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Kritik

Eine Rückreise zur Quelle der Imagination

Hamburg

Was muss ein Dichter tun, der nach dem Ursprung der Dichtung sucht? Die nahe liegende Antwort ist: er muss in der Zeit zurückreisen. Doch er sollte unbedingt auch etwas anderes tun: hinabsteigen. Hinabsteigen bis zu den Wurzeln der menschlichen Kreativität, hinab in die Höhlen von Chauvet, Combarelles, Lascaux und Altamira. Hinab zu den Orten, an denen der Mensch zum ersten Mal die Bilder aus seinem Kopf befreite und zeichenhaft festhielt. Zur Quelle der Imagination also. Zumindest ist das die Erkenntnis des amerikanischen Lyrikers Clayton Eshleman, Jahrgang 1935. Eine Auswahl seiner Gedichte liegt jetzt bei Hanser erstmals auf Deutsch vor, übersetzt von Jürgen Brôcan. Die Texte stammen aus den Jahren 1974 bis 2010 und geben einen repräsentativen Überblick über Eshlemans Themen. Dabei ist die Kunst des Paläolithikums natürlich nur die Basis, wenn man so will. Denn Eshlemans Gedichte drehen sich nicht allein um den Ursprung der Poesie, sondern auch um die eigene Verortung als Künstler in einer 40.000-jährigen Traditionslinie. Die biblischen, griechischen und römischen Mythologien bilden dabei eine ebenso wichtige Wegmarke wie die Psychoanalyse C. G. Jungs oder die Reflexion künstlerischen Schaffens in der Moderne.

Eshleman Dichtung ist aber keinesfalls als eine Art poetische Chronik zu verstehen. Seine Texte sind vielmehr bis ins Hermetische verdichtete Geflechte, in denen der Zusammenhang von Geschichte und Gegenwart, Mythos und Moderne, Kunst und Psyche erkundet wird. Dabei entstehen nicht selten kleine Assoziationsuniversen, die Autor und Leser gleichermaßen fordern, aber auch einladen die Wirklichkeit mit künstlerischen Mitteln fast meditativ abzutasten. „Schreiben / wie ein Bildhauer meißelt, sich durchs Unbekannte schneiden, / die Heuschreckeninvasion des Unterbewußten einbinden, / Höhlen in der Zeile formen / und Alkoven in den Sätzen, die Zeilen bewohnen / mit nomadischen Lagerfeuern, / die den Karst durchziehn“ (Intention).

Doch Eshlemans Bildhauereien wirken nicht selten wie zentnerschwere Blöcke, deren Reiz einzig in der Verzierung, nicht aber in der Ausformung liegt. Immer wieder lässt sich der Autor zur Mischung von Gedicht und essayistischer Prosa hinreißen, ohne jedoch eine Balance zu finden. Dadurch ufern die Texte mitunter in eine epische Breite aus, die den Inhalt zu ersticken droht. Und so begleitet der Leser Eshleman bei seinen Abstiegen zum Ursprung im Panzertauchanzug. Zunächst ist man von seiner Archaik fasziniert, dann stellt man fest wie unbeweglich er ist. Dieser Eindruck mag auch an der ungewöhnlich hohen Dichte von Fremdwörtern liegen, an der die Übersetzung sicher ihren Anteil hat. Die Qualität von Brôcans Arbeit lässt sich indes kaum beurteilen, da die englischen Originaltexte fehlen.

„Die Friedhöfe des Paradieses“ sei dennoch all denen empfohlen, die von der Bedeutung der Ursprungsmythen für die Gegenwart ähnlich stark fasziniert sind wie der 76-jährige Autor.

Clayton Eshleman
Die Friedhöfe des Paradieses
Hanser
2011 · 104 Seiten · 14,90 Euro
ISBN:
978-3-446237377

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