Mit freundlichen Grüßen
Es ist schon länger her. In Max Bills Schleife haben sich alle gängigen Sorten eau verfangen: Morgentau, Sommerregen, Nachttau. Erzählen wir die klassische Sage so: Es war im Jahr 1953, dass Eugen Gomringer unter dem Einfluss der Zürcher Konkreten um Max Bill die konkrete Poesie begründete. Selbstverständlich hatte es Vorläufer der konkreten Poesie gegeben, und nicht nur im 19. und 20. Jahrhundert, sondern auch, zum Beispiel, im England des 17. Jahrhunderts oder zur Zeit des Hellenismus. Selbstverständlich hatte Christian Morgenstern schon Fische gedichtet, George Herbert einen Altar und Simmias sein Ei, das wahre Urei, aus dem die Konkreten schlüpften, ein Ei lange vor 1953. Aber doch war die konkrete Poesie, wie sie Gomringer für die Nachkriegszeit konzipierte, etwas ganz Neues in der Radikalität, mit der sie den Blick von der Semantik der Worte lenkte und hin zu ihrer reinen Form. Und so wurden Gomringers konstellationen (1953) mitsamt der begleitenden Manifeste zu einem Gründungsdokument einer neuen Art Literatur.
Mittlerweile liegen die Rosenfinger der Dämmerung wieder in Daunen, und doch erreicht uns unverhofft noch ein Nachschlag. Seit einigen Jahren schreibt Eugen Gomringer Sonette, und dankenswerterweise hat er jetzt, im Jahr seines neunzigsten Geburtstages, eine schmale Auswahl veröffentlicht. Es handelt sich um elf seiner Partnerin Nortrud gewidmete Sonette, in denen Gomringer im Tagebuchstil von den Reisen mit ihr erzählt, Flüsse und Freunde betrachtet und über die Literatur nachdenkt. Von der konkreten Poesie ist kaum etwas übrig geblieben, nur der Schriftsatz vielleicht und die Interpunktionslosigkeit, ach ja, und das chlorweiße Papier, ansonsten ist alles einer persönlichen Mitteilungslyrik gewichen. Diese Tatsache an sich ist schon bemerkenswert. Man könnte sich fragen, ob die konkrete Poesie ihre Grenzen erreicht, wenn man in der Lyrik eine gewisse Privatheit anstrebt, oder ob sich ihr Reservoir, zumindest in der Form, die ihr Gomringer damals gesetzt hat, zuletzt erschöpft hat. Jedenfalls lesen wir hier einfache freundliche Gedichte, die uns Auskunft geben über den Revolutionär nach der Revolution.
Die Frage, ob diese Gedichte den Rang der Konstellationen erreichen, kann sich dabei gar nicht stellen. Denn selbstverständlich haben Gomringers Sonette eine völlig andere Funktion und einen ganz anderen Stellenwert in seinem Werk. Sie müssen keine bedeutenden Gedichte mehr sein. Ihr Wert liegt darin, dass ein bedeutender Dichter uns noch einmal einige Worte zukommen lässt, in denen er sein Leben und seine Literatur reflektiert. Am klarsten ist der Rückwärtsbezug im letzten der Sonette, „literatur mit kindli“, in dem Gomringer gewohnt humorvoll von einer Geburtstagslaudatio in Zürich und dem anschließenden Essen im Restaurant „Kindli“ erzählt, um zwei seiner berühmtesten Gedichte Revue passieren zu lassen, die Zürcher Ode und „schweigen“: „auch mein gedicht des schweigens ist ein plus / noch höher findet meine ode gnaden / die zürich preiset lotrecht wie ein faden.“ Aber natürlich belässt es der Revolutionär nicht bei der Revue. In einem der Sonette vergleicht er sich mit seiner Tochter Nora und verdeutlicht den Kontrast zwischen seiner am stummen Wortbild und ihrer an der gesprochenen Sprache orientierten Lyrik: „wenn ich nach ordnung meine sprache trimme ... wenn noras sprache sich nach aussen drängt.“ Da scheint aus diesen wertvollen kleinen Sonetten, die uns sacht wie Nougat den Magen schließen, doch schon wieder ein neuer Aufbruch, in der Sprache seiner Tochter, die gerade weil sie sich so sehr von seiner eigenen unterscheidet, mit Außendrang die Daunen noch einmal aufschüttelt, sechzig Jahre nach 1953.
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