Vor dem Krieg
„Diese Stadt ist ein Gedicht, voller klarer Zeilen, dabei so irrational, als bestünde sie nur in der eigenen Fantasie. Der Anblick ist tatsächlich von berauschender Schönheit“, schreibt Guy Helminger am 29. Dezember 2008 über den Blick von der Dachterrasse seiner Unterkunft in der Altstadt von Sanaa. Ein Blick auf „Die Lehmbauten des Lichts“, wie sein nun bei Capybarabooks erschienener Band mit Aufzeichnungen und Fotos aus dem Jemen heißt.
Einen Monat lang, fast den gesamten Januar 2009, war der Kölner Autor Guy Helminger vor Ort, reiste umher, lernte die Menschen und ihren Alltag kennen, traf sich mit Schriftstellern und Schriftstellerinnen, beobachtete, fotografierte, dokumentierte, und man glaubt es ihm umgehend, wenn er anklingen lässt, dass Sanaa die schönste Stadt ist, die er je besucht hat.
Vor zehn Jahren galt der Jemen noch als Vorzeigedemokratie, doch das, so erfährt Helminger in der Hauptstadt, war schon damals Unsinn. Zwar ging es freier und demokratischer zu als in vielen anderen Ländern der Region. Doch die Demokratie war wackelig, Presse- und Meinungsfreiheit nur teilweise realisiert, die Korruption allgegenwärtig, und wenn Helminger zu oft durch den Sucher seiner Kamera linste oder sich mit Demonstrantinnen unterhielt, kam es vor, dass ihm Beamte der Staatssicherheit auf die Pelle rückten. Schon damals breiteten sich die Islamisten aus, es gab Anschläge und Entführungen – doch all das ließ kaum erahnen, was wenige Jahre später geschehen sollte.
Es gab einen Putsch, es folgte der Krieg, ein verheerender Krieg, der seit 2015 andauert und das Land in eine humanitäre Katastrophe gestürzt hat. Mit deutschen Panzern und deutschen Waffen, mit amerikanischer und britischer Unterstützung bombardiert Saudi-Arabien den Jemen, immer wieder schlagen auch Bomben in Sanaa ein. Teile der Altstadt, von der Helminger so schwärmt, liegen heute in Trümmern. Es ist einer jener Kriege, der die Zivilbevölkerung mit voller Wucht trifft, und von der die Welt kaum Notiz nimmt. Die Situation im Jemen ist ein Fanal für all das, was falsch läuft in der Welt.
Während man Helmingers Texte liest, die zwischen persönlicher Betrachtung, Journalismus und fast lyrischen Beschreibungen oszillieren, kommt man nicht umhin, sich zu fragen, wie viele der Menschen, mit denen er vor gerade mal zehn Jahren sprach, heute noch leben, wie viele von ihnen Angehörige verloren haben, flüchten mussten.
Dabei ist das Buch vor allem eine Einladung. Oder: Es könnte eine sein, unter anderen Umständen. Wie schon in seinem Iran-Buch „Die Allee der Zähne“ (2018) begegnet Helminger auch dem Jemen mit einer unverstellten Offenheit, versucht, sich vorurteilsfrei auf das einzulassen, was ihm begegnet. Die bittere Armut vieler Menschen stellt er ebenso dar wie die Offenheit, die ihm meist entgegengebracht wird, die Schönheit der Städte ebenso wie die Absurditäten von Bürokratie und Politik. Mit einem Iman unterhält er sich über die Ressentiments, die in Europa dem Islam gegenüber grassieren und über die einseitige Berichterstattung in den Massenmedien.
„Der Imam schüttelt ungläubig den Kopf. Der Zusammenprall der Kulturen sei ein Aufeinandertreffen von Ignoranz. Würden die Menschen mehr vom anderen wissen, anstatt sich zu fürchten, gäbe es weniger Probleme. Dann will er wissen, was er und seine Landsleute gegen dieses Bild seiner Heimat und seiner Religion im Westen machen könnten.
'Nichts', antworte ich.
Er nickt, schaut aus dem Fenster, bevor er antwortet: 'Ein trauriges Wort, das diesen Raum lange bewohnen wird.'“
„Reisen ist kein Urlaub“, stellt Helminger klar. Im besten Fall lasse es einen „zerschrammt zurück. Das Ich ist nie stärker als im Zustand der Veränderung. Denn nur, wer bei sich selbst ist, besitzt auch eine Basis für das Anderswerden.“ Wie wichtig der interkulturelle Dialog gerade in Zeiten ist, in denen die Veränderungsunwilligen, die Ewiggestrigen sich wieder in der Politik breitzumachen versuchen, das spricht aus jeder Zeile dieses Buches. Zum Reisen will es auffordern und zur Neugier. Davon brauchen wir heute mehr denn je.
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