Zwischen Stellaland und Nouvelle Suisse
Ich habe den arktischen Strudel-Schlund gesehen, die Insel Kalifornien besucht und bin mit der U-Bahn von Boston nach Peking gefahren – ohne umzusteigen. Das alles habe ich in wenigen Stunden geschafft, bequem von zu Hause aus und mit dem Finger auf der Landkarte bzw. vielen Landkarten. An die Hand gegeben wurden sie mir von Frank Jacobs, einem Experten für kartographische Kuriositäten. Der 1971 geborene Flame war schon als Kind begeistert von Landkarten. Da der Schulatlas ihm aber nicht genügend Raum für die eigene Phantasie gab, machte er sich auf die Suche nach Karten, die mehr als nur topographische und politische Realitäten mitzuteilen haben.
Im September 2006 startete Jacobs dann sein Weblog „Strange Maps“, auf dem er ausgewählte Karten präsentiert und die Geschichte dahinter erzählt. Was als ungewöhnliche Sammlung für Gleichgesinnte gedacht war, entwickelte sich schnell zu einer überaus gefragten Seite im Internet. Nach nur vier Monaten zählte „Strange Maps“ fast eine Million Klicks. Die englische Buchausgabe der kartographischen Sonderlinge, die 2009 erschien, wurde sofort zum Sachbuch-Bestseller. Nun liegt die Auswahl von Jacobs Blogs in Buchform unter dem Titel „Seltsame Karten“ endlich auch auf Deutsch vor.
Doch was macht dieses kartographische Phänomen so außergewöhnlich? In erster Linie natürlich seine Protagonisten. Doch die jahrelang von Jacobs zusammengesammelten Pläne, Grafiken und Tabellen taugen nicht zum Navigieren und erst recht nicht der Orientierung. Manchmal beziehen sie sich nicht einmal auf real existierende Orte, wie zum Beispiel Jules Vernes Karte von Nouvelle Suisse, dem Neu-Schweizerland, die dem Roman Der Schweizerische Robinson von Johann David Wyss entstammt. Jacobs versucht diese auf den ersten Blick unbrauchbaren Karten zu erläutern, die Umstände ihrer Entstehung nachzuerzählen und so eine Art Panoptikum der menschlichen Vorstellungskraft zu schaffen. So belegt eine Karte aus dem 14. Jahrhundert den Glauben an einen Strudel am Nordpol, der alle Wasser der Meere in sich aufsaugt und ins Erdinnere führt. Damit machte man sich bis ins 16. Jahrhundert hinein nicht nur ein Bild von der Landschaft nördlich des Polarkreises; man erklärte damit auch den Erdmagnetismus. Auch einer der populärsten kartographischen Irrtümer, nämlich die Annahme Kalifornien sei eine Insel, hielt sich lange Zeit hartnäckig. Erst im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeit, 1776, schaffte Juan Bautista de Anza mit einer Forschungsreise Klarheit und beendete damit die 250 Jahre anhaltenden Spekulationen.
Quelle: strange maps, Frank Jacobs
Frank Jacobs Buch ist auch ein (Anti-)Atlas der Wissenschaftsgeschichte. Er dokumentiert die Genese menschlicher Erkenntnisprozesse zwischen Fakten und Fiktionen. Dabei sind die Begleittexte zu den Karten nicht immer vollends befriedigend. Manchmal erläutern sie nur, was auf der jeweiligen Grafik abgebildet ist. Manchmal reißen die Erklärungen an dem Punkt ab, an dem sie er richtig interessant, da hintergründig werden. Dieser Umstand soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Seltsame Karten“ zu ungewöhnlichen und spannenden Entdeckungen einlädt. Oder wussten Sie schon, wo sich die Vereinigten Staaten von Stellaland befanden?
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