchte. Der dritte Abschnitt erzählt dann aus der Sicht der 20jährigen Martha über ihre Ankunft in Treblinka 1942 und im Rückblick über ihr Leben in Warschau vor der Deportation und über ihre Freundschaft mit Olga. Im vierten und letzten Abschnitt finden wir uns dann im Jahr 2015 wieder und es wird nun aus der Sicht des Schulmädchens Klara erzählt. Auch Klara kennen wir bereits, denn sie ist das kleine Mädchen, das uns im ersten Abschnitt im Warschauer Stiegenhaus 2007 kurz begegnete. Klara ist nämlich das Patenkind von Anna und war deswegen während Annas mehrjährigem Aufenthalt in Warschau auf Besuch bei ihr. 2015 ist Klara nun zutiefst erschüttert, da sie in der Schule ein Gedicht über das Warschauer Ghetto gelesen haben und sie nicht versteht, wie Menschen so grausam sein können. Geschichte wird in dieser Prosaminiatur als etwas Vielschichtiges und Lebendiges erfahrbar, das nicht mit dem Tod Einzelner endet sondern immer weiter getragen wird von den Erinnerungen der Überlebenden und den Fragen der Nachgeborenen.
Schlagen wir das Buch zu und blicken wir zurück, so hat uns der Hototogisu aus der ersten Prosaminiatur sehr weit herumgeführt in ferne Länder und unterschiedliche Zeiten. Als Ganzes lese ich den Band Hototogisu von Eric Giebel als ein Plädoyer für mehr Mitmenschlichkeit und Mitgefühl. Eric Giebel möchte uns nicht belehren, aber dennoch lehrt er uns mit seinen Prosaminiaturen etwas sehr Wesentliches: zuzuhören.
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