Gezi war erst der Anfang
„Taksim ist überall“ ist das erste deutsche Buch, das die Ereignisse um die Gezi-Bewegung aufarbeitet. In der Türkei sind inzwischen an die 200 erschienen, die ersten bereits Anfang Juni 2013, in den ersten Tagen des Aufstands. Deniz Yücels Buch ist Berkin Elvan gewidmet. Am 16. Juni 2013 wollte der 14jährige im Istanbuler Stadtteil Okmeydani, in dem er mit seiner Familie lebte, Brot fürs Frühstück holen. Ein Polizist schoss ihm eine Gasgranate an den Hinterkopf. 269 Tage lag Berkin Elvan im Koma. Er starb am Morgen des 11. März 2013. Der Polizist, der geschossen hat, ist frei, es gab keine Ermittlungen. Zwei Millionen Menschen gingen an den folgenden Tagen auf die Straße, um zu trauern und um zu demonstrieren. Ein Ex-Minister der AKP nannte sie „Nekrophile“. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sagte, die Brotgeschichte sei eine Lüge, der Junge ein Terrorist gewesen. Auf die neuerlichen Demonstrationen reagierte der Staat wie üblich mit Gewalt. Die Bilanz: zwei Tote, rund 70 Verletzte, darunter mindestens acht Schwerverletzte, über 400 Verhaftungen. In denselben Tagen wies ein Gericht eine Klage zur Annullierung des Bauvorhabens im Gezi-Park in Istanbul zurück. Gezi war erst der Anfang, schreibt Deniz Yücel am Ende seines Buches.
Im Gegensatz zum Großteil der türkischen Publikationen ist es kein Schnellschuss, sondern eine tiefgehende und ausgewogene journalistische Arbeit, die die Ereignisse seit dem 28. Mai 2013 zum Anlass nimmt, die komplexen Zusammenhänge zu untersuchen, die zum Gezi-Aufstand geführt haben, die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen, die er mit sich gebracht hat, eingeschlossen. Zuallererst wird die historische Bedeutung des Taksim-Platzes in Istanbul geklärt, und die Geschichte des Parks, in dem die AKP-Regierung die osmanische Topcu-Kaserne neu errichten will. In den ersten Tagen von Gezi missdeutete die internationale Presse die Massenproteste als ein Aufbegehren von Umweltschützern, denen es um die Bäume im Park ging, doch das war nur ein Teilaspekt. Es geht auch um die symbolische und politische Bedeutung des Parks und des Platzes, auf dem Erdogan anstelle des jetzigen Atatürk-Denkmals eine Moschee errichten will.
Und es geht um eine repressive Politik, die kritische Journalisten und Künstler verfolgt, die Medien gleichschalten will und immer tiefer ins Privatleben der Menschen eingreift, während sie, wie der Korruptionsskandal offenbarte, der im Dezember 2013 öffentlich wurde, das Land ausraubt. Spätestens seit der brutalen Stürmung des Gezi-Parks am 15. Juni 2013 kennt man Tayyip Erdogans wahres Gesicht: das Antlitz eines machtbesoffenen Irren, dem jedes Mittel recht ist, um seine Pfründe zu sichern.
Yücel hält sich kaum damit auf, die Ereignisse nachzuzeichnen, sondern betrachtet ihre Zusammensetzung. Er befasst sich mit den zahlreichen Milieus, Mentalitäten und politischen Gruppen, die in den Gezi-Wochen zusammenkamen und durch ein friedliches Miteinander eine Atmosphäre schufen, die niemand erwartet hätte, und die, höchstwahrscheinlich, auch nicht wiederkehren wird. Die knapp zwei Wochen vom Beginn des Aufstands bis zur Stürmung des Parks waren etwas Besonderes, waren gelebte Demokratie in einer unfassbar friedlichen, einträchtigen Stimmung. Dass das nicht lange halten würde, zeichnete sich schnell ab, auch wenn man es erstmal nicht glauben wollte. Zu zerstritten sind die unterschiedlichen Gruppierungen, zu widersprüchlich die Perspektiven, als dass eine dauerhafte Einheit hätte entstehen können. Dennoch ist viel passiert. Viele, die Yücel zitiert, sehen Gezi als einen Wendepunkt. Nicht alle, aber einige Feindschaften wurden begraben. Die älteren Semester haben ihr Vorurteil, die Jüngeren seien unpolitisch, abgelegt. Gezi hat neue zivilgesellschaftliche Strukturen hervorgebracht, die vorher undenkbar gewesen wären.
Vor allem der nüchterne, ausdifferenzierte Blick macht Yücels Buch interessant. Ganz anders als die oft etwas zu sehr meinungsgeschwängerten Kolumnen in der taz. Einzig interessant ist, dass ein Aspekt überhaupt nicht im Buch auftaucht: die noch im Sommer 2013 neu gegründete Gezi-Partei, die bei zukünftigen Wahlen mit antreten will. Aber auch in Istanbul, auch unter den Gezi-Veteranen wird sie nicht ernstgenommen, viele wehren sich gar dagegen, die Gezi-Idee in ein parteipolitisches Korsett zu zwängen. Was nachvollziehbar ist. Doch was soll nach Tayyip Erdogan kommen? Die rechtsnationalistische MHP, die bis vor wenigen Jahren ganz vorn stand beim staatlichen Terror gegen Andersdenkende? Oder die kemalistisch-sozialistische CHP, die sich vor allem selbst auf den Füßen steht? - um nur mal die zwei größten Oppositionsparteien zu nennen. Oder eine gemäßigte AKP unter Gül statt Erdogan?
Natürlich gibt Yücels Buch hierauf keine Antwort, kann und will das auch gar nicht. Aber es zieht ein Fazit, nämlich dass Gezi erst der Anfang war. Dass ein neues Bewusstsein in großen Teilen der türkischen Bevölkerung entstanden ist. Ein Buch, das vor allem mit seinem klaren Blick auf Ereignisse und Hintergründe überzeugt. Ein Buch, das jenen, die dabei waren, noch einmal neue Aspekte darlegt und allen anderen einen intensiven, ausgewogenen Überblick über eine Türkei gibt, die gerade dabei ist, sich selbst zu finden.
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