„Berlin Hamlet Gedichte“
„Berlin Hamlet“ ist ein wunderbarer Gedichtband. Und es ist ein grausamer Gedichtband, den Heike Flemming aus den zwei letzten und vielleicht bedeutendsten Gedichtbänden Szilárd Borbélys, des großen ungarischen Dichters, der weiten Teilen des europäischen Publikums erst durch seinen posthum publizierten Roman „Die Mittellosen“ bekannt geworden ist, zusammengestellt hat.
Als die Gedichtbände „Berlin Hamlet“ und „Leichenprunk“, aus denen Heike Flemming ihre Auswahl getroffen hat, entstanden, hatte Borbély eine grausame Tragödie erlebt. In der Nacht von Heiligabend auf den ersten Weihnachtstag wurde seine Mutter bei einem Raubüberfall mit einer Axt erschlagen, der Vater überlebte schwer verletzt. Er starb sechs Jahre später in der Psychiatrie. Die Verdächtigen, vier Männer aus dem Dorf, in dem die Eltern lebten, wurden aufgrund schlampiger Ermittlungen aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Borbély, der ursprünglich nicht über dieses zutiefst traumatische und demütigende Ereignis schreiben wollte, beschäftigte sich bei seiner Arbeit als Literaturhistoriker mit der Frage, wie man die Geschichte von Psyche und Eros zeitgerecht erzählen könnte. Eng verbunden wollte Borbély Wege finden, wie sich Jesus Drama gegenwärtig vermitteln ließe. Auf diese Weise fand er eher zufällig Zugang zu einer Form, mit der sich die Tragödie poetisch verarbeiten ließ:
„Ich suchte die Sprache, die die Tradition dafür bot. Das eigene Ich in Klammern zu setzen hatte eine befreiende Wirkung, die Lektüre der barocken und mittelalterlichen Texte machte den Weg frei für die Kontemplation zuvor nicht erahnter Tiefen.“
Als Szilárd Borbély Berlin Hamlet schrieb, hatte sich das Verbrechen längst in seine Gedanken eingebrannt.
Zwischen Toten und Lebenden sucht Borbély in diesem Band in einem Labyrinth der Stimmen Orientierung:
„Denn man erwartet von den Toten, dass sie den Weg
über den Abgrund des Alltags kennen […]“
Aber diese Erwartung wird enttäuscht. Stattdessen steigt Borbély immer weiter in die Abgründe hinab. Die Gedichte verschränken das scheinbar Getrennte. Kafka, Benjamin und Hamlet, aber auch die Geschichte der Stadt Berlin, später das Christentum und Judentum, immerzu tritt vermeintlich Disparates miteinander in einen Dialog.
„[…] Ich habe das Gefühl, es gibt Tage
die sich weiten. Wachsende
Tiefe jeder Augenblick, dersie in sich bewahrt. Alles
nimmt in etwas anderem Platz,
das jenes dann besitzt. Das eine Wort
das andere. Und ein Begriffdas Wort. Was ich Leere nannte,
ist auch Teil von etwas. Vielleicht
von unserem Gespräch, das seitdem
irgendwie weitergeht. Glaube ich.“
Für dieses Nichts, das Teil eines Gespräches ist, mit den Toten, mit dem Leser, mit dem Leben und seiner Fragilität an sich, hat Borbély in „Berlin Hamlet“ eine Form gefunden. Dabei besticht nicht zuletzt die Vielfalt, der immer wieder wechselnden Formen der Gedichte. Mal folgen sie einem formstrengen Aufbau, ein anderes Mal sind sie sehr nah an der Prosa. Von der barocken bis zur gegenwärtigen Gestaltung schöpft Borbély, um herauszufinden aus dem Labyrinth von Gewalt und Sinnlosigkeit.
Dabei schlüpft er wie im Barockgedicht in unterschiedliche Rollen. Einmal schreibt er Kafkas Briefe an Felice fort, dann flaniert er mit Walter Benjamin durch Berlin, ein anderes Mal mischt sich Hamlets Stimme unter die Gedanken desjenigen, die das wiedervereinte Berlin samt seiner Narben sehr genau betrachtet.
Über die Wannseekonferenz schreibt er bedrückend nüchterne Verse:
„Fünfzehn Männer unterhielten sich am zwanzigsten Januar
Neunzehnhundertzweiundvierzig in einer der Villen am Großen Wannsee
im Dunst von bitterem Zigarettenrauch und starkem Cognac.
Der herbe Geruch erinnerte gar nicht an Blut.Und bald gehen bei der Erfurter Firma Topf & Söhne
Unerwartete Bestellungen ein. Da aber fragte schon
keiner mehr, wo ist der verrückte preußische Beamte?
Und wohin verschwand das Blau aus Henriette Vogels Augen?“
Die Gedichte sind ein Drahtseilakt des Lebens, das immer gefährdet am seidenen Faden hängt.
„Ich glaube nicht an Dichtung […]“, zitiert Heike Flemming Szilárd Borbély in ihrem kundigen Nachwort, „Meine Poetik ist, falls ich eine habe, die Gereiztheit; Geister und Taugenichtse im Gespräch. Ein wirres Gemisch aus Rätsel und Stumpfsinn. Das wird mein Verhängnis. Ohne sie könnte ich nicht einmal mehr lügen.“
Egal, ob Borbély in Kafkas Schuhe schlüpft, Hamlets Einmischungen folgt, oder die Beobachtung einer Prostituierten in Moabit mit Erinnerungen an die kindliche Vorfreude auf Weihnachten und die Erscheinung von Engeln in Verbindung bringt, am Ende läuft alles auf Leere und Nichts hinaus.
„Denn die Sprache ist wie die Nacht. Feuchtes,
unergründliches Geräusch. Pures Grauen und
formloses Geschrei der Eingeweide. Unmenschlich.“
Das subtile und immer folgerichtige Verweben unterschiedlicher Epochen, bereits in Berlin Hamlet konstitutiv, erfährt in „Leichenprunk“ eine zusätzliche Dimension.
Der Epilog ist ein Prolog der Schmerzen und insofern ein unübertrefflich gelungener Übergang zum nächsten Kapitel „Leichenprunk“.
„Eine offene Kiste ist Gottes Sein, voller
Spielzeug. Zuweilen sitzen Kinder um sie herum,
wühlen in ihr. Jedes Spiel ist ein
Rätsel. Gott sitzt unter ihnen und
beobachtet sie. Er ist selbst ein Kind, das
in ihr wühlt. Wenn er etwas findet,
freut er sich darüber. Er wendet es in seinen kleinen
Händen hin und her. Dann wirft er es zurück.“
„Leichenprunk“ beginnt mit der Verwandlung der überlieferten Erzählung der Auferstehung in das Gewahrwerden des eigenen Todes. An die Stelle der Verheißung auf ein ewiges Leben tritt die Bestätigung der eigenen Sterblichkeit.
Formal werden die Gedichte strenger, bedienen sich häufiger barocker Formen. Die klare harmonische Komposition scheint im Gegensatz zum trostlosen Inhalt zu stehen:
„[…] wir haben nichts mit unserem Tod zu tun […]“
„Die Ewigkeit ist kurz
wie das Leben,
bis du es erzählt hast,
ist es gewesen.“
Inhaltlich wird erst der Tod, dann die Tat1 und zuletzt die Täter behandelt. Zugleich und über allem liegt die Negierung, zumindest aber bittere Infragestellung von Recht und Gerechtigkeit.
Zuweilen sind die Gedichte sehr konkret, Details werden schmerzhaft real eingeflochten. Bevor alles mit mythischen Gestalten gekreuzt wird, ohne dass irgendetwas dadurch erträglicher würde.
„[…] Durstig versammelten sich
die Schatten um ihn. Den ganzen Tag lang hörten sie ihm
nur zu. Warteten am Rand der geöffneten Augen. Am weißensteinigen Hang kam eine Schafherde herab. Wie
der Großmütter ausgelassener Dutt am Abend. Oderwie Zähne, die weißer und härter sind als
Knochen. Wie die drängelnden Seelen um den Mund.“
Jesu Tod und der Mord an der Mutter werden verschränkt wie zuvor Hamlet, Benjamin und Kafka in Berlin.
Im zweiten Buch treten Amor und Psyche an die Stelle der beiden Opfer. Nahezu lakonisch kommen die Gedichte immer wieder auf die Sinnlosigkeit roher Gewalt zurück, es gibt weder Erlösung noch Gerechtigkeit.
„Denn im Körper leben ist der Tod“
Am grausamsten ist, wenn der Sprache nicht nur Berechtigung, sondern darüber hinaus ihre Wirkmacht abgesprochen wird. Die Menschlichkeit schlechthin. (und grausam ist es, weil es so viele Beispiele dafür gibt, dass es wahr ist). Dann gibt es nur die sprachlose Welt der Götter (oder der rohen Gewalt).
„[…] nur die Taten
gibt es: die rohe Gewalt und zügellose Gnaden-
losigkeit. Und auch Wörter gibt es keine
für die Gnade […]“
Im dritten Buch, den „Chassidischen Sequenzen“, lässt Borbély die jüdische Tradition mit der christlichen in einen Dialog treten. So wie er den Dialog anordnet, spiegelt sich darin auch die Dichotomie von Körper und Seele, Amor und Psyche, Täter und Opfer. Und allen Gedichten liegt die Unbegreiflichkeit von Tod und Liebe zugrunde.
In „Nebenstränge eines Verbrechens“ setzt sich Borbély noch einmal in essayistischer Form mit dem Verbrechen und dem folgenlosen Prozess auseinander. Selbst hier bedient er sich des Dialogs, der Spiegelung, denn seine Gedanken und Überlegungen werden stets mit einem Zitat eingeleitet. Neben Bibelzitaten sind es Zitate bedeutender ungarischer Dichter.2 Einmal bedient er sich eines Satzes aus den Vernehmungsprotokollen.
Angesichts der Obduktion seiner Mutter schreibt Borbély:
„Die gleichmütige, um genaue Feststellung sich bemühende Stille der Bedeutung drängelte sich an die Stelle der Liebe.“
Dass die Beschäftigung mit dem Mord, mit den Polizeiakten und dem Verfahren teilweise so unerträglich zu lesen sind, liegt weder an der Sprache noch an der schwer erträglichen Tat. Es ist etwas anderes. Vielleicht diese obsessive, sich selbst nicht schonende Beschäftigung mit Details, die doch keinen Sinn ergeben. Vielleicht dieser sehr gründlich vorgeführte und durchexerzierte Verlust eines Sinns des Todes, von dem Heike Flemming im Nachwort schreibt.
Es ist ganz sicher die Gewalt, die sich Borbély selbst antut, indem er diese Akten nicht nur liest, sondern sich akribisch, wieder und wieder, mit ihnen auseinandersetzt. Diese verzweifelte und von vorherein zum Scheitern verurteilte Suche ist das, was diese Seiten so schwer erträglich macht. Und es ist gleichzeitig das, worauf die große Leistung Szilárd Borbélys beruht.
Die große Leistung, die über eine, ohnehin unmögliche, Verarbeitung der persönlichen Tragödie hinausgeht, ist der gelungene Versuch, alte vergessene Textarten für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Eine Form zu finden, um über Unerträgliches zu schreiben, das Spiel mit alten Formen längst verloren geglaubtes Wissen freisetzen zu lassen. Und so, aus der Distanz, doch noch Worte für das Unsagbare zu finden:
„Doch vom Leiden kann man nicht erzählen. Wer leidet, hat keine Worte.“
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