Distanz aus Konstanz
Auf den ersten Blick ist der Titel eine Provokation, distant reading ist Protest gegen das close reading als Fetisch der Geisteswissenschaften. Schön, aber folgt daraus eine konzise Kritik oder ein neuer theoretischer Impuls? – Und da macht das Buch von Moretti früh ratlos. Weil es oft exzellent ist, aber genau jenes angedeutete Programm spät und unscharf bietet, genauer: scharf in der Detailarbeit. Das frappiert, weil offenbar distant reading doch irgendwie ein close reading bleiben muß.
Zunächst geht Moretti gegen den Kanon vor; das tat das close reading auch, jedenfalls programmatisch, doch die Genauigkeit habe wider die Intention derer, die genau hinsehen, den Kanon affirmiert und verengt, so Moretti. Stattdessen brauche es Distanz, „je ambitionierter das Projekt, desto größer muss die Entfernung sein.” Wieso? Weil das verdammt gut klingt. Es brauche die „Weltliteratur”, seit Goethe sei die aber bloß Schlagwort, bzw.: ein Problem, keine Lösung. Immerhin könne man mehr lesen, aber das sei wieder keine Lösung. Sie kommt dann aber auch nicht; gibt es sie?
Schlagwörter aber kommen: Zwei Dinge hätten schon mal „absolut nichts gemeinsam”, das müsse die Metaphorik eingestehen. Allerdings ist „Interpretation” keine 100 Seiten später das, „was eine Beziehung zwischen zwei Bedeutungen herstellt” – das klingt schon weniger naiv-ontologisch. Dazwischen Kluges zum Funktionswandel der Indizien in Kriminal- und Detektivgeschichten oder zu Neugier versus Spannung. Auch spannend: Beobachtungen zur Titellänge und der Aufmerksamkeitsökonomie (ohne Erwähnung allerdings wichtiger Theorien hierzu, Groys sucht man vergeblich), bis die Rolle von bestimmten und unbestimmten Artikeln mit Weinrich durchdekliniert wird.
Wenn es zu der Theorie zurückgehen soll, wird alles wieder etwas wirrer. Netzwerk, Knoten, toll, toll, sowas habe „keine Zentraltendenz” – Außenseiter gebe es gleichwohl; und wieder: wie? warum..? Und was sind „implizite” Netzwerke? Nennt man so Rhizome, wenn man sie nicht Rhizome nennen will?
Es ist nicht leicht, das Buch abschließend zu beurteilen. Es verlangt Geduld, es ist nicht immer überzeugend, Anregungen bietet es aber allemal.
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