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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

„Von Abhang und Abhang gezeugt“

Ernst Meister wird zum 100. Todestag mit einer monumentalen Werkausgabe geehrt
Hamburg

Am Morgen des 3. September 2011 fuhr ich nach Süden zu den Tälern von Ruhr, Lenne, Volme und Ennepe. Der kleine Friedhof Delstern, steil an einem der vielen Abhänge gelegen, besitzt denselben seltsam morbiden Charme, den die Stadt Hagen allenthalben ausstrahlt, architektonisch schroff wechseln sich Sechziger Jahre und Hochmodernität ab: Verwaltungsgebäude und Krematorium ein wildes Ensemble verschiedener Stilrichtungen, im Hinterhof eine Mauer, die für Exekutionen geeignet wäre, am Weg zwölf moderne Stelen, an überdimensionale Briefkästen erinnernd, nüchtern in ihren glatten Oberflächen und gerundeten Ecken, Namen darauf und Urnen darin. Ich gehe ein Stück weiter aufwärts, dorthin, wo nach Auskunft der Verwaltung die Berühmtheiten liegen, dann erkenne ich es sofort: In den Winkel eines Gesträuchs geduckt ein Stein, der sich beckenförmig senkt, eine elliptische Platte darüber. Dahinter, asymmetrisch versetzt, schwarze Blöcke mit eingemeißelten Signaturen, weniger dauerhaft als Horazens Erz und ganz zweifellos als seine Gedichte, ein letzter individueller Zug, dann die nüchternen Lebensdaten, als gehörten sie schon nicht mehr zu ihm. Zwei scheinbar aus demselben Stamm gewachsene Birken überdachen die Grabstelle, und gegenüber, sobald ich mich umdrehe, ein Nadelbaum mit abgeschuppter, wie räudiger Rinde. Überall Vogelhäuschen. Die Vögel indes hört man kaum unter der Geräuschkuppel des Autobahnzubringers, der weniger als zweihundert Meter von dem Grab entfernt sich zur Brücke spannt, ein Monument unaufhaltsamer Mobilität.

Es ist der 100. Geburtstag des Lyrikers Ernst Meister. Sein Grab (und das seiner Ehefrau Else, die unter dem Pseudonym Alice Koch schrieb), ist ein für einen Büchnerpreisträger und bedeutenden Dichter ziemlich schlichtes und — es läßt sich nicht diplomatisch schönreden — ungepflegtes Grab. Von allen Zeilen Ernst Meisters, die mich seit mehr als zwei Jahrzehnten täglich begleiten, sind an diesem Ort keine treffender als diese: „Geist zu sein / oder Staub, es ist / dasselbe im All“. Aber auch, in entschlossener Abkehr von Nietzsche: „Hier, /gekrümmt / zwischen zwei Nichtsen, / sage ich Liebe.“ An diesem Morgen steht kein anderer Pilger gemeinsam mit mir vor dem Grab, kein Kranz der Stadtverwaltung oder einer literarischen Organisation schmückt die Steine. Aber vielleicht schlägt irgendwo zu Hause einer seine Gedichte auf...

Ernst Meister hat den größten Teil seines Lebens in Hagen verbracht. Er wurde im Stadtteil Haspe geboren, studierte in Berlin und Frankfurt, war im zweiten Weltkrieg in Rußland, Frankreich und Italien stationiert, kehrte aber im Herbst 1945 nach Hagen zurück, um bis 1960 notgedrungen als Angestellter in der väterlichen Fabrik zu arbeiten. Unter seinem Brotberuf hat er sehr gelitten, es aber dennoch geschafft, ein fünfzehn Gedichtbände und mehrere Prosastücke und Dramen umfassendes Werk zu schreiben, für das ihm, dem oft schweigsam Zurückgezogenen, der Georg-Büchner-Preis verliehen wurde, allerdings erst posthum, denn Ernst Meister starb am 15. Juni 1979 in seiner Heimatstadt.

Der hohe Rang Ernst Meisters ist mittlerweile unbestritten. Davon zeugt die zahlreiche Titel umfassende Sekundärliteratur zu seinem Leben und Werk. Wie also sich ihm nähern? Peter Handke hat dem westfälischen Dichter ein persönliches Denkmal in Gestalt einer subjektiven Auswahl gesetzt, in der „das stetige wilde Todes- oder Sterbenmüssensbewußtsein“ Ernst Meisters zum Ausdruck komme. Als Vademecum ist sie allemal nützlich, ein Meister für unterwegs, in handlichem Format, für einen Gang unter den Bäumen irgendeines Friedhofs, um die Liebe zum Leben von seinem Ende her besser verstehen zu können.

Nicht persönliches Denkmal, sondern ein wahres Monument hat der Wallstein Verlag für den Dichter mit einer fünfbändigen Ausgabe errichtet. Diese neue Edition ist gleichermaßen als Lese- und als Studienausgabe geeignet. Die ersten drei Bände enthalten sämtliche von Ernst Meister zwischen 1932 und 1979 veröffentlichten Gedichte; der vierte Band hält einen textkritischen Apparat zur Textgenese bereit, und nebenher erfährt man, daß Meister am liebsten zunächst blaue, rote und grüne Kugelschreiber, später dann Filzstifte für die Entwürfe verwendet hat; der fünfte Band schließlich besteht aus Stellenkommentaren und Einführungen zur Entstehung der einzelnen Gedichtbände. Eine solche Aufteilung ist überaus leserfreundlich, denn im Gegensatz zu manchen anderen kritischen Ausgaben wird der Textteil nicht mit Fußnoten, Zeichen und Anmerkungen überfrachtet. Wem dieses Material nicht genügt, der kann (zeitaufwändig!) Digitalisate der verschiedenen Textzeugen und ein Verzeichnis von Ernst Meisters Bibliothek über eine Website herunterladen und (nicht ganz reibungslos) installieren.

Ernst Meisters lyrische Stimme ist hart und unerbittlich, von einer Ernsthaftigkeit, die sich kein Augenzwinkern und selten einen ironischen Schlenker gestattet, sie ist dunkel — nicht im Sinne unverständlicher Chiffrierung — als käme sie aus einem Schattenreichen, aber sie bricht immer wieder durch die Erde der Gräber hinauf in die Zonen kristallklaren Lichts und unverbrüchlicher Liebe zum Leben. „Sei, Erde, gesegnet / mit meiner Mutter / Knochen und meines Vaters / Verwestheit. Ich folge. // Ach, war ich nicht sie / und erzeugte mich, / zu erblicken / die Erscheinungen?“ Für mich sind Ernst Meisters Gedichte komprimierte Hymnen, vergleichbar nur mit der Kraft eines Hölderlin, erratische Hymnen der Negativität, aufgerichtet gegen die Unausweichlichkeit des Todes, stille Lieder als Gegengewichte zur Schwerkraft des Sterbens, Anrufungen an Niemanden allein um der Geste willen.

Wer einzelne Bände bevorzugt, der greife weiterhin zur Ausgabe im Rimbaud Verlag, zumal diese auch die unveröffentlichten Gedichte aus dem Nachlaß enthält; wer Ernst Meister publiziertes Werk in seinem gesamten Umfang erfahren möchte, dem sei die Wallstein-Ausgabe wärmstens empfohlen, denn sie gehört zweifellos zu den besten Editionen, die je einem deutschen Dichter der unmittelbaren Vergangenheit zuteil geworden sind.

Ernst Meister · Axel Gellhaus (Hg.) · Stephanie Jordans (Hg.) · Andreas Lohr (Hg.)
Gedichte
Textkritische und kommentierte Ausgabe
Wallstein
2011 · 2436 Seiten · 198,00 Euro
ISBN:
978-3-835307926

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