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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Das Staunen der Creatur, oder: Der erste Realist

Barthold Heinrich Brockes hat auch im fünften und sechsten Teil seiner Physicalisch- und Moralischen Gedichte sein Irdisches Vergnügen
Hamburg

Es soll an dieser Stelle nicht mechanisch wiederholt oder trocken zusammengefaßt werden, was aus literarhistorischer Sicht über Barthold Heinrich Brockes zu sagen wäre, denn es wäre viel. Der Hamburger Ratsherr, Senator, Stadtrichter und Amtmann hat mit seinem neunteiligen „Irdischen Vergnügen in Gott“ das sicherlich sprachmächtigste deutsche Dichtwerk seiner Zeit vorgelegt, ein mehrtausendseitiges Mammutbuch zum Lobe der Schöpfung und des Gottes, der ihre Einzelteile ingeniös sich erdacht hat. Beinahe dreißig Jahre lang hat Brockes daran gearbeitet, von 1721 bis 1748, ein Lebensbuch im doppelten Sinn, denn es ist soviel vom Alltag des Dichters eingeflossen, wie in kein anders Dichtwerk zuvor.

Konfrontiert mit älterer — und das ist für Viele bereits jede nicht unmittelbar gegenwärtige — Literatur, erhebt der Leser sogleich die, im Grunde nicht unberechtigte, Frage, was ihm denn ein Text aus einem doch schon recht fernen Jahrhundert zu sagen habe? —: Jeder in seiner Zeit gelungene Text besitzt einen Ewigkeitswert, und wer bereit ist, sich darauf einzulassen, abseits germanistischer Aspekte, kann ihn mit Gewinn lesen. Voraussetzungslos geht das jedoch nicht; es ist zwar nicht notwendig, den Text ausschließlich vor dem historischen Hintergrund zu lesen, aber ohne eine gewisse Einfühlung für die geschichtlichen Bedingungen, unter denen er entstand und die ihn geprägt haben, ergeben sich letztlich weder Gewinn noch Genuß in rechtem Maß.

Ohne die tief im Leben verwurzelte Religiosität ist Barthold Heinrich Brockes’ „Irdisches Vergnügen in Gott“, dessen fünfter (1736) und sechster (1739) Teil nun innerhalb der Wallstein-Gesamtausgabe vorliegen, nicht zu denken oder zu fassen. Alle irdischen Phänomene sind auf Gott gerichtet und haben darin ihren verborgenen — oder auch durchaus offenkundigen — Sinn. Jedes einzelne Gedicht der Sammlung läßt hier keinen Zweifel an dieser physikotheologischen Ausrichtung und Deutung der Schöpfung. Das mag dem atheistischen Blick der Jetztzeit bis zum Überdruß penetrant erscheinen, doch muß man auch wiederum bewundern, wie Brockes noch dem Schlimmsten einen positiven Aspekt abgewinnen kann; wie es ihm gelingt, die Welt zu einem Ort der Wunder umzudeuten. Es gibt bei Brockes selbst somit vieles zu bewundern und bestaunen, das die Zeiten unbeschadet überstanden hat, ja, vielleicht sogar intensiver in die Gegenwart heute als in die seiner Zeitgenossen spricht.

Brockes treibt seine Sprachartistik nie in die verlogenen Bereiche des Selbstzwecks, sie dienen immer primär der Darstellung des Gegenstands. Höchst ungewöhnlich war damals und ist noch heute seine Zuwendung zu den unscheinbarsten, nebensächlichsten Phänomenen. Abseits jeder Dramatik, jeder Zuspitzung oder Überhöhung beginnen viele Gedichte im schlichtesten Alltag; hier ein typisches Beispiel:

Ich fühlte mich, am linken Bein, von einer Mücken jüngst gestochen,
Und zwar so spitzig, daß michs schmerzte. Der Stich ward durch den Tod gerochen:
Doch dacht ich bey dem Zufall weiter: Wie weit dieß von meiner Stirn,
Und dem daselbst vorhandenen, allein nur fühlenden Gehirn,
Dem Sitz der Seelen, die nur fühlet! wie muß die Nerve doch so klein,
So zart, so fein,
Und doch von solcher Länge seyn,
Daß sie bis ans Gehirn sich strecket,
So kleinen Stich der Seel entdecket,
Der in die äussre Haut kaum dringet,
Und sie gleich in Bewegung bringet.

Diese Begebenheit ist nicht bloß Anlaß, die neuesten Erkenntnisse über die menschliche Anatomie einzuflechten, sondern auch, über das Verhältnis des Körpers zur Seele und die Beschaffenheit des Körpers zu reflektieren, an dem „viel Millionen Stellen“ sich befinden, die schmerzen könnten, was aber durch die Güte des Schöpfers glücklich verhindert wird. Mit wissenschaftlicher Neugier wendet sich Brockes den irdischen Dingen zu, die bislang kaum Eingang in die hehre Dichtkunst gefunden haben, und zieht so noch aus dem Erschreckenden, dem Häßlichen einen ästhetischen Nutzen: Bei der Sektion einer Leiche überwindet er den anfänglichen Ekel, um ein anatomisches Wunderwerk unter der Haut zu finden; und beim „sonderbare[n] Begräbniß eines Maulwurfs“ stellt er angesichts der Dekompostierung des toten Tiers durch Käfer sogleich einige Gedanken zum Instinkt an, der nicht für das gemeinsame Handeln der Insekten verantwortlich ist:

... Mir kam indessen für,
Ob würden etwan diese Thier’
Indem sie durch die Luft geflogen,
Durch den verwesenden Geruch, herbey gezogen.

Wie schon in den vorangegangenen Büchern, gliedert sich auch der fünfte und sechste Teil des „Irdischen Vergnügens“ vor allem nach dem Lauf der Jahreszeiten, nebst einem Anhang von Vermischtem und den obligatorischen Neujahrsgedichten. Nicht überraschen mag es, wenn im Frühling die Blumen besungen werden, Rose, Hyazinthe, und im Herbst die Ernten, die Jagd und „Fischerey“, die Stoppelfelder und Spinnweben, dagegen schon eher, daß im Sommer „Bohnen-Felder“ und „eine blaue Käfer-Schaar / In halb-gedorrtem Pferde-Mist“ der Betrachtung wert sind, und daß sogar dem Winter gewisse Reize abgewonnen werden, wie sie später erst von Matthias Claudius in Bewußtsein geholt wurden:

Ich bin erst jüngst darauf gekommen,
Und habe mit besondrer Lust,
Und innrer Regung meiner Brust,
Verschiedne Schönheit wahrgenommen,
Die, weil ich nicht darauf geachtet,
Ich auch bisher noch nicht betrachtet.

Darum lauten die freudig-überraschten „Gedanken bey einer im Februar blühenden Schonkilje“, einer Narzissenart, wie immer rasch von der Deskription zur Reflektion schreitend:

Liebster Gott, kanns möglich seiyn! kann der Winter nicht einmal
Der Natur Formirungskraft, auch bey fernem Sonnenstral,
Auch zur allerrauhsten Zeit, mitten im December, tilgen!
Also rief ich, als ich jüngst zärtlich blühende Schonkiljen,
Ohne Kunst, in meinem Garten, aus der Erde steigen sah.

Der mikroskopische Blick fürs Detail ist eine Errungenschaft der frühen Aufklärung und unterscheidet sich von der allegorischen Verwendung im Barock und der subjektiv-pathetischen Überhöhung bei den Romantikern. Solche Nüchternheit sollte erst im 20. Jahrhundert wieder in die deutsche Literatur einziehen — deshalb steht uns Brockes, abzüglich natürlich seiner Einbindung in ein theologisches System, eben nicht allzu fern, und der Abstand von fast dreihundert Jahren, aus dem er uns zuwinkt, ist unüberbrückbar nicht.

Naturwissenschaft und Dichtung stellen bei Brockes keine Antagonisten dar. Beim Blick durch ein „Perspectiv“ zeigt sich dem verblüfften Auge zum Beispiel die den Sprachfluß erstaunt ins Stocken bringende Corona der Sonne:

Oft fuhren Flammen-gleiche Spitzen
Bald seit- bald oberwerts. Bald macht ihr reger Strahl,
Mit bald vermindertem und bald vermehrtem Blitzen,
Der Sonne Zirkel spitz, und bald oval,
Vor allen nahm, von vielen Stellen,
Das rege Wallen mich recht mit Erstaunen ein.

Die Seh-Schule, in die Brockes seine Leser schickt, oder, wie er selbst sagt, die „Sinnen-Schule“, ist aktuell wie eh und je, wenn auch unter leicht veränderten Vorzeichen. — So ist dieser Brockes ein Brocken, an dem man sich nicht ohne Belohnung abarbeitet, eine handfeste Augenfreude allein schon wegen der Schreibmanier, und darum ist das einzige echte Manko dieser unumgänglichen und vom editorischen Standpunkt her respektablen Neuausgabe, die in summa allzu vielen Druckfehler, gerade im Hinblick auf die Verläßlichkeit der Originalorthographie und des Variantenapparats dazu angetan, das helle Wässerchen zuweilen häßlich einzutrüben.

 

Barthold Heinrich Brockes · Jürgen Rathje (Hg.)
Irdisches Vergnügen in Gott | Fünfter und Sechster Teil
Reihe: Barthold Heinrich Brockes Werke; Bd. 4
Wallstein Verlag
2016 · 960 Seiten · 98,00 Euro
ISBN:
978-3-8353-1779-6

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