Bitte zur Seite treten und noch einmal neu denken
Ähnlich wie Ulrich, Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, sah sich wohl auch Egon Friedell durch den Verlust umfassender Gewissheiten zu einem essayistischen Leben gezwungen. So hätte er selbst das vermutlich nicht ausgedrückt, aber er konstatiert zum Beispiel: „Denn es gibt nun einmal keine ewigen Werte: Ewig ist nur unsere Sehnsucht nach ihnen.“ Und weil das viel ernster klingt, als Friedell für gewöhnlich geschrieben hat, soll er zunächst mit einer Selbstauskunft zu Wort kommen. Anlässlich seines 60. Geburtstags veröffentlichte Friedell im "Neuen Wiener Tagblatt" 1938 einen von tiefer Sorge diktierten Brief an die Redaktion: "Obgleich ich infolge meines überlangen Wirkens in der Öffentlichkeit nachgerade auch gegen die kompromittierenden Lobsprüche völlig abgehärtet bin, so bin ich trotz meines hohen Alters noch nicht abgeklärt genug, um bei offenkundig falschen Angaben nicht nervös zu werden. Darum stelle ich Ihnen folgende zuverlässige Daten zur Verfügung":
„Geboren am 21. Jänner 1878 in Wien, zweimal in Österreich und zweimal in Preußen maturiert, beim vierten Mal glänzend bestanden. In verhältnismäßig kurzer Zeit zum Doktor der Philosophie promoviert, wodurch ich die nötige Vorbildung zur artistischen Leitung des Kabaretts „Fledermaus“ erlangte. Da ich zur Erholung von dieser verantwortungsvollen Nachttätigkeit mich bei Tage mit essayistischen Arbeiten beschäftigte, erwarb ich den Titel eines „lachenden Philosophen“. Worauf mir nichts übrigeblieb, als zu dessen Widerlegung die „Judastragödie“ zu schreiben, deren Uraufführung im März 1923 im Burgtheater stattfand.
Anders als viele meiner Kollegen wurde ich erst auf Grund meiner dramatischen Tätigkeit Theaterrezensent. Mein Mangel an Kritik brachte Reinhardt auf den Gedanken, mich unter die ‚Schauspieler des Theaters in der Josefstadt‘ einzureihen. Als Darsteller neuzeitlicher Gestalten hatte ich Gelegenheit, umfangreiche Materialien zu meiner dreibändigen ‚Kulturgeschichte der Neuzeit‘ zu sammeln.“
Diese Kulturgeschichte ist es dann auch gewesen, die Friedell „berühmt“ gemacht hat. In sieben Sprachen übersetzt, aber niemals in der DDR erschienen, und bis heute, also seit achtzig Jahren, neu aufgelegt, ist es dieses Buch, das man mit dem Namen Egon Friedell in Verbindung bringt. Eine Biografie über Egon Friedell ist tatsächlich erst dieses Jahr erschienen. Geschrieben hat sie Bernhard Viel.
In dem sehr schön gestalteten und mit einem geschmackvollen Schuber versehenen „Vom Schaltwerk der Gedanken“ versammeln die Herausgeber Daniel Keel und Daniel Kampa nun Texte Friedells, die zwischen 1905 und 1950 erschienen sind, Aufsätze, die zwischen Blödsinn und Scharfsinn hin- und herpendeln, die die Widersprüche des Lebens ernst nehmen, indem sie dem Ernst das Spiel entgegensetzen.
Die ausgewählten Texte sind in fünf Themenkreise untergliedert, im Anhang findet sich ein Aufsatz über Egon Friedell von Wolfgang Lorenz. Da Friedell viele seiner früher entstandenen Texte geschickt in der Kulturgeschichte verarbeitet hat, kommt es an einigen Stellen vor, dass man Formulierungen doppelt liest. Das ist zunächst irritierend, zumal auch im Nachwort mit keinem Wort auf den Grund dafür eingegangen wird.
Ebenfalls irritierend sind die Äußerungen Friedells über Frauen. In dem Text „Die entdeckte Frau“ schreibt Friedell: „Im Laufe dieses Krieges haben wir die Frau sozusagen wieder einmal neu entdeckt. Es hat sich herausgestellt, daß sie für viele Tätigkeiten ebenso befähigt ist, wie der Mann, ja sogar befähigter. Das kommt daher, daß sie von Natur aus klüger ist. Ich beabsichtige jedoch, den Frauen damit nur ein sehr zweifelhaftes Kompliment zu machen. Sie sind klüger und fügen wir noch hinzu: verläßlicher, ordnungsliebender, anpassungsfähiger, geschickter. Aber der Grund von alledem ist ihre Nüchternheit, ihre Unoriginalität, ihr Mangel an Persönlichkeit, kurz ihre Phantasielosigkeit.“ Den Blödsinn, den Friedell, bei allem Scharfsinn und aller Intelligenz, die er in den übrigen Bereichen aufscheinen lässt, über Frauen schreibt, erklären mehrere Quellen durch das Trauma, das dem kleinen Egon durch den frühen Verlust der Mutter widerfahren ist, sie verließ die Familie wegen eines anderen Mannes, als Friedell, der damals noch Friedmann hieß, gerade drei Jahre alt war.
Von derartigen Merkwürdigkeiten abgesehen, ist die Lektüre der Texte jedoch ein Genuss. Bei Friedell bleibt nichts wie es scheint, er hinterfragt die Dinge, und kehrt sie um. So beweist er logisch schlüssig, dass jeder Fortschritt, jede Erfindung eine Taktlosigkeit ist, und dass wahre Meisterschaft nur von Dilettanten ausgeht, während unter Experten das Denken verödet. „Die menschlichen Betätigungen haben nur so lange eine wirkliche Lebenskraft, als sie von Dilettanten ausgeübt werden. Es ist im Grunde daran gar nichts Unnatürliches; paradox ist das Gegenteil, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil beim Dilettanten, beim Amateur das, was er gerade betreibt, nichts von ihm Losgelöstes ist, sondern sich mit seinem ganzen Menschen deckt [¡K] Der zweite Grund dafür, daß nur Dilettantismus fruchtbar ist, liegt darin, daß der Dilettant von seinen Fähigkeiten und sogar von seiner ganzen Tätigkeit so gut wie nichts weiß.“
Auf ähnliche Weise dementiert Friedell den Begriff des „Genies“, berichtet selbstironisch und humorvoll von den diversen Berufen, die er ausgeübt hat und von denen, die er erfolgreich gemieden hat.
Friedell nimmt die Begriffe auseinander und untersucht, was hinter gedankenlos und unhinterfragt gebrauchten Begriffen steckt. Was wird ausgedrückt und was ist gemeint? Fast immer deckt er dabei Widersprüche auf. Dabei ist er selbst ein Mensch der Widersprüche. Einerseits ein aufregend unabhängiger Geist, ist auch Friedell, wie manche Äußerungen und Aufsätze zeigen, im Zeitgeist befangen, so dass sich zu den chauvinistischen bisweilen auch reaktionäre Töne mischen. Den ersten Weltkrieg hat Friedell durchaus begrüßt.
Auch in seine Personenportraits integriert Friedell den Widerspruch. Sie bewegen sich immer zwischen Individualität und Zeitgeist und verdeutlichen auf diese Weise, wie große Persönlichkeiten sowohl den Lauf der Geschichte beeinflusst haben, als auch gefangen und beeinflusst waren vom Denken ihrer Zeit.
Die Zeit mit ihren manchmal sehr grausamen Denkweisen ist Friedell schließlich auch zum Verhängnis geworden. Die Möglichkeit, Deutschland zu verlassen, hat er abgelehnt und als dann eines Tages, kurz nach seinem 60. Geburtstag die SS vor Friedells Tür stand und nach dem „Jud Friedell“ verlangte, öffnete Egon Friedell das Fenster seiner Wohnung im dritten Stock, ruft den Passanten zu: „Bitte treten Sie zur Seite,“ und sprang.
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