Selbstwerdung und -verwaltung
Lesen impliziert Mündigkeit. Wer nicht antwortet, kann einen Text nicht verantworten, die implizite Antwort, die jede Lektüre schon ist, ehe eine Reaktion zu Papier gebracht wäre. Also muß, wer Literatur theoretisch oder praktisch ins Zentrum seines Interesses rückt, sich vielleicht auch der Frage stellen, was heute für die Mündigkeit der zukünftigen Leser getan werde. Abwegig ist das nicht; Pädagogik – allemal ein Propädeutikum der Lektürekunst – verdient unser Interesse, liebe Lesende.
Das gilt umso mehr, wo das Schulsystem zum Versorger von Interessengruppen degradiert wird – wie der Staat insgesamt, so mag man hinzufügen: „Was ist denn nun das für gewaltiges Ding: der Staat? Wohnt eine Anzahl Menschen in einem Land und es sind Verordnungen oder Gesetze vorhanden, nach denen jeder sich richten muß, so sagt man, sie bilden einen Staat. Der Staat also sind alle; die Ordner im Staate sind die Gesetze, durch welche das Wohl aller gesichert wird und die aus dem Wohl aller hervorgehen sollen”, so heißt es in Büchners hessischem Landboten. Muß man derlei bald wieder geheim verbreiten? Wohl nicht, denn durch Zerstreuung der Aufmerksamkeit und Erosion der Bildung gibt es womöglich soundso irgendwann keine Leser mehr dafür.
Darum Pädagogik. Alles spricht für eine Lektüre der Studie Menschenbildung von Clara Steinkellner, worin nachdrücklich Bildung als etwas, das auf Mündigkeit ziele (beziehungsweise, die Realitäten vor Augen, zielen solle), diskutiert wird; und zwar trotz einer Neigung zum Dogmatischen, wo Rudolf Steiner zitiert wird, der aber auch dort, wo er dilettierte, ja brillant dilettierte und Dogmen durchaus nicht erfordert.
Steinkellner verfaßte eine kluge Studie, die nicht nur auf ihrer Diplomarbeit, sondern auch danach gemachten eigenen Erfahrungen und Ideen beruht. Sie beginnt mit einer Rekonstruktion dessen, was Mündigkeit einst war, als man der Infantilität noch zu entgehen suchte und sich seine Abhängigkeiten nicht zur Ich-AG schönredete. Schole, also ein nicht von Beginn an zweckgebundenes Leben, dies war der Leitbegriff dessen, was zur Schule teils wurde – und teils verkam. Statt einer Ausbildung, mit der man kompetent innerhalb bekannter Komplexe agierte, ging es um Bildung, also einer Kompetenz bezüglich der noch gar nicht umrissenen, der noch unbekannten Probleme, der Rätsel, die nicht nur Verlegenheit sind, sondern Reichtum bedeuten, wo vorschnelle Antworten zerstörerisch wirken, um Krisenwahrnehmung, um den Umgang damit, daß es immer auch Inkompetenz gibt, und zwar ohne Verschulden.
Was folgt, das ist Aktivität, wo die ungleich betriebsamer sich ausnehmende Ausbildung Scheinaktivität setzt, worin sich der Lernende nicht selbst formt, sondern sich formen läßt, von der Kirche, vom Staat, vielleicht selbst von einem Freigeist wie Rudolf Steiner, wenn man unvorsichtig wäre. Es geht also in der Bildung wider „incomplete human beings”, wie Steinkellner zitiert, oder, in Solidarität mit diesen: nicht wider sie, sondern um ihre Komplettierung, wobei die Frage, wann ein Mensch komplett sei, heikel bleibt. Der Vektor aber ist klar, man werde mehr, der man ist, oder in einem romantischen Sinne (siehe Friedrich Schlegel): weniger die Karikatur eben dessen.
„Selfgovernment” stünde an, in resonanter Nähe zu Foucault ist dies formuliert – eindrücklich Illichs Beschreibung, wie er als 12jähriger „für immer vergreist” war, die Steinkellner hier anführt, mit feinem Gespür für Quellen und Ideen. Die Folge ist, daß der Schüler mehr den Lehrer wählt, als dieser den Schüler, der ihm von einem Bildungs- und Erziehungsmonopol zugeschanzt wird; dies scheint nur zunächst etwas plakativ, besieht man, wie Schule Fertiges serviert, mit Scheinfragen gewürzt, anstatt die genuinen Fragestellungen der Disziplinen zu formulieren, auf deren Basis man einst einen Lehrplan schuf, von dessen „Entrümpelung” man heute spricht, was ein Urteil impliziert ... dann, ja dann ist das halbgare Gewurstel, worin noch oder sogar gerade learning by doing in Wahrheit eben bedeutet, Schüler produktionsfit zu machen, von Steinkellner fast diplomatisch beschrieben.
Vielmehr ginge es, so die Autorin, um „Herzensbildung”, die ein Schlüsselbegriff der Gegenwart werden könnte; diese nannte schon Fontane „die einzig wahre Bildung”, wer hätte gedacht, daß Mathilde Möhring moderner als vieles ist, das heute Ausbildung definiert. Und darum geht es um Beziehung in der Erziehung, um eine Bildung, die das Ausbilden zwar nicht negiert – „Rentabilitätskriterien eine sekundäre Bedeutung” doch diese immerhin beimißt –, doch zugleich immer auch transzendiert. Es geht um Anthropologie, und zwar jene implizite, daß Bildung nicht ein passives Material zu etwas bildet und formt, sondern Interaktion mit einem „Konglomerat autopoietischer, eigendynamischer, nichttrivialer Systeme” meint, was teils Voraussetzung der Bildung ist, die dann die Entfaltung des Gegenübers will – also den Schüler aus der Hand läßt, ihn wörtlich: e-manzipiert.
Es geht also um etwas, das man lange kennt, daß hier aber umfassend und klug neu ausgeleuchtet wird, zur rechten Zeit. Der Gesamteindruck ist folglich, daß dieses Buch lesenswert ist, Denkanstöße versammelt und selbst zu einem Impetus werden kann und soll.
Fixpoetry 2012
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