Durchtränkt vom Fließenden und Echo
Anneke Brassinga, Jahrgang 1948, gilt als die Sprachmagierin der niederländischen Poesie und wurde für ihr umfassendes Werk bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet. 1987 debütierte sie mit dem Gedichtband „Aurora“, dem zahlreiche Lyrikbände folgten, u.a. der 2005 publizierte Sammelband „Wachtwoorden“ mit Gedichten der Jahre 1987-2003. Außerdem ist sie Prosaautorin und Essayistin. Begonnen hat sie jedoch als Übersetzerin und u.a. Werke von Broch, Mallarmé, Nabokov und Plath ins Niederländische übertragen. Über die Bedeutung und den Einfluss dieser Arbeit auf ihr Dichten gibt sie in einem Brief an den Lyriker Erik Lindner Auskunft, der das Nachwort des vorliegenden Bandes schrieb:
Wäre ich nicht Übersetzerin geworden, hätte ich wohl nie angefangen zu schreiben. Hätte ich nicht angefangen, Gedichte zu übersetzen, hätte ich nie eines geschrieben.
Und weiter:
Während des Übersetzens züchtet man sich allmählich jenes skrupulöse, sterile Engagement an, das dem Dichter so nützlich ist, will er die allzu persönliche Anekdotik mit den dazugehörigen Gefühlen von seinem Werk fernhalten, sich hüten vor bloßem Ausdruck ohne Transformation.
Nun können Brassingas Gedichte endlich auch in deutscher Sprache entdeckt werden. Unter dem eigenwilligen Titel „Fata Morgana, dürste nach uns!“ legt die Übersetzerin Ira Wilhelm eine Auswahl ihrer Brassinga-Übertragungen vor, die sowohl im Original als auch in der deutschen Fassung abgedruckt wurden. Dies ermöglicht es ob einer gewissen Ähnlichkeit der beiden Sprachen, die Gedichte zu vergleichen. Neben ihren eigenen hat Wilhelm auch fünf Übersetzungen aufgenommen, die von Oswald Egger stammen. Erik Lindner schreibt in seinem Nachwort, dass Übersetzen die Kunst sei, die Phantasie eines anderen ungeschoren davonkommen zu lassen. Auf die unterschiedlichen Übersetzungsstile von Wilhelm und Egger kann hier nicht näher eingegangen werden, schlicht deshalb, weil von Egger zu wenige Gedichtübertragungen vorliegen, zu denen ich nur zu sagen vermag, dass sie „typische“ Egger-Texte sind, Egger mit jeder Zeile verströmen, was für mich allerdings die Frage aufwirft, wie viele Brassinga-Eigenheiten und –Nuancen im Eggerschen Sprachspiel untergingen oder, griffiger formuliert, wie viel Brassinga-Ton dem Egger-Ton zum Opfer fiel. Ira Wilhelm hingegen „dient“ dem Original, folgt in Wortwahl und Versduktus jenen Brassingas, gleichwohl agiert sie frei und findet u.a. für die zahlreichen Wortneuschöpfungen der Lyrikerin erstaunliche deutsche Entsprechungen.
Brassingas Gedichte werden oft als „experimentell“ bezeichnet. Sie selbst nannte sie bei einer Lesung während unserer Pressereise im August 2016 schelmisch lächelnd „schwierig“. Mag sein, doch was sagen solche Punzierungen schon aus. Das Lesen dieses Buchs jedenfalls gleicht einer so vergnüglichen wie inspirierenden Entdeckungsreise. Brassinga ist eine sehr genaue Spracharbeiterin, die der Kraft ihrer Worte traut und einen ganz eigenen Ton kreiert, der mal archaisch, mal barock, manchmal geradezu schwülstig, dann wieder märchenhaft daherkommt, oft leidenschaftlich ist, doch nie einer bloßen Gefühligkeit dient, und immer wieder Anleihen im Burlesken nimmt oder knochentrockenen Humor aufblitzen lässt. Nie jedoch suhlt sich das Gedicht im Pathos, noch beschränkt es sich auf ein „barockes Schreiten“ der Sprache, denn dieses beginnt allenfalls mit einem ersten Schritt und wird sofort gebrochen im nächsten Halbsatz, wird konterkariert mit dem nächsten Wortbild. Gern stellt Brassinga Gegensätze nebeneinander, was beim Lesen irritiert innehalten lässt und Reibungsflächen öffnet. So beginnt das Gedicht „Parksicht“ mit den Zeilen:
Das schönste aller Dinge,
und dann das allererbärmlichste dazu
Im Gedicht „Frohe Botschaft“ heißt es:
Wenn ich dich auskotz’, wärst du erkoren.
Stolpern lassen uns auch eigenwillige Worte wie „hinterstzuvörderst“ und überbordende Monsterkreationen, etwa eine „kryptapokalyptische Igel-Engel-Sing-Station“ oder das „SonntagMittagGlibberSchlabbergrün“.
Große Bedeutung hat für Brassinga die Musik. Gedichte zu Werken von Bach, Haydn, Mozart und Chopin wurden in dieses Buch aufgenommen. Doch auch in andere Texte webt Brassinga Ausdrücke, Beispiele und Vergleiche aus der Musik ein, wobei vor allem das Klavier und der Gesang wiederholt erwähnt werden. Und die Gedichte selbst sind „musikalisch“, überzeugen durch ihren Rhythmus und die wechselnden Tonlagen und sollten unbedingt laut gelesen werden. Erik Lindner schreibt hierzu in seinem Nachwort:
Brassingas Sprache schwebt, klebt, trötet und klingt, und dabei tropft’s von allen Seiten ... will man dabei doch ständig Mitmurmeln, Mitsummen und Mitsingen.
Neben der Musik ist in Brassingas Sprachkosmos die Tier- und Pflanzenwelt wichtig. Rund vierzig verschiedene Tierarten kommen in den Gedichten vor: Silberfischchen, Ameisen und Glühwürmchen, verschiedenste Vögel und Säugetiere, mit einer speziellen Vorliebe für das Pferd, das sechsmal zu Gedichtehren kommt. Rund dreißig Pflanzenarten haben ihren Platz in den vorliegenden Texten: Gras und Moos, Primeln und Herbstzeitlose bis hin zu den Bäumen, etwa Kastanie, Linde und Eiche, wobei Apfel und Rose für die Dichterin eine besondere Bedeutung zu haben scheinen.
Thematisch greift die Lyrikerin die große Fragen unserer Existenz auf: Die Widrigkeiten des Seins, Liebe, Sterben und Vergänglichkeit, Tod. Aber auch die Frage nach der Existenz Gottes wird Sujet des Gedichts, grundiert mit dem Vokabular einer religiösen Erziehung, das als Spielmaterial dient, gewendet und hinterfragt, manchmal ins Humoristische gedreht wird, etwa im Gedicht „Gloria“, in dem Gott ein „tollkühner Motorradfahrer“ ist, dessen Rücklicht wir verschwinden sehen.
In ganz wenigen Gedichten gibt Brassinga Persönliches preis, etwa im Gedicht „Nachrichten“, in dem wir von ihrer erstmals bewusst wahrgenommenen Faszination für das Wort erfahren und jenen unentbehrlichen Nachrichten, die der Zufall einer Sechsjährigen diktiert, wenn „manchmal bis zu sechs Automobile in einer Stunde“ an ihr vorbeifahren und sie sich, in einem Baum sitzend, einer luftigen und flüchtigen „Wollust“ hingibt, jener Dringlichkeit nämlich, die Autokennzeichen zu notieren:
Oh, sechs zu sein und Zeichen zu sammeln. Sechs zu sein
und lesen zu können, schreiben, Wörter essen
wie Butterbrote, Buchstaben himmlischer Schokostreusel. Sechs
gewesen
zu sein, wenn sommersonntagnachmittags ...
... der Kennzeichen-Sammler auf dem Posten saß, bewaffnet mit
Bleistiftstummel und Aufschreibheft.
Um seltene, heranpreschende Buchstaben und Zahlen
zu erbeuten, sich einzuprägen ...
Die Gedichte von Anneke Brassinga sind reich an Anspielungen. Sie nimmt Sprichworte auf, webt Zitate ein, etwa von Goethe, Nietzsche oder Stendhal, die Ausgangs- und Bezugspunkt für den eigenen Text werden, dabei manchmal von der Dichterin lustvoll verändert werden. So beginnt etwa ein Gedicht in Anklang an das bekannte Kinderlied „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ mit den Worten: „Schneebröckchen, Wehflöckchen, ...“ Einige Gedichte hat Brassinga zu Werken der bildenden Kunst geschrieben, etwa den sinnliche Text „Ich lieb das Rot der Judenbraut“ zu einem Gemälde von Rembrandt van Rijn. Allerdings sind viele dieser Bezüge und Anspielungen im vorliegenden Buch nicht nachvollziehbar und können allenfalls vermutet werden. Im Sammelband „Wachtwoorden“ habe Brassinga die für sie wichtigen BezugsdichterInnen und andere Einflüsterer aufgelistet, so Lindner. Eine entsprechende Auflistung fehlt in diesem Buch leider genauso wie jene der Gemälde, die die Lyrikerin zu dem einen oder anderen Gedicht anregten. Auch eine etwaige Entwicklung ihrer Dichtkunst ist nicht entschlüsselbar, denn die Gedichte sind nicht datiert und es ist nirgendwo angegeben, aus welchem ihrer Bücher sie entnommen wurden. Gleichwohl liegt mit „Fata Morgana, dürste nach uns.“ eine nachdrücklich empfohlene Auswahl vor, die einen Einblick in den faszinierenden Sprachkosmos der Lyrikerin Anneke Brassinga gibt, u.a. mit Gedichten wie diesem:
Steckbrief
Ich bin der Fisch, den Fischers Fritze fischt,
der Stolperstein, der mir die Beine bricht.Ich bin die Mücke, gefangen in meiner nackten Faust: Ich stech.
Ich bin der Stein, der friert, den niemand wärmt,des Anstoßes, zum Verschleudern. Der Apfel bin ich,
der selbst sich aß, zurückhängt an den Ast.Ich bin das bodenlose Wasser, wo ich nachgeh dem,
der sich in mir ertränkt. Ich bin das Lichtin ausgestochnen Augen, worin das Sehen
einfach nicht vergeht. Unschuldig bin ichKeim, der unentsprossne Seuchen sät – bis an den Tag,
wo ich mein Henker bin, mein Hackklotz,und das Beil
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