Literarische Anthropophagen im Hormonrausch
Gerannt und dabei falsch geatmet? Unangenehm, so etwas stoppt einen vehement mitten Lauf. Und so heißt eine Literaturzeitschrift? "Seitenstechen", in der Tat. Der Erlanger homunculus verlag beweist mit seinem jährlich erscheinenden, jeweils themenbezogenen Kompendium, dass dieses Phänomen auch Kunstmenschen zum Innehalten zwingt, sie dazu bringt, auch dem Abseitigem des literarischen Betriebs die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Nach den in den vorangegangenen Jahren erschienen Ausgaben "Seefahren macht besser" und "Dunkle Energie" haben wir es im aktuell dritten Anlauf mit "Menschenfresser[n] der Liebe" zu tun. Schon das Titelbild des rund 180 Seiten starken Taschenbuches, welches den abgeschlagenen Kopf von Johannes dem Täufer zeigt, der gerade zusammen mit einem gerupften Huhn auf einen Bratspieß gesteckt und von einer vom Winde verwehten Retro-Filmschönheit angeschmachtet wird, deutet an, wohin der fiktionale Ausflug gehen könnte: in die Gefilde der literarischen Verschränkung von Essen und Lieben.
Nur wird bereits beim Lesen des Klappentextes klar, dass die Leserschaft eine wilde Hatz durch die Jahrhunderte einerseits und die unterschiedlichsten Genres andererseits erwartet, geht doch die AutorInnenliste von Dante über Staden, Goethe und Kleist zum Schwerpunkt der heute Schreibenden (die Ausgabe fußt mehrheitlich auf den Einsendungen zu einer Ausschreibung im vergangenen Jahr). Und auch die Transformation der Eingangsphrase von "wir essen wie wir lieben" zu "wir essen, wen wir lieben" verspricht, durchaus augenzwinkernd, eine nicht ganz unblutige Literatour.
Grafisch hübsch aufbereitet sind die einzelnen Kapitel, die, kaum nimmt es Wunder, im Stile einer achtfältigen Speisenfolge von der Potage bis zum Dessert präsentiert werden: jeder Gang wird durch die herausgehobenen Umrisse des jeweils vorgesehenen Essbestecks auf einer gedeckten Tafel markiert. Die Gäbelchen, Messerchen und Löffelchen verschwinden nach und nach, bis zum Schluss dann Walter Benjamins "Frische Feigen", Armin Steigenbergers "kannibalische kirschen" oder Marina Büttners "Götterspeise" mit dem letzten Silber gereicht werden.
Insgesamt vierzig Schreibende haben zu "Menschenfresser der Liebe" beigetragen, davon achtundzwanzig lebende. Die zwölf verstorbenen Stimmen sind allesamt von Männern, unter den anderen sind nur sieben Frauen. Liegt es am Thema? Kaum, denn beispielsweise Lena Rubeys "dich jagen", ein Prosastück über das archaische Zur-Strecke-Bringen eines durch einen anderen Menschen vermittels Prankenhieb und Biss, dessen Quintessenz
"Liebe ist es, die mich antreibt. Nun verzehre ich mich nicht mehr nach dir. Nun verzehre ich dich."
Kleists Auszug aus der "Penthesilea" an Drastik im Prinzip in nichts nachsteht:
"...die Rüstung ihm vom Leibe reißend, / den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust./ [...] Als ich erschien / troff Blut von Mund und Händen ihr herab."
Und auch die vielfältigen anderen Unterströmungen und Deutungen der thematischen Vorgabe, die viel mit dem Spiel von Ebenen, gelegentlich auch dem Ineinanderfließen von Traum und Wirklichkeit, zu tun haben, nehmen die wenigen Frauen auf, die in der Ausgabe vertreten sind, so etwa Caroline Hartge in ihrem Gedicht "der dunklen schwester":
"immer schwieriger zu unterscheiden / gedächtnis, gedanke und gedicht"
Das Motto der Ausschreibung scheint also eher keine Begründung für die geringe Anzahl weiblicher Stimmen zu sein. Der reine Textumfang gar reduziert deren Anteil auf unter ein Zehntel, was auch daran liegt, dass die meisten dieser Beiträge Gedichte sind. Vielleicht lag es an der "männlichen Brille" der beiden Herausgeber? Oder schlicht an der Zahl der geschlechtsspezifischen Einreichungen? Die Leserschaft erfährt es nicht - auffallend bleibt es gleichwohl.
Immerhin sind die Kontrapunkte weiblich/männlich ähnlich behutsam gesetzt wie die der jeweiligen literarischen Herangehensweise. So nimmt etwa Sigune Schnabels Gedicht "Kindertage" die Motive juvenilen körperlichen und seelischen Weggesperrtseins wieder auf, die in Peter Paul Wiplingers unmittelbar vorangegangenem "kindergefängnis" anklingen, einem satzzeichenlosen Textfluss um die späte Empörung über die anhaltenden Versuche sogenannter Respektspersonen, kindliche Würde zu brechen. Schnabel geht insofern noch darüber hinaus, als sich ihr lyrisches Ich, anders als Wiplingers Protagonist, noch nicht einmal auf eine unbewachbare Imaginationsebene zurückziehen kann:
"Mutter wacht / über den Kerker meiner Träume. / Dreimal am Tag / klirrt sie mit den Schlüsseln. // Mittags schneidet sie / Verstand / mit dem Küchenmesser."
Morbides wie Christoph Eckers minutiös mit Ingwer, Knoblauch und Limettensaft zubereiteter weiblicher "Zitronenarm" kontrastiert mit Prosastücken wie Jonis Hartmanns "Tage im All", in dem die Wahrnehmung der Welt aus der femininen Mitsicht der Protagonistin als surrealer Kosmos erfolgt, welcher einer männlich-psychiatrischen Aufarbeitung zu bedürfen scheint. Auch in Dieter Schöneckers Gedicht "vor den speisen" erfährt die Leserschaft vom potenziell fraulichen Opfer:
"...wie diese frau am tisch. / wie: die unverborgene, die schönheit. wir: herzen, nierchen / frittiert. brodeln, wie: innerlichkeiten wie : ein verlangen nach: / verzehrt sein wie anchovies, in zucchiniblüten gehüllt: wie ein / wehrloses lamm..."
Da sind sie also, die Frauen. Nicht selten eher behandeltes Objekt als handelndes Subjekt. Dabei sind all diese männergemachten Texte ohne Frage von sprachlicher Schönheit und literarischer Relevanz. Das muss, zumal bei den einzelnen Autoren, noch nicht einmal etwas mit einer bestimmten Geisteshaltung zu tun haben. Aber der perspektivische Ansatz fällt auf, zumindest in der Kompilation der Herausgeber. Den entsprechenden Kommentar gibt Marlene Gölz dazu ab, wenn sie trocken anmerkt:
"dein Auge / auf meiner Stirn / meine Lippen / an deinen Ohren / deine Nase / in meinem Mund // so hab ich mir das / nicht / vorgestellt"
Von den modernen Beiträgen seien noch die eindringlich geschilderten universalen Durchwachsungen und Durchdringungen von Individuen, Innen- und Außenwelt im Spiegel der Liebe erwähnt, die Alke Stachler in ihren Gedichten verarbeitet:
"mein gedanke, dass / knochen sich in dir spreizen, mein gedanke ein fächer, dass / die kraft, die den planeten in sein eigenes inneres zieht, ge- / nauso dich. was wollen sein kann. was wiegen. was beute."
Und auch die intensive und wendungsreiche Kurzgeschichte "Staub und Strahlen" von Eugen Egner verdient eine besondere Erwähnung: als eine der wenigen modernen Beiträge verbindet sie einen ganz unverstellt erzählerischen Duktus mit den Elementen des Phantastischen, ja des literarischen Horrors.
Von der Geschlechterfrage abgesehen erscheint die literarische Mischung aus alt und neu, schwer und leicht, heiter und ernst, abstoßend und empathiefördernd und anderen leicht erkennbaren Dichotomien erstaunlich ausgewogen. Ein (auszugsweises) Wiederlesen mit Hans Stadens "Warhaftiger Historia" und die ihm zugeschriebenen Erlebnisse unter indigenen Kannibalen im Brasilien des 16. Jahrhunderts ermöglicht der Band ebenso wie eine ansatzweise performancehafte Gegenüberstellung des Hohelieds Salomos und den Klageliedern Jeremias, bissige Appetithäppchen aus dem Kamasutra oder der deftig das männliche Glied abfeiernden Einlassungen des Sheik Nefzawi aus dem Nordafrika des frühen 15. Jahrhunderts. Das alles verschmilzt mit den Texten der Jetztzeit zu einem offenbar immer jungen und aktuellen Themenkomplex, dem sich die Leserschaft mit neugierigem Interesse nähern kann.
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Mit Texten von Dante Alighieri, Giambattista Basile, Walter Benjamin, Simon Bethge, William Blake, Timo Brandt, Marina Büttner, Crauss, Christopher Ecker, Eugen Egner, Johann Wolfgang Goethe, Marlene Gölz, Julia Grinberg, Caroline Hartge, Jonis Hartmann, Stefan Heyer, Lasse Jürgensen, Harald Kappel, Manfred Kern, Bastian Kienitz, Heinrich von Kleist, Ulrich Koch, Gorch Maltzen, Sheik Nefzawi, Immanuel Reinschlüssel, Lena Rubey, Sigune Schnabel, Dieter Schönecker, Eckard Sinzig, Jan Snela, Michael Spyra, Alke Stachler, Hans Staden, Armin Steigenberger, Jonathan Swift, Ludwig Uhland, Vātsyāyana, Peter Paul Wiplinger, Peter Zemla.
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