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Kritik

Vor dem Putsch

Hamburg

Als nach dem Putschversuch im Sommer 2016 in der Türkei eine beispiellose Säuberungsaktion mit Zehntausenden Verhaftungen begann, als Hunderte Zeitungen und Fernsehsender geschlossen wurden, als jeder Oppositionelle plötzlich in Erdogans Fadenkreuz geriet, da sagten viele: Das ist schlimmer als 1980.

Der Sommer 1980 war von bürgerkriegsähnlichen Zuständen geprägt. Nationalisten und Linke bekriegten sich auf offener Straße, radikale Sunniten verübten Massaker an Aleviten, die staatliche Ordnung drohte zu zerbrechen. Im September putschte das Militär Präsident Demirel aus dem Amt und errichtete bis zu den Parlamentswahlen im November 1983 ein brutales Regime, das jegliche Opposition gegen den kemalistischen Staat zu vernichten versuchte.

In diesem Sommer spielt Ece Temelkurans neuer Roman „Stumme Schwäne“. Die Autorin war damals acht Jahre alt, ebenso wie ihre Protagonisten Ali und Ayse. Ayses Eltern sind wohlsituierte Beamte, politisch linksgerichtet. Ali ist der Sohn ihrer Putzfrau, die mit ihrem Mann in einem Gecekondu lebt – einem Armenviertel Ankaras. Als Ali und Ayse erfahren, dass der spätere Putschgeneral Kenan Evren den Schwänen in Ankaras Schwanenpark die Flügel brechen will, damit sie nicht wegfliegen können, wenn er sie als Zierde in seine Villa holt, fassen die Kinder einen Plan: Sie wollen die Schwäne retten. Denn, so glauben sie, all das Drama auf den Straßen, die besorgten Gesichter ihrer Eltern angesichts der Fernsehnachrichten – all das liegt an dem, was böse Menschen den Schwänen antun wollen.

Vor den Kindern haben die Eltern keine Geheimnisse. Sie sind sicher, dass Ayse und Ali noch gar nicht verstehen können, was im Land geschieht. Aber auch wenn sie nicht jedes Detail begreifen, so erfassen sie in kindlicher Naivität doch gut das Wesentliche. Dass die Welt durchdreht und Menschen anderen Menschen furchtbare Dinge antun aus nicht nachvollziehbaren Gründen. Die kindliche Perspektive, der verspielte Umgang mit dem zerfallenden Alltag und der wachsenden Nervosität der Eltern, lässt das Geschehen umso unmittelbarer und verstörender wirken. Bis hin zu jener erschütternden Szene, in der Alis Mutter von Polizisten gefoltert wird, bevor sie den Jungen allein in der leeren, dunklen Wohnung zurücklassen.

„Die Türkei, gegründet als ein böser Traum“, heißt es in der Einleitung. Was als Roman über historische Ereignisse daherkommt, ist tatsächlich hochaktuell. Die angespannte Stimmung, die Angst, in der Öffentlichkeit etwas Falsches zu sagen oder einer oppositionellen Gruppe zugerechnet zu werden – all das gibt es heute wieder, und die Abläufe sind denen von vor fast vierzig Jahren sehr ähnlich. Zwar ist der Putsch 2016 gescheitert – das Schreckensregime folgte trotzdem. Geschichte wiederholt sich eben doch – das demonstriert Ece Temelkuran eindrucksvoll. Es ist stellenweise, als würden die Blätter der Jahrzehnte ineinandergreifen, als würde man eine Geschichte aus der Jetztzeit lesen. Denn auch heute wieder geht es um Schwäne, deren Flügel gebrochen werden. Nur die Namen der Täter sind andere.

Ece Temelkuran
STUMME SCHWÄNE
Übersetzung: Johannes Neuner
Hoffmann & Campe
2017 · 384 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-455-40629-0

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