Gedichte wie Bluessongs
Ich habe in Istanbul viel Zeit damit verbracht, in Buchläden zu stöbern, auch in den Antiquariaten und den Sahaflar Carsisi, den Bücherbazaren, immer in der Hoffnung, auf Dichter zu stoßen, die ich nicht kenne. Da sich mein Türkisch in Grenzen hält, bin ich stets auf Übersetzungen angewiesen. Eine ergiebige Fundgrube ist die englische Buchhandlung Pandora in einer sympathisch-miefigen Seitengasse der Istiklal Caddesi in Beyoglu, nahe des Taksim. Dort fiel mir auch der unscheinbare kleine Band von Cahit Külebi in die Hand. „Selected Poems“ auf Türkisch und Englisch, erschienen bei Bilgi in Ankara. Es ist die erste englische Übersetzung seiner Arbeit, und obwohl es Übersetzungen in zwanzig Sprachen gibt – Deutsch ist leider nicht dabei.
Viele türkische Verlage lassen die Werke ihrer Autoren ins Englische übersetzen und publizieren sie dann erneut in der Türkei. Auch der Megaseller Ahmet Ümit wird so für ein größeres Publikum erschlossen. Ein Jammer, dass es gerade mal drei seiner Werke auf Deutsch gibt. Und auch die in Istanbul nicht seltenen Verlagsbuchhandlungen publizieren mitunter zweisprachig.
Nun also Külebi. Auf meinem Nachttisch in der Tatar Beyi Sokak lag eigentlich noch ein anderes Buch, ein Roman von Ahmed Hamdi Tanpinar, der von Orhan Pamuk so sehr verehrt wird. Doch ich entschied, Külebi mit auf die Dachterrasse zu nehmen und in der Abenddämmerung ein wenig in seinen Gedichten zu stöbern, während über mir die Möwen balzten, unten auf der Straße die Katzen sich zofften und vom nahegelegenen Bosporus das durchdringende Horn der Tanker drang, die sich behäbig zwischen Europa und Asien in Richtung Marmarameer wälzten.
Ich dachte an eine Frau, die ich nicht auch nur ansatzweise verstand, aber nach der ich mich sehnte, und hüzün machte sich breit, diese Melancholie, die ohne eine ganz besondere Form von Glück nicht funktioniert. Ein Gefühl, das sich im Blues manifestiert. Und genau das fand ich in Cahit Külebis großartigen Gedichten, die Songtexte von Johnny Cash oder Chris Jones sein könnten. Einfache, leicht zugängliche aber zugleich höchst raffinierte Gedichte, in denen immer eine große Sehnsucht mitschwingt, eine Liebe zum Leben im Augenblick der Vergänglichkeit. Über Beyoglu ging gerade die Sonne unter und tauchte das Ufer von Üsküdar in Asien in gleißendes goldenes Licht.
Cahit Külebi wurde 1917 im tiefsten Anatolien geboren und starb 1997 in Ankara. Dazwischen wurde er zu einem wichtigen Protagonisten der modernen türkischen Lyrik. Orhan Veli pries seine Metaphern, Oktay Akbal sagte, aus Külebis Gedichten könne man sich so schnell nicht mehr befreien, nachdem man einmal in sie eingetaucht ist. Diese Erfahrung machte ich an jenem Abend.
Obwohl die Übersetzung die Kunstfertigkeit seiner Poeme nur annäherungsweise wiedergeben kann – das verrät ein Blick auf seine Reime im türkischen Original, seine Sprachspiele, den Klang, den er erzeugt – zogen mich seine Verse in ihren Bann. Und darum geht es doch bei der Lyrik, oder etwa nicht? Dass sie einen irgendwo ganz tief erwischt, sei es durch Inhalt oder Sprache. Im besten Fall mit beidem.
„This place, my boy, / Does not agree with us. / We are getting skinnier by the day, / Our clothes are in rags.“ heißt es in „Solution“, und das könnte tatsächlich von Cash stammen, man hört förmlich die tiefe Stimme und die lakonischen Akkorde, ob nun Texasstaub oder Anatolienstaub, wen kümmert das schon? Staub bleibt Staub. Vermutlich hat niemand, nicht mal Orhan Veli, einen Augenblick von hüzün in Istanbul effektiver zu Papier gebracht als Külebi: „The trucks carried melons / And I thought about her all the time.“
Külebi schrieb über sein Land wie über eine schwierige Geliebte, über Frauen ebenfalls. Frauen, die er begehrt und verehrt, aber lieber „from a distance“. Zugleich sucht er Nähe zur Natur, zum Licht, zum Meer, zu all dem, was emotional ebenso greifbar ist wie physisch. Er schrieb politische Gedichte, die klingen wie Protestsongs aus den Sechzigern oder wie Bluessongs aus den Zwanzigern. Irgendwo im Hinterkopf hört man immer eine Mundharmonika oder eine Akustikgitarre. „You will leave this place someday, / Your train will gradually disappear, / All your worries will run away / Like melting snow.“ Das Gedicht heißt „Journey“. Ich denke an Chris Jones, „Long after you’re gone“. Und hier denke ich an JJ Cale: „The river that dusty roads run into / On the way from Camlibel to Tokat. / I forgot you a long time ago, / Have you also forgotten, turn back and look. “
Aber Istanbul und Anatolien sind nicht alles. Külebi lebte zeitweise in Paris, schrieb darüber, schrieb ein Gedicht an Guillaume Apollinaire, kehrte zurück und schrieb eine „Ode to Atatürk“ und im nächsten Moment über „The Death of a Mouse“, er schrieb über Izmir und er schrieb über die Poesie an sich.
„The Turkish Blue“ ist ein kleines Buch, aber ein Buch von einem großartigen Dichter, ich wage zu sagen, dass Külebi mir sogar mehr gibt als Hikmet. Beim nächsten Mal am Bosporus werde ich es wieder bei mir haben.
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