Madame ist ein Sturkopf
Giorgina Reid ist nicht gerade das, was man sich unter einer klassischen Comicheldin vorstellt. Die ehemalige Designerin ist bereits im Rentenalter, als sie das Projekt ihres Lebens in Angriff nimmt: Mit Hilfe einer ausgeklügelten Terrassentechnik gelingt es ihr, zuerst ihr Haus vor Meeresgewalt und Erosion zu schützen, schließlich den historischen Leuchtturm von Montauk. Mit Hilfe anderer setzt sie sich erfolgreich gegen das Abrissvorhaben der Behörden durch und arbeitet 15 Jahre lang unermüdlich an ihrem Werk. 1985 ist der Leuchtturm offiziell gerettet.
In den Augen der Illustratorin und Comic-Autorin Pénélope Bagieu verdient diese Frau, die sich nicht davor scheute, sich die Hände dreckig zu machen, ganz klar mehr Aufmerksamkeit. Und so widmet sie Reid eine ihrer wenige Seiten kurzen, aber liebevoll aufbereiteten und gründlich recherchierten Comic-Biographien. Insgesamt 15 spannende und verblüffende Geschichten von „revolutionären Frauen der Weltgeschichte“ sind in Unerschrocken versammelt.
Graphic Novels von oder über Frauen muss man in der gut sortierten Buchhandlung zum Glück nicht mehr mit der Lupe suchen. Wenn Alison Bechdel, Marjane Satrapi oder Rutu Modan die weiblichen Pionierinnen der autobiographischen Graphic Novel sind, dann ist Bagieu so etwas wie eine Alice Munro ihres Gebiets: eine Meisterin der bio-graphischen Kurzform. Die 1982 geborene Französin, in ihrem Land bekannt durch ihren Blog Ma vie est tout à fait fascinante und den Comic Joséphine, hat offensichtlich eine Vorliebe für ungewöhnliche Frauenfiguren. Und für feministische Geschichtsschreibung: 2017 erschien der vom Collectif Georgette Sand herausgegebene Band Ni vues ni connues, das „unsichtbar gemachten“ Frauen der Geschichte eine Stimme gibt. Bagieu schrieb das Nachwort.
In ihrem ersten Porträtband „außergewöhnlicher Frauen“ (Übersetzung aus dem Französischen: Heike Drescher & Claudia Sandberg, Hand Lettering: Olav Korth) folgt sie keiner chronologischen oder geographischen Reihenfolge, ergo wirkt die Zusammenstellung der Lebensläufe ziemlich beliebig. Der Lesefreude tut das allerdings keinen Abbruch, denn Bagieus graphisch-narratives Gesamtkonzept ist von der ersten Seite an einnehmend. Was das Buch auf der Inhaltsebene so besonders macht: Regentinnen, Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen jeglicher sozialer Herkunft und Hautfarbe stehen hier gleichberechtigt neben Frauen, die vergleichbar bescheidene Erfolge hatten, aber kein bisschen weniger inspirierend und mutig waren.
Im Vergleich zu den meisten Kurzbiographien, die in Frankreich zuerst als Blogbeiträge erschienen, nimmt sich Reids Geschichte allerdings geradezu harmlos aus. Nehmen wir etwa die Gynäkologin Agnodike: Sie musste in Ägypten Medizin studieren, weil Frauen im antiken Athen nicht den Arztberuf ausüben durften. Also griff sie – wie so viele Frauen nach ihr – zu einer List und verkleidete sich kurzerhand als Mann. Erfolg und Beliebtheit bei den Athenerinnen stellten sich bald ein, doch auch die Rache der hintergangenen Ärzte ließ nicht lange auf sich warten: Nur dank ihrer treuen Patientinnen, die auf die Barrikaden gingen, entging Agnodike der Todesstrafe.
Wer von ihr noch nie zuvor gehört hat, befindet sich in guter Gesellschaft; auch die meisten anderen Namen dürften vielen erst einmal nichts sagen. Umso spannender ist es zu erfahren, wie prägend die Errungenschaften so vieler unbesungener Rebellinnen für unseren heutigen Alltag sind. So lernt man zum Beispiel, dass es der Todestag der Geschwister Mirabal ist, an dem seit bald 20 Jahren weltweit der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen begangen wird. Die „Mariposas“ waren am Putschversuch gegen den dominikanischen Diktators Trujillo beteiligt und mussten dafür schließlich mit dem Leben bezahlen. Kaum bekannt ist auch der Name der Annette Kellerman, ein Hansdampf in allen Gassen, die als professionelle Schwimmerin und pragmatischer Mensch „mal eben“ den einteiligen Badeanzug erfunden und die Frau aus ihrem metaphorischen Schwimm-Korsett befreit hat.
Manchmal ist es schon das Bekenntnis zum Frausein, das großen Mut erfordert: Christine Jorgensen etwa erlangte als erste Transgender-Person in den Staaten mediale Bekanntheit und nutze diese dafür, die Bevölkerung selbstbewusst über Transidentitäten aufzuklären. Frauen wie Josephine Baker oder Tove Jansson sind zwar weltbekannt, werden allerdings allzu oft reduziert auf ihre „Markenzeichen“. Bagieu macht die vielschichtigen Persönlichkeiten sichtbar, die hinter dem Bananenröckchen und den Mumins stecken. So engagierte sich Baker gegen Rassismus und wurde für ihren Einsatz in Résistance und Geheimdienst nach Ende des Zweiten Weltkriegs ausgezeichnet. Jansson wiederum setzte sich als junge Künstlerin an männlich dominierten Kunstakademien durch, zeichnete in den Kriegsjahren politische Karikaturen, und setzte sich mit Erfolg gegen die Disneyfizierung ihrer Mumins-Geschichten zur Wehr.
Bagieus Begeisterung für ihre Protagonistinnen ist nicht nur auf jeder Seite spürbar, sie ist vor allem ansteckend. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie viel Spaß die Künstlerin dabei gehabt haben muss, ihre Heldinnen auf dem Papier zum Leben zu erwecken. Das macht sie mit zeichnerischem Fingerspitzengefühl und Humor, verpasst den Figuren mal gelbe Augen, mal eine grüne oder blaue Hautfarbe. Immer wieder sind einzelne der aufs Wesentliche reduzierten Panels auch ganz in Schwarz-Weiß gehalten. Freche Dialoge und eine lebendige Gestik und Mimik machen die im doppelten Sinne gezeichneten Frauen nahbar und ihre Kämpfe nachvollziehbar - blaue Haut hin oder her.
Der kindlich-naive Charme ihres Zeichenstils steht oft in krassem Kontrast zu den herben Schicksalen der Protagonistinnen, wegleugnen lässt sich das nicht. Allzu viel schwere Kost mutet die Cartoonistin ihren Lesern nicht zu – wahrscheinlich, weil sie gerade die Erfolgsmomente hervorheben will, die es ja trotz aller Widrigkeiten in jeder Lebensgeschichte gab. Entsprechend flott sind die Stories erzählt, und besonderen Spaß machen die oft herrlich sarkastischen Sprüche, die Bagieu ihren Heldinnen in den Mund legt. So lässt sich der Band locker an einem Nachmittag auslesen. Länger verweilen möchte man allerdings bei den doppelseitigen Farbbildern, die zum Abschluss jedes Kapitels einen Moment im Leben der Frauen einfangen und ein echtes optisches Schmankerl sind.
Für die junge Französin ist klar: Frauen können alles sein, wenn sie nur wollen. Daher lässt sie neben Heilerinnen und Friedensaktivistinnen auch Frauen wie Margaret Hamilton auftreten, die Darstellerin der bösen Hexe des Westens im Zauberer von Oz, die „Generationen von Kindern traumatisiert“ hat und vom amerikanischen Filminstitut sogar zur viertbösesten Figur der Filmgeschichte gewählt wurde. Oder die chinesische Kaiserin Wu Zetian, berühmt-berüchtigt für ihre grausame Ader, weniger bekannt für ihre Verdienste im Kampf gegen Korruption und für die Rechte von Minderheiten. Mutige und eigensinnige Frauen müssen nicht in jeder Hinsicht Vorbildfunktion haben.
Bagieus Beitrag zur Sichtbarmachung willensstarker und kreativer Frauen bereitet jedenfalls visuelles und intellektuelles Vergnügen, und wer nach der Lektüre von Unerschrocken Lust auf mehr hat: Teil II ist in deutscher Übersetzung mittlerweile auch im Buchhandel erhältlich. Man darf also gespannt sein auf weitere Geschichten von frechen Frauen, die die Hosen anhaben. Und von unerschrockenen Rockträgerinnen.
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