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Kritik

Ein Mullah wartet auf den Bus

Guy Helminger unterwegs in Iran
Hamburg

Als der Kölner Schriftsteller Guy Helminger im Jahr 2007 einige Wochen in Iran verbringt hat er Stift und Kamera dabei. Letztere zückt er am vierten Tag, um einen Schlüsselmoment festzuhalten: An einer Bushaltestelle in der Teheraner Innenstadt begegnet er einem Mullah. Dem ersten seit seiner Ankunft.

Ihm zeigt sich ein Land, das so ganz anders ist als die Klischees der deutschen Medienblase: Mullahs, in Tschadors gehüllte Frauen, gegen die USA und Israel hetzende Islamisten und die Ausfälle des damaligen Staatspräsidenten Mahmoud Ahmadinejad. Von all dem begegnet ihm wenig auf seinen Streifzügen durch den reichen Norden und den armen Süden der iranischen Hauptstadt. An seiner Seite: Der Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan, dessen Bücher inzwischen auch auf Deutsch vorliegen. Auf Lesungen in Teheran und Isfahan lernt Helminger die Literaturszene kennen, unterwegs auf den Straßen, zu Fuß, im Taxi, in der Bahn, begegnet er den Menschen. Darunter auch dem Mullah, der nicht fotografiert werden möchte.

„Die Allee der Zähne. Aufzeichnungen und Fotos aus Iran“ heißt Helmingers Buch, unlängst bei Capybarabooks in Luxemburg erschienen. Es ist erstmals eine ausführliche Fassung von in Tagebuchform verfassten Texten und begleitenden Bildern, die er zum Teil vor elf Jahren bereits im Blog der Deutschen Welle veröffentlicht hat.

Die Klischees, die man so vom Hörensagen kennt, begegnen ihm so gut wie nicht. Im Gegenteil – Helminger demontiert sie, indem er ihnen seine Eindrücke gegenüberstellt. Aber neben der Gastfreundschaft, der Schönheit von Städten und Land, begegnen ihm durchaus Dinge, die nachdenklich machen. Ein Mann zum Beispiel, der auf ihn einredet und ihn bittet, über die Lage zu schreiben, über die als unerträglich empfundene Situation. Ihm begegnen Menschen, die in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, die zumindest halbwegs zu den abstrusen Regeln des Staates passt – Menschen, die erst offen sprechen, wenn sie unter sich sind. Ihm begegnen Gesetze, die scheinbar willkürlich mal sehr lasch, mal unerbittlich durchgesetzt werden, was eine Atmosphäre permanenter Unsicherheit schafft.

„Teheran ist nicht die Stadt aus märchenhaften Geschichten (…). Teheran ist auch nicht die Stadt, in der aufgebrachte Schiiten mit verzerrten Gesichtern im Namen ihres Gottes den Feind verfluchen, es sei denn, die Regierung hat eine Hundertschaft auf irgendeinen Platz bestellt und das staatliche Fernsehen verzichtet auf das Weitwinkelobjektiv, ansonsten würde man neben der Koran schwenkenden Ansammlung die Einwohner der Metropole sehen, die das Shoppen der religiösen Inszenierung vorziehen. Nein, Teheran hat viele Farben, freundliche Gesichter und verbohrte, Teheran ist verschlossen und offen, zugleich argwöhnisch und hilfsbereit, versteckt und unverhüllt.“

Offiziell ist Alkohol verboten, inoffiziell werden rauschende Partys gefeiert und ist jede private Hausbar stets gut gefüllt. Offiziell dürfen Männer und Frauen nur dann gemeinsam unterwegs sein, wenn sie verwandt oder verheiratet sind. Inoffiziell schlendern junge Paare händchenhaltend durch Parks, sobald die Polizei nicht in Sichtweite ist. Offiziell ist ausländisches Fernsehen verboten, inoffiziell steht auf jedem Dach eine Satellitenschüssel. Und so weiter. Wenn es ein Iran-Klischee gibt, das einigermaßen zutrifft, so der Eindruck in der „Allee der Zähne“, dann wohl, dass es sich um ein Land voller Widersprüche handelt, die in erster Linie aus der Diskrepanz zwischen pseudoreligiöser Gesetzgebung und realem Leben entstehen. 

Guy Helmingers literarische und fotografische Reise reiht sich dabei nicht in die aktuell hippe Welle der Iran-Reiseliteratur rund um Couchsurfing und Co ein, sondern zelebriert eher den neugierigen Blick des Dichters, der sich für die Untiefen des Alltäglichen interessiert.

Guy Helminger
Die Allee der Zähne / Aufzeichnungen und Fotos aus Iran
Capybarabooks
2018 · 132 Seiten · 17,00 Euro
ISBN:
978-9995943172

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