Historische Fakten, die unter die Haut gehen.
Shanghai 1927. Die dreigeteilte Stadt wird von widersprüchlichen internationalen Interessen beherrscht, von Mächten, die sich mit Verbrechern verbünden, nicht nur Opium vertreiben, sondern auch das in Europa erfundene Heroin gewinnbringend einsetzen, die zerstrittenen Kommunisten gegeneinander ausspielen, das Land mit den War Lords ruinieren. Noch leben manche Familien nach traditionellen Mustern, aber die allgemeine Auflösung macht vor nichts Halt. Dieses Chaos nutzt die Wiener Sinologin und Journalistin Clementine Skorpil als Hintergrund für ihren hinreißenden zweiten Roman: Menschen unterschiedlicher Schichten sehnen sich, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, wollen überleben, ohne auf Würde, Bildung, Güte verzichten zu müssen.
Es geht nicht ohne Gewalt, ohne Verluste, ohne den Schrecken über das Böse und menschliche Gier. Aber es geht trotzdem mit erstaunlich viel Witz, subtilen Pointen, großartig geschriebenen Dialogen und Alltagsszenen.
Skorpil erschafft das lebendige, überzeugende Bild einer untergegangenen Epoche, zieht Parallelen ohne belehrenden Ton, beschreibt das Grauen mit einer zu Herzen gehenden Knappheit, die Wunden offen legt, ohne in ihnen zu bohren.
Ihr hintergründiger Humor zeigt sich auch in folgendem Detail: der Analphabet und Held Wen Pi lernt lesen und schreiben und verbessert seine Künste (auch, um einer geheimnisvollen jungen Ausländerin zu imponieren) mit der Lektüre der ins Chinesische übersetzten Kurzfassung von „Anna Karenina“. Er versteht Vieles an dieser Geschichte nicht, seine zeilenkurzen Zusammenfassungen sind geradezu irrwitzig komisch und helfen ihm trotzdem bei der Beurteilung seiner persönlichen Schwierigkeiten.
Wen Pi ist der älteste Sohn einer zerlumpten, ständig schwangeren Frau, ein bettelndes Kind mit bettelnden Freunden, die mit Beutezügen auf der Nordseite des Flusses im reichen Shanghai zu überleben versuchen. Wen Pi hat das Glück, von Lou Mang aufgenommen zu werden. Lou ist der charismatische kommunistische Student, den Skorpil für ihren ersten Shanghai-Roman „Gefallene Blüten“ erfunden hat. Er, seine Freundin Schneerose aus dem Bordell, Ai Ping, eine wunderbare alte Dame, die sich auf eingebundenen Füßen durchs Leben quält, und manch zwielichtiger Verbrecher werden Wen Pi helfen, einem Mörder und einem politischen Komplott auf die Spur zu kommen. Das wird Ideale, Blut und Liebe kosten.
Der auffallend komponierte Titel weist nicht nur auf das verzehrende Verlangen Wen Pis hin, sondern auf die Rolle, die Opium spielte und wie niederträchtig es eingesetzt wurde und wird, um Gesellschaften zu destabilisieren und Menschen beherrschen zu können.
Man sollte sich auf keinen Fall von den verwirrenden chinesischen Namen irritieren lassen. Dankenswerterweise werden zu Beginn erfundene und historische Persönlichkeiten aufgelistet, durchaus amüsant in ihrer Kurzbeschreibung. Erhellend ist auch das Nachwort der Autorin.
Vielleicht wäre es nicht notwendig gewesen, diese dichte Geschichte als einen Kriminalroman einem Genre zuzuweisen, das er ohnedies sprengt. Die Mordserie funktioniert als Vehikel, aber das eigentliche, funkelnde Leben erhält der Roman durch seine detailgenauen Szenen, die spezielle Figurenführung, die intelligente Art, politische Verwicklungen so berührend darzustellen. Clementine Skorpil hat wieder bewiesen, dass sie ihre Stimme nutzt, um historische Fakten unter die Haut gehend zu präsentieren: vergangene Geschichte ist immer Teil von uns und lehrt uns mehr, als manchen lieb sein dürfte.
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