Kärntner Ecke Ring
Architektur ist ein Thema, das kaum jemanden kalt lässt. Wohl nicht wenige Zeitgenossen haben sich bei ihren Wegen durch die Stadt schon einmal gesagt, dass dieser oder jener „Schandfleck“ abgerissen oder gar in die Luft gesprengt gehört. Selbst zum Dynamit zu greifen, kommt freilich den wenigsten in den Sinn. Hingegen ist eine der Hauptfiguren aus Paul Auers Debütroman „Kärntner Ecke Ring“, der Exzentriker Ludwig Bilinski, wild entschlossen, sein geliebtes Wien zurück in die städtebauliche Vollendung der Kaiserzeit zu bomben – dass dabei auch das Hotel Intercontinental, um dessen Neubau am Heumarkt gerade heftig gestritten worden ist, in Trümmer fallen soll, versteht sich von selbst. Um die Bevölkerung auf das Zerstörungsfanal vorzubereiten, leistet Bilinski unter Pseudonym mediale Wühlarbeit als gefürchteter Leserbriefschreiber „Franz Bierheber“. Er überlässt nichts dem Zufall, und doch geschieht es, dass er unversehens auf den ehemaligen Neonazi Norbert trifft, einen jungen Mann, der von zu Hause weggelaufen ist und sich in Drogen, Sex und Alkohol verliert.
Gegen reichlich Lohn bittet Bilinski den klammen Norbert in die „Opera Toilet Vienna“. Dort muss der Stricher ihm nicht nur sexuell zu Diensten sein, sondern auch ein Gedicht aufsagen, in dem das verkommene Wien als „alte, kalte Hure“ und als „mürbes Goderl dieser Welt“ beschreiben wird. Seine emotionalen Bedürfnisse wiederum treiben Bilinski wöchentlich in einen Zeitschriftenladen, wo er sich mit „Frau Tamara“ unterhält, einer Verkäuferin, zu deren „weiblichen, so selten gewordenen Rundungen“ er sich hingezogen fühlt. Dass diese Tamara Norberts Mutter ist, weiß Bilinski nicht.
Ein derart kompliziertes Setting erfordert Mut. Paul Auer bringt ihn auf und probiert beherzt Verschiedenstes aus, zum Beispiel bedient er sich im Bezug auf Bilinski eines genialen Tricks: Um die übergroße emotionale Distanz, die der Exzentriker zu sich selbst hat, darzustellen, lässt er Bilinski einen Bericht über das Geschehene schreiben und sich selbst dabei siezen. Weil diese Perspektive so ungewöhnlich ist, dauert es, bis man sich eingelesen hat. Nicht immer einfach nachzuvollziehen, sind auch die ständigen Sprünge, die durch die teils sehr kurzen Kapitel entstehen, denn nicht nur Bilinski und Norbert kommen zu Wort, sondern auch Tamara und ein „Einbeiniger“, der den Drogensüchtigen vorübergehend beherbergt. Jener Einbeinige wiederum ist ein großer Fan von Norberts Vater, einem genialen Gitarrenmusiker, der bereits im Jenseits weilt.
Auf gerade einmal 190 Seiten tummeln sich also eine ganze Menge Figuren, und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass nicht alle so nachdrücklich im Gedächtnis bleiben wie Norbert und Bilinski. Diesen beiden gibt Auer viel Raum und erreicht dadurch eine psychologische Tiefe, die die eigenartige, nicht nur sexuelle Anziehung, die zwischen ihnen besteht, nachvollziehbar macht. Bilinskis apokalyptischer Wahn und Norberts rücksichtsloser Freiheitsdrang speisen sich vielleicht aus gleicher Quelle, aus ihrem kompromisslosen Verlangen nach Vollkommenheit, nach Reinheit. Dafür, dass es Vollkommenheit nur in der Vorstellung geben kann, findet Paul Auer gegen Ende des Buches ein schönes Bild: Bilinski führt Norbert auf seinen Dachboden, wo er ein Modell der Wiener Innenstadt hat nachbilden lassen, selbstverständlich ohne das Hotel Intercontinental oder den Wohnpark in Favoriten. Vor diesem Ideal aus Holz und Pappmaché finden die beiden kurzen Frieden. Dann muss Norbert wieder hinaus auf die kalte Straße, wo sein drogenvernebeltes Gehirn eine Art sprachlichen Amoklauf produziert:
Dröhnende Bomber, tausend Stock abwärts, Messer im Rücken, Spinnen im Haar, bloß nicht umdrehen.
Bilinski hingegen bedient sich des lateinischen Wahlspruchs Kaiser Franz Josefs, um die Zünder scharf zu machen und
dieser Stadt und diesem Land, ja dem ganzen Kontinent die entscheidende Wendung zu bringen, die ersehnte Erlösung, den Schritt in ein goldenes Zeitalter.
Trotz des verbalen Imponiergehabes Bilinskis, trotz der kurzen, harten Sätze Norberts wird gegen Ende die Zerbrechlichkeit der Hauptfiguren sichtbar, ihre Sehnsucht nach menschlicher Nähe, die ihren Hang zur Selbstzerstörung aushebeln könnte.
„Das nächste Mal bitte viel dicker!“, soll diesem jungen Autor hier zugerufen werden. Wenn Paul Auer bei seinem kommenden Werk ein wenig Rasanz aus der Handlung nimmt und dafür den Figuren mehr Raum gibt, wird ihm gewiss ein großartiger Text gelingen.
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