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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Sinn und Form | 69. Jahr, Heft I / 2017

Hamburg

Diese Zeitschrift hat es immer noch schwer. Was da alles für Lichter angehen, sobald der Name fällt, wie ein Weihnachtsbaum in einem Marxloher Wohnblock-Fenster blinkt das in allen Farben. Viele alte und viele neue Einwände werden hochgezogen.

Die Liebe zur jüngeren Vergangenheit durchzieht die Hefte, das ist an sich keine Schande. Wäre da nicht gelegentlich die allzu großzügig gepflegte Hoffnung, dass sich in Tagebüchern oder Erzählungen niedergelegter Tratsch durch das Mirakel des Ablebens der Protagonisten unmittelbar in literaturhistorische Quellen verwandelt hätten, so könnte man ganz unvorsichtig mit der Hoffnung drauflos lesen, dabei einiges über Seiten des Schreibens zu lernen, die eine so alte Zeitung - Neun und Sechzigster Jahrgang - eben kennt.

Den Anfang macht der letztes Jahr verstorbene Yves Bonnefoy, ein in seiner Art großer Lyriker, der in einem letzten Gedicht, das noch dazu als solches geschrieben wurde, Lebens-Bilanz zieht. Ein Rundum - Gedicht, was ja selten ist, eines, das sich vermutlich halten wird. In der Radikalität der lyrischen Bewegung des Textes fällt mir im deutschsprachigen allenfalls Paulus Böhmer als vergleichbar ein - höchstens, dass an Stellen, wo Böhmer aufs Derb-Reale geht, Bonnefoy kultiviert in Richtung sentimentalisch Überhöhtem entschwindet.

Mopsa Sternheim wird von Thomas Ehrsam (der 2004 Briefwechsel von ihr herausgegeben hatte) vorgestellt, einige Auszüge aus ihrem Tagebuch folgen - eine beeindruckende Person. Jahrgang 1905, Tochter des Dramatikers Carl Sternheim - eine komplexe, von Übergriffen und Heimatlosigkeit in vielen Bereichen (einschließlich Sexualität und Sprache) geprägte Biographie. Ein enthusiastischer Hass auf die Nazis, von der Gestapo wegen ihrer Tätigkeit für eine Gruppe des britischen Geheimdienstes ohne Erfolg gefoltert, dann im Krankenblock in Ravensbrück eingekerkert, sie überlebte nur knapp. Ein Mensch, der sich selbst zeitlebens ein Rätsel bleibt:

»Trotzdem haben ich und mein mißratener Samaritergeist sich nach Herzenslust ausgetobt: Und die Kranken zu verbinden, die Hungernden zu nähren, die Verfolgten zu verstecken - was für ein Beruf! Erbarmen! Nicht die Bohne! (...) Nicht ein Schatten von Erbarmen - hat man je Erbarmen mit der Häßlichkeit? Es war mir gleichgültig, dass diese Unglücklichen verreckten - aber ich hätte gerne ihre Peiniger getötet.«

Ein eigenartiger Widerspruch: von den Kranken einhellig verehrt und sich selbst gegenüber restlos kritisch, analytisch und ratlos zugleich.

»Es vergeht keine Woche ohne dass ich träume dass man mich von Neuem foltert. Die Badewanne. Das Entsetzen vor den Blutgesprenkelten Wänden. Doch Fatalismus + Hochmut wollten dies Erlebnis unbedingt als nebensächlich gelten lassen. Nur nachts, wenn meine Kontrolle aussetzt, rächt sich die Realität. Meine Nächte sind nicht komisch.«

Von Ines Rieder ist 2016 eine Biographie von Mopsa Sternheim mit dem Titel ›Leben am Abgrund‹ erschienen.

Einem weiteren Kriegsopfer wird Raum gegeben: Giorgos Seferis, der griechische Lyriker und Nobelpreisträger des Jahres 1963 - Auszüge schildern seine Odyssee als Botschaftsangehöriger nach Ägypten und Israel während Rommels Auf- und Niedergang im nordafrikanischen Feldzug der dumpf-deutschen Herrlichkeiten.

In zwei zaghaften Versuch werden Fäden Richtung des rätselhaften südlichen Landes namens Afrika ausgestreckt, Ernst-Peter Ruhe versucht sich über »Die Vitalität der Poésie noire. Aimé Césaires Wirkung in den deutschsprachigen Ländern«. Und ebenfalls aus der französischen Brille ist Alain Mabanckou’s ins enzyklopädische sich verlierende Antrittsrede (März 2016) über die ›afrikanischen Literaturen heute‹ am Collége de France enthalten, die in Deutsch-Nordost sicher keinem wehtun oder helfen.

Von Walle Sayer sind einige erfrischende Gedichte enthalten. Doch neben all den Texten über Autoren mit Baujahr kurz nach 1900 nehmen sich die wenigen Primärtexte jüngerer Autoren aus wie von David Hamilton mit Weichzeichner bearbeitete Kinderkörper im Gegenlicht. Jan Wagner etwa berichtet unmittelbar vom Kern des Schreckens an der Welt: Von unheimlichen Kapitänen und Chevaliers, vom Sturz des Kindes auf den Glastisch, sogar von ans unhygienische grenzenden Totenbräuchen im fernen Indien - allerdings erst, nachdem das Empfinden in ein feinst austariertes Ensemble sprechender Beobachtungen dispergiert wurde:

»in nepal hat sich ein gletscher gelöst,
schmilzt sich als wolke langsam richtung meer.

(...)
ein wasserbüffel treibt aufgedunsen vorbei.

beleuchtet von den funzeln zweier möwen.
und auf den treppen machen sich die jungen
cricketspieler bereit: ein perfekter schlag,

und der gegner streckt sich, streckt sich,
doch schon steht der vollmond am himmel,
und tief in den lungen kommen die toten zur ruhe.«

 

An der Ausgabe beteiligte Autor_innen: Yves Bonnefoy, Wolfgang Matz, Elisabeth Borchers, Girogos Seferis, Thomas Ehrsam, Mopsa Sternheim, Christian Rosenau, Ernstpeter Ruhe, Alain Mabanckou, Jan Wagner,  Dénes Krusovszky, Walle Sayer, Debora Vogel, Ulla Berkéwicz, Helmut Heißenbüttel, Norman Manea.

Akademie der Künste (Hg.)
Sinn und Form 1/2017
Sinn und Form
2017 · 11,00 Euro

Fixpoetry 2017
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