steine unterm gleisbett
Zu sagen, es wäre der Band "Grenzwerte" von Max Czollek so etwas wie die lyrische Nachreichung zu "Desintegriert Euch!", ist nicht ganz richtig – nicht ganz. Denn wenn es Czolleks viel diskutierter Streitschrift aus 2018 vor allem um die diskursiv wirkmächtige Zurückweisung jener Identitäten ging, welche "Randgruppen" (in erster Linie: Jüdinnen und Juden) von der deutschen Mehrheitsgesellschaft "angeboten" (in erster Linie: umgehängt) werden, so geht es in dem Gedichtband, der soeben im Verlagshaus Berlin erschienen ist, um Geschichte/n, Orte und Figuren jüdischer Selbstverständigung im einundzwanzigsten Jahrhundert. Ein Identitätsdiskurs also, ja, aber nicht unter "Folklore" abzuheften, und zwar genau insofern nicht, als die Grundbedingung des Textsubjekts hier seine prinzipielle Fremdbestimmtheit, Fremdbestimmbarkeit ist.
Die acht Kapitel gehorchen unterschiedlichen formalen Vorgaben, rufen unterschiedliche Ordnungen von Referenzmaterial zur Sache auf, und evozieren unterschiedliche Stimmungen, bleiben aber in sich je stringent. Der Band als Ganzer mag, nebenbei, Komparatistinnen des frühen zweiundzwanzigsten Jahrhunderts einmal als x-tes Beispiel dafür dienen, wie die Ubiquität der Google- und Wikipedia-Maschine etwas daran verändert hat, auf welche Weise und wozu wir Gedichte lesen: denn selbstverständlich schreibt Czollek nicht in der Erwartung, dass wir die Mehrzahl der Einträge in diesen-seinen Gegen-Bildungskanon (oder doch: Bildungs-Gegenkanon) bereits parat haben. Vielmehr ist es gerade die mit einiger Schärfe vorgebrachte Setzung gerade dieses Kanons, um die es geht, und seine Rekonstruktion in Bezug auf die gesellschaftliche Gegenwart durch uns. Das sorgfältige Arrangement jener geschichtlichen, oder literarischen, oder theoretischen Spezifika einerseits und der klassisch lyrischen Natur- und Ich- und Körperrepertoires andererseits wird nirgends zur schlampig-bloßen Behauptung, nur, weil wir vielleicht mit aufgerufener Wikipedia-App in der linken Hand lesen.
Außerhalb der "normalen" Anordnung stehen, kopfüber und kursiv gesetzt, am Ende jedes Kapitels listenartig komponierte Reflexionen, in Form von Hauptsätzen, die meist zugleich als Kolportage alltäglicher Umstände und als Beschreibung von Verwandlungen gelesen werden können:
(…)
der zaun ist ein aufrechtes schachbrett
der zaun ist ein matheheft vor dem sitzenbleiben
der zaun ist ein abtropfsieb für große nudeln
(…)
Der letzte dieser (durch die Umkehrung der Leserichtung) "rückwärtsgewandten" Texte ist auch sozusagen "das letzte Wort", das der Band zu sprechen hat – und erscheint gleichzeitig, wenn wir das Buch so herum drehen, dass wir ihn lesen können, als Beginn "seiner" Reihe "letzter Wörter". An ihrem Ende wiederum stünde, als sozusagen wirklich echt letztes Wort, das verkehrte Schlussgedicht des ersten Kapitels, "zweite absichtserklärung", das in den Worten endet
es ginge (…)
(…)
um eine möglichkeit, über mich selbst zu sprechen
ohne sterne, mauern, milch, weimarmerke: es liegen noch immer genug steine im gleisbett
… und das beinhaltet zum einen das ganze poetische Programm des Bandes, und verknüpft es, im Umschlag vom Konjunktiv ("es ginge") zum Indikativ ("es liegen"), mit dem recht harschen Urteil über den Zustand der Welt, das ihm voran geht.
… zumindest erscheint dieses Urteil zunächst harsch … aber dann lesen wir, einen Tag nach dem Jom-Kippur-Attentat in Halle/Saale, was der Bundesvorsitzende der Polizeigewerkschaft dazu allen Ernstes raushaut, nämlich, man könne sich nicht neben Terrorbekämpfung gleichzeitig mit viel Personal um Rechtsextremisten kümmern … – und ja, doch: Es liegen noch genug Steine im Gleisbett, um den solchen und solchen Zügen reibungslose Fahrten zu garantieren.
… das andere Stück Text außerhalb der regulären Gliederungen, es steht wie ein Motto am Anfang:
dies ist kein konfessionelles gedicht
wie immer, wen jemand seine kamera
auf mich richtet, muss ich lachenwie wenn andere klatschen, klatsche ich auch
wie ich baue einen unterstand aus decken
und sage: hier wind wir sicherwie ich habe keine lust mehr
wenn ich dich jiddisch sprechen höre
eine kerze anzündenwie manchmal hoffe ich
du durchschaust meine einfachen lügenwie mein herz ist eine synagoge
wird tag und nacht bewacht
trotzdem brennt es abwie ein gedicht, das sagt: bitte gehen sie weiter
es gibt hier nichts für sie zu sehen.
– und jener vorletzte Absatz markiert Czolleks poetisches Verfahren, seinen Standpunkt und das potentiell Problematische dieses Gedichtbands vielleicht am Knappsten, alles auf Einmal: in der Bereitschaft des Verfassers, just aus dem Bestand der geschichtlichen Katastrophe die Metaphern und Abgleichsgrößen fürs emotionale Innenleben der Subjekte zu beziehen – als wären's Naturgedichte, und die brennende Synagoge einem, was weiß ich, Lawinenabgang gleich … die "Steine im Gleisbett" von eben, mit allem Ballast, sie erscheinen in einer poetischen Reihe mit Adalbert Stifters "Bunten Steinen" … Uns sagen diese Setzungen ca.:
Wildnis der Geschichte.
Kanon-Gegenbildung. Oder:
Gegenkanon-Bildung.
Fixpoetry 2019
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben