Ein Fundus der Begegnungen
Um Interpretationen geht es. Ein gutes Gedicht kann mehr, als jedes Vorlesen ausweisen oder provozieren kann und tut das in jedem Leser auf sehr private Weise. Zur Authentizität eines Gedichtes gehört, wie es sich in den inneren Kontext des Lesers fügt. Dort wird es auf ganz individuelle Art fertig und wahr. Als Interpretation. Es erhält seinen eigenen Rhythmus, einen Tonfall, eine Bedeutung und wird eingenäht in die persönliche Geschichte. Ein Gedicht zu lesen ist stillschweigend ein intimer Akt. Die Lyrikstimme ist eine innere Stimme, die eigentlich nicht vertont werden kann, weil sie als akustischer Fakt beladen wird mit Attributen und Gebärden, die nicht jenen entsprechen, die im Leser passieren. Deswegen kann ein vorgelesener Text immer nur ein Hinweis sein auf Mögliches, das im Anderen geschieht, auf die Art und Weise, wie der Andere diesen Text in seinem Inneren begleitet und sei dieser Andere der Autor. Das expressive Darstellen dieser Geschehnisse ist eigentlich ein Job, den in der Regel weder der Leser noch der Dichter gut beherrschen (die sich doch eher in der Stille begegnen) – es ist ein Job für Schauspieler, Darsteller, geübte Leute, die wissen wie man Theater macht.
Es ist heute manchmal so, daß ziemlich mittelmäßige Dichter ihre Texte ansprechend und gut performen und eher deswegen beeindrucken und sehr rasch Erfolg haben, als aufgrund der Qualität ihrer Texte. In der Spitze äußerst sich das so, daß sich eine neue Gattung herausgebildet hat, die medial besser verwertbar ist und leichter konsumierbar: der poetry slam. Hier wird der Text zum Teil des „acts“, zum script der show, löst sich aus dem geschriebenen und lesbaren Zustand und kann nicht mehr isoliert in und durch die Welt. Der Erfolg hängt nicht ab von der Güte des Geschriebenen, sondern vom Unterhaltungswert des persönlichen Vortrags – einen Slam gewinnt nicht der Text, sondern sein Interpret.
Es gibt seit Jahren Tendenzen in der Literatur und auch in der Lyrik, nicht erst seit Kling, das Geschriebene „ansprechender“ vorzutragen. Einige Verlage legen ihren Büchern mittlerweile CD’s bei und erweitern damit die Eigenschaften der zugrundeliegenden Literatur ins Akustische. Die Darstellung von Literatur, ihre Performance wird immer wichtiger.
Mit der Sammlung „Lyrikstimmen“ haben wir nun erstmals einen Eindruck, wie sich der Vortrag eines Gedichtes über die Zeitläufte hinweg verändert hat. Sie präsentiert akustische Versionen von 420 Gedichten, gelesen von 122 Dichtern, aufgenommen in den Jahren 1907 bis 2007, einhundert Jahre vorgetragene Poesie, herausgegeben von der Lektorin Christiane Collorio und den Dichtern und Schriftstellern Peter Hamm, Harald Hartung und Michael Krüger. Neun CDs und über 600 Minuten Gedichte, wie sie von ihren Autoren gelesen werden. Man hat das Material aus Rundfunkarchiven und privaten Quellen zusammengetragen, über mehrere Jahre hinweg, hat Nachlässe durchstöbert, Erben ausfindig gemacht und angeschrieben, Suchanzeigen geschaltet, Vergriffenes in Antiquariaten nachgefragt und gefunden. Und so sehr viel Erstaunliches und manchmal auch Exklusives gefunden: Thomas Bernhards Texte "Bibelszenen" und "Geflüster" bspw. sind nicht nur die einzigen Lyrikaufnahmen, die es von ihm gibt, sondern waren bislang unveröffentlicht.
Wenn ich auf der ersten CD der Sammlung Hugo von Hofmannsthal frühe Aufnahme von 1907 höre, eine angestrengte Litanei die viel Jammerhaftes hat - „manche freilich müssen drunten sterben“ – , dann zerbricht in mir das, was ich beim Lesen des Gedichtes für mich selbst einmal entdeckte. Das Gedicht ist nicht mehr dasjenige allein, das mit mir spricht, sondern hinzu tritt ein Mensch und seine Gebärde, der völlig andere Töne und Farben daraus entpackt. Das mag in vielen Fällen spannend und überraschend sein, oft ist es eine Enttäuschung. Von Hofmannsthal bspw. betet vor sich hin und teilt nichts und nicht mit. Er betet ein Gedicht vor, das er meint geschrieben zu haben und spricht nicht das aus, was vor ihm steht. Wie tief und sonor und aus einer großen Stille muß ein Satz kommen wie „manche freilich müssen drunten sterben, / wo die schweren Ruder der Schiffe streifen“ und wie kläglich sperrt er das ein in einen angestrengten, loseilenden dünnen Rhythmus mit dem er dem Inhalt davonsalbadert.
Gleich darauf folgen Aufnahmen von Karl Kraus aus den Jahren 1930 bis 1934 und wie er das Gedicht „Jugend“ intoniert, zerhaut so ziemlich alles, was ich je über diesen Mann so vor mich hin dachte. Was er an Theatralik auf seine Texte klebt ist gnadenlos übertrieben und aus heutiger Sicht unerträglich. „Ich bin vielleicht der erste Fall eines Schreibers, der sein Schreiben zugleich schauspielerisch erlebt.“, hat Kraus einmal selbst gesagt. Sein Schreiben wird zum Schauspiel und es ist furchtbar. Es ist billig, er mahnt und hebt die Stimme, er ruft herbei und legt ins Grab, er dramatisiert und weiß besser, er predigt und rüttelt, redet sich in Rage, selbstgerecht und rollt das R.
„Was aber bleibet, stiften die Dichter“, hat Hölderlin verkündet. Wenn dieses mein Erbe ist, das Gebliebene, das von Dichtern ins Überdauern Eingetragene, dann wird spätestens hier aus dem Unbehagen das überdeutliche Gefühl von Schuld und Scham. Die rollenden R’s, die ich immer als nazideutsche agitatorische Übertreibung und der rechten Theatralik zugehörig gedacht hatte, waren – und das wird sich in anderen lyrischen Stimmen dieser Sammlung immer wieder bestätigen – deutsches Allgemeingut. Das voranrollende, aus dem Mund vorwirbelnde Zungenspitzen-R ist keine braune Exklusivität, sondern eine deutsche Geste. Wenn Charlie Chaplin seinen Hynkel „tomanisch“ reden lässt, so ist dieses R eines der wichtigen Charakteristika, die er in seine Lautmalerei einflechten mußte, um das Typische zu treffen. Es ist typisch, deutsch. Das gerollte R herrschte noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den meisten Teilen Deutschlands vor und erscheint gestisch als aufreizendes Spiel mit selbstverliebten, arroganten Anwandlungen. Während die Zunge im eigenen Atem am Zahndamm vibriert entsteht ein Sprachschall, der hinauspoltert, überrollend be-tont, was von Innen kommt.
Aber es ist nicht dieser Vibrant allein. Es ist auch das Pathos und das Elegische und das Dramatische, das Aufgebauschte, Übertriebene und Draufgesetzte, das in der ausufernden Geste aufgehobene Argument, dies alles sei große Kunst und großes Menschenwerk sei der Sinn der Welt. Auch Stefan Zweig liest so, Theodor Däubler, selbst Ernst Toller. Es verfestigt sich der Eindruck, daß die Dichtung sehr lange eine Angelegenheit war, die sich insgesamt nicht der allgemeinen Heroisierung des Menschlichen (nach der einen oder anderen Seite hin) entziehen konnte.
Nach dem Krieg ändern sich die Stimmen. Zweifel kommen hinzu, das Fragwürdige ist anwesend und das Unwissbare hallt laut in den Worten. Das Persönliche ist plötzlich kein Wichtiges, Bedichtbares, Heldisches mehr, sondern ein Bloßes, ein nur Beispielhaftes und Verzichtbares, ein Anderes, das immer mehr ein Anderes wird und nichts dazu kann. Es verliert die Schuld, es wird zum Reagenz. Der Vortrag des Gedichtes bemüht sich ins Innere des Textes und versucht vom Konstrukt des Idealen und vom idealen Konstrukt weg zu kommen. Ab hier finde ich wieder. Das was mich einmal zur Lyrik verschlagen hat und Menschen, die zu mir sprechen.
Diese 9 CDs erzählen tatsächlich eine Geschichte der deutschen Poesie, nicht immer mit den bestmöglichen Vertretern und den typischsten und stärksten Gedichten (was einfach den Sachzwängen geschuldet ist), aber authentischer und umfassender, als man sie sich selbst erzählen kann. Es sind die im Vortrag enthaltenen Lebensgebärden, die das Sagen erweitern und die Gedichte verändern, nicht immer zum Guten. So viele Begegnungen. Zeiten, Menschen, geistige Landschaften. Und immer wieder Sätze, die bleiben.
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