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Kritik

Wellentäler und -berge der Wahrscheinlichkeit

Hamburg

Mit John Burnside hat Jo Lendle einen Ko-Herausgeber an seiner Seite, der in verschiedenen literarischen Formaten schreibt, sich durch Geduld und Engagement, Präzision und Gespür auszeichnet. Das Thema Ordnung würde man nicht unbedingt mit ihm in Verbindung bringen. Oder doch? Es ist ein interessanter Grat, auch wenn das Verhältnis AutorInnen zu Autoren in dieser Ausgabe wieder Abbild einer archaischen Un-Ordnung sein dürfte (11 zu 4).

Im Thema stecken, anthropologisch gesehen, all things human. Das Wort als logos ist beides, die Unordnung und die Ordnung. Und in allen Kulturtechniken, von Wissenschaft bis Ideologie, gibt es ein Verhältnis zum, bzw. eine Perspektive auf das Phänomen Ordnung. Literatur weist ebenfalls ihren Standpunkt dazu aus: In der Werkposition, die sie vertritt. Bis auf wenige Ausnahmen, ist die Akzente 2/ 2018 wohlbesorgt worden, die Texte sind interessant hintereinander geschnitten, sodass sich die Verschiedenheit jener Positionen durch ihre Sprach- und Materialbehandlung oder implizite essayistische Auseinandersetzung mit dem Thema ablesen lässt.

In Lars Gustafssons Gedichten ist trotz des Werkalters immer noch Neugier und ein gewisser konstruktivistischer Hunger spürbar, (wohingegen die darauffolgenden Poeme Adam Zagajewskis eher von Saturiertheit und Vorspannung durchzogen sind und das Thema nur wohlwollend streifen). Gustafssons Etüden für eine alte Schreibmaschine haben etwas von einer Versuchsanordnung.

DES ABENDS

Man sollte am Abend, sagt Mr. B,
den vergangenen Tag analysieren
als wäre er ein Traum gewesen.

Kleines Insekt an der Scheibe,
verwechselt mit einem frei fliegenden Vogel
weit draußen in den Landschaften

erzeugt einen Eindruck
von jemandem, der sich
in schwindelerregendem Tempo bewegt.

Carne Ross schreibt eine Polemik auf die Ordnung als Diktat und Waffe derTyrannei wider eine von ihr ebenso erfunden-installierte Anarchie als Verkörperung des Chaos. Sie beginnt mit den harten ironischen Apodikta, "Alles unterliegt einer Ordnung. Nichts ist unerklärlich." Und der gleichzeitigen Feststellung, dass sich "die Gesellschaft langsam bewegt, unaufhaltsam in Richtung eines Krieges aller gegen alle. Der Anschein der Ordnung bricht [tatsächlich] auseinander." Der Traktat endet in tapferen und trotz ihrer Kürze fundiert-respektvollen Aufrufen zur Selbstermächtigung im Vertrauen auf die, allerdings nach wie vor kommode bis naive Position, der Mensch sei dem Kern nach sozial.

Daniel Kehlmann und sein fesselnder Essay Die Ordnung der Zahlen, führt wissenschaftliche Phänomene im Bereich der Modellblicke eines Micromégas-Schwenks an. Interessant und ökonomisch-zurückhaltend formuliert, erläutert er unter anderem den Komplex der Superposition, bei der Wahrscheinlichkeiten in das Reich der Fakten drängen, bis zu ihrer Übereinstimmung. Später die atomphysikalische Eddington-Paradoxie, die auf Basis von Atommodell und Sprache besagt, dass angesichts der gewaltigen Leerdistanz zwischen Atomkern und Elektronen, also einem Bereich, in dem buchstäblich nichts ist, der Tisch, der zweifelsfrei aus Materie/ Atomen besteht, eigentlich gar nicht da sein kann und sozusagen größtenteils Leere aufweist. Knapp skizziert Kehlmann die Tragik Georg Cantors, des Mengenlehreninnovators.

G. C., ein tiefreligiöser Mensch, hatte ursprünglich gemeint, dass man durch die Untersuchung der Unendlichkeit Gott näherkommen könne. Womöglich ist ihm das gelungen, aber wohl auf andere Art als erhofft, so dass er sich gegen Ende seines Lebens mit zerrüttetem Geist zurückzog und in einem Sanatorium starb, das man damals noch Irrenanstalt nannte.

Die Gedichte von W. S. Merwin sind ein direkt anschließender starker Cut. Knapp und rätselhaft.

EINE SENKE

Hier genau da lag er der Sommerwolf
hörte die Schafherden vorübereilen
wie Rattenzähne auf dem Pfad
hörte in den Stoppeln sie wie Regen
hörte aus den schmalen Knochen sie pissen
erlernte nach und nach den Ton jedes Kiefers
der auf dürren Halmen mahlte kannte jedes Husten
und mit jedem Räuspern jede Kehle

hier lag er inmitten von Wurzeln
wie Adern um ein Herz
und war der Sommerwolf
hier wo die Blätter nie den Wind verspürten
und mit ihrem gesamten Leben auf ihn lauschten
während er dalag wie das Finstere im Ohr
und im Lauschen den Stand des Mondes
am Klang der Brunnen erkannte

John Burnsides eigener Text ist eine frei fließende Schlafwandlerszenenfolge, die ihn selbst, unterwegs als Stoff, durch die Nacht/ Seiten trägt. Anregend und mit dem richtigen Timing erspürt er "die große Gemeinschaft der Schlaflosen." Später engagiert er sich, ähnlich wie zuvor Carne Ross, in Gedanken zur (anfälligen) Sehnsucht nach Ordnung:

Denn wollen wir Tradition, bekommen wir Konvention; wollen wir Sex, bekommen wir Pornografie; wollen wir Liebe, bekommen wir Valentinskarten; hoffen wir auf Ehre, bietet man uns Kompromisse; und sehnen wir uns nach bedeutungsvollen Ritualen, gibt man uns Kirche und Antidepressiva.

Auch Michael Pilz' Essay über Mendelejew, dem Erfinder des Periodensystems der Elemente, einer wahrhaften Urmutter der wirkenden Ordnungssysteme, ist lesenswert. Hatte doch Mendelejew diese Ordnung im Traum gefunden, sprich geträumt, also anti-cartesianisch zu ihr gefunden – das primäre Verschränkungsfeld der Pole von Ordnung in nuce. Er schließt mit einer Anekdote zum nicht vergebenen Elementenamen Lemmium, schade, nach Motörheads Basswumme, einem der letzten entdeckten Elemente im Periodensystem 2016, trotz Petitionen anders benannt.

Bevor das Heft qualitativ langsam zu sinken beginnt, bäumt es sich noch einmal auf, mit einem großen, langen Höhepunkt, der Erstübertragung eines völlig uneinordnenbaren Textes von Bengt Emil Johnson namens Streifzüge mit Hund. Hierin geht ein Ich mit "Fancy, Golden Retriever" durchs Gehölz und kaskadiert sich durch Fachwissen, von Vogelstimmenparaphrasierung bis Lykanthropie und Gedichtrezitation. Komisch, unheimlich, verspielt.

Wegen vieler gelungener Beiträge auch ein gelungenes Heft, die Akzente 2/ 2018.

John Burnside (Hg.) · Jo Lendle (Hg.)
Akzente 2 / 2018 Ordnung
Hanser Verlage
2018 · 96 Seiten · 9,60 Euro
ISBN:
978-3-446-25916-4

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