Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Mutter, wie sie Vögel in einem Wasserbecken versenkte

Hamburg

EIN HILFLOSES MONSTER

Werter Schlaf,
ich befinde mich auf den Fluren eines Gebäudes und habe ein kleines Monster auf den Armen, ich suche Professor Richard Tut. Da begegne ich meinem Freund Sasha Vlad, der mir sagt, wo ich den Professor finden kann. Ich gelange in ein Behandlungszimmer, DAS MONSTER IN MEINEN ARMEN BENÖTIGT ÄRZTLICHEN BEISTAND, der Professor empfiehlt, es zu internieren. Es folgt ein französischer Film.

Buchstäblich sorglos,
   Palev Jonas

Das ist aus Iulian Tanases unlängst erschienenem Band Abgrunde. Ein völlig surreales Ding, komisch, bunt, an den besten Stellen hilariös. Im letzten Drittel geht ihm ein wenig die Luft aus, dafür ist alles davor von einer kaum je dagewesenen Daseinsform. Ein Briefgedichtband vielleicht, mit aberwitzigen Protagonisten in einer Genesis-Rekonstruktion aus der Perspektive von Oneironauten mit Namen wie obiger Palev, Abgrunde, Anderjulius, Schneck Capone, Die genaue Schwester, Gellu Naum, Die halluzinogene Katze oder Otra Bruja. In die abgedrehten Texte, Briefe und Bemerkungen mischen sich erzspezialisierte Betrachtungen zu seltenen Sprachen, deren Bewunderung in dem Band selbst Nekrophilologie geheißen wird, Liebesgedichte an Abgrunde und Übersetzungen aus der Sprache Gut. Das Buch fächert sich aus und erfindet bis zum Schluss immer neue Themen, das dichte Maul hört nicht auf, Krilldetails zu beschreiben und abzulegen, vielleicht ist es an sich ein Traum, traumatisch. Jedenfalls regelmäßig grandios sind die brieflichen Grüße von Palev und Abgrunde:

Entgegenkommend mit der Möbius Schleife

Mit entstellter Stimme

Mit einem Schritt Grün und einem Schritt Karo

Mit spitzenbesetztem Blutdruck

Mit entspanntem Blick auf die literarischen Enklaven und Feingebäcke

Die Adern voller Blut

Mit krimineller Schläfrigkeit

Kaltblütig

Mit dem Vergessen zugeneigten Gedächtnis

In den grünen Zustand versunken

und so fort. In seinem Aufbau, dem freien Mäandern und Wiederholen von installierten Komplexen ähnelt Abgrunde den ebenfalls in der Brueterich Press erschienenen Pseudo von Martín Gambarotta oder Frank Witzels Grund unter Grund. Das Buch hat etwas nimmersattes, schäumendes, das gerne als Kamm auf demder vorgel too-much zu reiten scheint. In den Schneck Capone Episoden geht es um Schneckopotamien, ein Land, das die Währung Lahme führt, wie nicht anders zu erwarten, "alles nur für drei Lahme!". Der außerhalb Rumäniens noch nicht sehr bekannte Tanase ist von Ernest Wichner hervorragend übersetzt. Der Nuancenreichtum der Sprache, die Anspielungen und Namensspielereien sind hyperpräsent, es fehlt allerdings der Blick auf das rumänische Original zum Vergleich, jenes erschienen 2007 unter dem sprechenden Titel Abisa. Lange Stellen sind wie andere kontrastreich komponierte Arbeiten dieser Art von immanenter Melancholie durchzogen, sie schwingt mit. Abgrunde ist eine Innenschau.

[...] man konnte überhaupt nicht sehen, dass irgendwo an dir Blut austrat, und Tatsache ist, dass Abgrunde das nicht sehen konnte, obwohl ich blutete und alles um uns herum knallrot wurde. ES WAR, ALS WÄRE DAS OZEANWASSER IN BRAND GERATEN, UND DIE FISCHE BRANNTEN MIT EINER FEUCHTEN FLAMME. [...] warum lässt du mich sterben ICH WAR EIN MANN, DER AUF DEM GRUND DES OZEANS WEINTE.

Nach dem Balkanischen Alphabet bei Das Wunderhorn, in deren Rumänien-Ausgabe Gedichte von Tanase zu lesen waren, ist mit Abgrunde sein erste eigener Band auf Deutsch erhältlich. Es werden mit Sicherheit mehr folgen, Tanase ist interessant und verrückt.

Iulian Tanase
Abgrunde
Übersetzung:
Ernest Wichner
Brueterich Press
2018 · 138 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-945229-18-7

Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge