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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

"Fakten sind Worte, gesprochen von der Welt"

Clarice Lispectors letzter Roman ist eine Meditation über Ohnmacht und das Recht zu schreien
Hamburg

"Der große Augenblick", Lispectors letztes Buch, 1977 in ihrem Todesjahr erschienen, ist im Grunde eine Meditation über das Schreiben, ein satirisch angelegter Entwurf einer Poetologie, selbstironisch und pathetisch und doch immer von einer aufrichtigen Ernsthaftigkeit getragen. Von diesem 33 Jahre nach ihrem vielbeachteten Debüt erschienen Buch sagte Clarice Lispector in einem Interview kurz vor ihrem Tod, die Inspiration für die Erzählung sei ein Besuch bei einer Wahrsagerin gewesen.

Sie sagte mir allerlei Gutes voraus, später kam mir der Gedanke, dass es sehr komisch wäre, wenn mich ein Taxi über den Haufen fahren würde, nachdem ich all das Gute gehört hätte.1

„Der große Augenblick“ erzählt von der armen, hässlichen, naiven Protagonistin und einem Erzähler, der gern ihr Erlöser sein würde, aber beständig an den Fakten ihres Lebens scheitert. Auf diese Weise wird „Der große Augenblick“ zu einer Meditation über Tatsachen, die verhindern, eine „schöne“ Geschichte zu erzählen. Nicht zuletzt schreibt Lispector ihre Novelle vor dem Hintergrund der „Kordelliteratur“2, mit der sie selbst im Nordosten Brasiliens aufgewachsen sein dürfte.

„Der große Augenblick“ beginnt mit einem Vorwort und den dreizehn Titeln des Buches, die zwischen Schuld und Hoffnung, zwischen Abwehr und Verständnis, zwischen Größenwahn und Bescheidenheit oszillieren. Und es beginnt, statt mit einem Anfang, mit einem „Ja.“

Denken ist ein Akt. Fühlen ist ein Fakt. Beides zusammen – bin ich, der ich schreibe, was ich in diesem Moment schreibe.

Es gehe, so schreibt der Erzähler, bei seiner Geschichte um die Wahrnehmung von etwas unmittelbar Bevorstehenden. Was bevorsteht, weiß er selbst nicht,

Denn ich schreibe quasi zur selben Zeit, zu der ich gelesen werde.

Die eigentliche Spannung entwickelt sich zwischen den Fakten, denen der Erzähler sich verpflichtet fühlt, und seinen, immer wieder scheiternden, Versuchen, der Geschichte eine andere Richtung zu geben.

Das ist nämlich keineswegs nur eine Geschichte, vor allem haben wir es mit urwüchsigem Leben zu tun, das atmet, atmet, atmet. [...] Was ich schreibe, ist mehr als Fiktion, ich habe die Pflicht, von dieser jungen Frau zu erzählen, wie es Tausende gibt. Ebenso obliegt es mir, sei es auch in wenig kunstvoller Weise, ihr Leben für sie zu offenbaren. Denn es gibt das Recht zu schreien.

Lispectors Ruhm in Brasilien beruht nicht zuletzt auf ihren Zeitungskolumnen, die sie seit Ende der 60er Jahre verfasste, bis sie 1973 unter den neuen Machtverhältnissen ihre Anstellung verlor, weil sie Jüdin war. In einer dieser Kolumnen schreibt sie:

Das hätte ich gern: nicht die Erklärung, sondern das Begreifen.

Und dieser Wunsch liegt auch der Novelle zugrunde, in der Clarice Lispector ihr anspruchsvolles Spiel mit dem Zweifel, mit dem Leben, dem Tod und all den Fragen dazwischen spielt. In der sie eine Meditation betreibt, die auf nichts hinaus will als allein auf die Reichhaltigkeit der Leere.

Viele Seiten lang geht es um alles, von der Rolle, die Coca Cola in der Welt spielt bis zu den Schwierigkeiten des Schreibens, um Rodrigo S. M., den Erzähler der Geschichte, aber nur sehr Rande um die Protagonistin selbst. In Nebensätzen erfährt der Leser, dass sie unterernährt ist, wie Rodrigo aus dem Nordosten Brasiliens stammt, als Schreibkraft arbeitet, 19 Jahre alt ist, und einer Kündigung nur knapp durch ihre unbeholfene Freundlichkeit entgeht. Sie ist Waise seit dem zweiten Lebensjahr. Aufgewachsen bei einer frömmlerischen, lieblosen Tante, reift sie zu einer jungen Frau in deren Leben

das Fehlen von Wissen [...] einen wichtigen Platz

hatte.

Erst nach der Hälfte der Erzählung bekommt sie endlich einen Namen: Macabéa. Einen Namen, von dem ihr Geliebter behauptet:

Entschuldigung, aber das klingt ja wie eine Krankheit, so was mit der Haut.

Olímpico, ihr Geliebter, der sie aber nicht einmal gern hat, ist das genaue Gegenteil von Macabéa. Weil er etwas aus sich machen will, hat er sich einen Goldzahn angeschafft. Die Tatsache, dass er einen Menschen umgebracht hat, setzt ihm in keiner Weise zu. Andererseits schnitzt er in seiner Freizeit Heiligenfiguren und ihm fehlt etwas, wenn er nicht mehrmals wöchentlich auf fremden Beerdigungen Tränen vergießen kann.

Währenddessen versucht Macabéa die Kulturnachrichten auf Radio Relógico zu verstehen, und zu begreifen, warum sie ein Lied von Carusco „una furtiva lacrima“ so berührt hat. Rodrigo vermutet:

Aber ich glaube auch, dass sie weinte, weil sie durch die Musik erahnen mochte, dass es andere Arten des Fühlens gab, Seinsweisen, die feiner waren und sogar einen gewissen Luxus der Seele kannten.

Im Gegensatz zum selbstbewusst einfältigen Olímpico ist Macabéa etwas Besonderes. Sie hat außergwöhnliche Gedanken und eine bemerkenswerte Haltung zum Leben, auch wenn das außer dem Erzähler niemand wahrnimmt. Sie weiß zwar nicht, wer sie ist, diese Frage erschreckt sie immer wieder, aber dennoch ist sie überzeugt davon, dass sie sich vermissen wird, nach ihrem Tod. Das ist die Logik, die Macabéa so liebenswert macht:

Sie war überschalllebendig. Niemand nahm wahr, dass sie mit ihrem Dasein die Schallmauer durchbrach.

Lispector beschreibt die Naivität ihrer Figuren stets liebevoll, niemals von oben herab. Selbst die Gleichgültigkeit des Armenarztes, den Macabéa aufsucht, oder die lieblose Behandlung Olímpicos und Glorias, der vermeintlichen Freundin, an den sie den Geliebten verliert, erscheinen weniger grausam als folgerichtig. Oder entsteht dieser Eindruck beim Lesen nur, weil uns der Erzähler immer wieder versichert, dass Macabéa nichts übel nimmt und vom Leben nichts erwartet?

Schließlich leiht Gloria Macabéa Geld für eine Kartenlegerin, bei der ihr

zum ersten Mal ein Schicksal zuteil werden sollte.

Madame Carlota, die Wahrsagerin, bescheinigt Macabéa zunächst, wie grauenvoll ihr Leben bislang verlaufen ist, um ihr dann eine großartige Zukunft vorauszusagen:

Ihre Augen weiteten sich vor plötzlichem Zukunftsthunger (Explosion). Und auch ich habe endlich Hoffnung.

Tragisch ist, dass Madame Carlota, offenbar die Zukunft der Frau, die vor Macabéa bei ihr gewesen ist, mit Macabéas Zukunft verwechselt hat. Nichts desto trotz erlebt Macabéa ihren „großen Augenblick“, als sie die Wahrsagerin verlässt. Erfüllt von Hoffnung. Ein Ende, das der Erzähler wiederum nicht abzuändern, sondern nur hinauszuzögern vermag. Zum Beispiel mit Sätzen wie diesen:

(Die Wahrheit ist immer eine innere Berührung, die sich nicht erklären lässt. Die Wahrheit lässt sich nicht erkennen. Gibt es sie deshalb nicht? Nein, für die Menschen gibt es sie nicht.)

Es ist nicht zuletzt die „unbeugsame Individualität“, die Benjamin Moser in seiner Biografie Clarice Lispector bescheinigt, die den Leser für Macabéa einnimmt. So unscheinbar und wehrlos sie auch erscheint, bleibt sie allem Unwissen, aller Naivität zum Trotz stets sie selbst.

Es ist das gekonnte Spiel zwischen Fakten und Fantasie, zwischen einer unweigerlich auf ihr Ende zulaufenden Erzählung und den ständigen Unterbrechungen im Erzählverlauf, die den unvergleichlichen Charme von „Der große Augenblick“ ausmachen. Eine Geschichte, die sich zwischen Tatsachen und der Möglichkeit des Erzählens abspielt und sie zu einer Betrachtung über nur scheinbar gegensätzliche Formen der Ohnmacht macht.

 

1 So Clarice Lispector in ihrem letzten Interview mit Júlio Lerner, das übrigens, ebenso wie „Der große Augenblick“ von Luis Ruby übersetzt worden ist, nachzulesen in der Zeitschrift „Schreibheft“ vom August 2013.

2 Der Name „Kordelliteratur“ erklärt sich durch die besondere Art, auf die die „Groschenheftchen“ in Brasilien zum Verkauf angeboten werden; häufig werden sie auf den Märkten an Wäscheleinen befestigt und lenken mit ihren bonbonfarbenen Umschlägen die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich. Die Kordellhefte sind nicht nur preiswert und beliebt, darüberhinaus besitzen sie eine hohe Glaubwürdigkeit. Es kommt vor, dass die Menschen aus dem Hinterland den Kordelheften eher glauben als der Zeitung oder dem Radio. Als am 27. Mai 1940 die Zeitungen meldeten, dass Corisco der Nachfolger des berüchtigten Räuberhautmanns Lampiäo gestorben sei, trauten die Menschen den Meldungen nicht. Erst nachdem ein „folheto“ über den Tod Coriscos erschien, glaubten sie die Nachricht.

Clarice Lispector
Der große Augenblick
Übersetzung:
Luis Ruby
Nachwort: Colm Tóibín
Schöffling & Co.
2016 · 128 Seiten · 18,95 Euro
ISBN:
978-3-89561-623-5

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