Die Substanz, der Glasschleifer, das Bett und der Spiegel, das Denken nicht zu vergessen
Die wichtigsten Utensilien der fast fernöstlichen Zen-Existenz des Baruch Spinoza sind ein ererbtes riesiges Bett und ein großer Spiegel, also die Symbole für Prokreation (… wo werden wir denn geboren?), Erotik (… und wo gezeugt?) sowie Identität der Person (… wo blicken wir uns in unsere Augen?).
Es ist eine seltsame Angelegenheit mit der Religion, natürlich ist man agnostisch, lehnt die verknöcherten Strukturen religiös begründeter kirchlicher Bürokratien ab und erfährt, dass das Mittelalter im 21. Jahrhundert beileibe nicht zu Ende ist: Ich kenne einen studierten, feinfühligen, jungen, lieben Menschen aus einem kleinen Ort bei Krakow, der allen Ernstes an die Machenschaften eines Pater Pio glaubte, der sich die Wundmale Christi beibrachte, über den (Schein-)Heiligen verfasste kleinformatige Broschüren verschlang und den westlichen Liberalismus verdammte. Offenbar sind die polnischen nationalistischen und xenophoben1 Haltungen der Rechten auch so verschroben religiös gefärbt.
Aber lassen wir Polen und nehmen Bayern. In der eindrucksvollen barocken Pfarrkirche des ehemaligen Benediktinerklosters Irsee steht rechts unweit des Eingangs an einem mächtigen Pfeiler die Mumie eines Bischofs in seinem goldbetressten Ornat. Vielleicht kann man zu ihm beten, jedenfalls kann man in sein ledernes Gesicht schauen. Schauderhaft. Wer will damit schon etwas zu tun haben? Es ist Mittelalter pur.
Aber andererseits sind Religionen eine der alten, wichtigen Möglichkeiten der Menschheit, die Welt anzuschauen und sich ein Bild von ihr zu machen und dann, ja dann gibt es Lebenslagen, in denen eine aufgeklärte Religiosität, die den küchenphilosophischen Trost der allmorgendlichen Radiostimmen beider christlicher Spielarten zu übersteigen in der Lage ist, wirklich Halt bietet. Baruch Spinoza nun ist eine Stimme, die diese aufgeklärte Religiosität erklingen lässt. Immerhin las Johann Wolfgang mit Frau von Willemer die Ethik, auch wenn es mir schwer fällt, es zu glauben. Nun lässt sich aber Herr Spinoza wirklich auch mit Erotik in Verbindung bringen, wie es der mazedonische Autor Goce Smilevski in seinem Roman Gespräch mit Spinoza nach dem mit dem European Union Prize for Literature ausgezeichneten Roman Sigmund Freuds Schwestern in vielerlei Hinsicht und manchmal gar ein wenig ausufernd tut. Er zeigt den Philosophen, der seinen Lebensunterhalt mit dem Schleifen von Linsen für seinerzeit hochmoderne Teleskope bestreitet, als einen heutigen Mann, der mit dem Problem zu kämpfen hat, wem er seine Lebenskraft widmen soll: Der geliebten Clara Maria, der Tochter Frans van den Emdens, und (vielleicht) dem geliebten Freund Johannes Keezer (Caesarius) oder seinem Werk. Das Ergebnis ist bekannt: Spinoza schaute in den Spiegel und entschied sich für die Ethik.
Goce Smilevski weicht dem philosophischen Gebäude Spinozas keineswegs aus, sondern vermag es knapp, aber präzise, so zu skizzieren, dass man folgen kann, eine bemerkenswerte Leistung, wenn man bedenkt, dass Spinoza Formulierungen fand, die sehr klar zu sein scheinen, den Leser aber Jahre hindurch nicht freigeben, hat er sich einmal darauf eingelassen:
„Alles, von dem wir klar und deutlich einsehen, daß es zur Natur2 eines Dinges gehört, das können wir in Wahrheit auch von dem Dinge selbst aussagen. Daß aber das Dasein zum Wesen Gottes gehört, können wir klar und deutlich einsehen.“3
Selbstverständlich ist es ein Zirkelschluss: Satz 1: Ich denke Gott. Satz 2: Wenn ich Gott denke, ist Gott, da Gott nur als seiend gedacht werden kann. Das beweist gar nichts und doch setzt Spinozas Satz seltsame, unverwüstliche Widerhaken. Bei Goce Smilevski heißt es im Gespräch zwischen Spinoza [S] und Clara Maria [CM]:
[CM:] „Gott?“
[S:] „Du kannst es Gott nennen. Oder Natur, die erschafft. Oder Substanz. Substanz ist das, was in sich ist und durch sich begriffen wird.“
[CM:] „Das heißt, die Wörter, die ich lese, und die Töne, die ich spiele, sind nicht in sich und können nicht durch sich begriffen werden?“
[S:] „Die Töne und die Wörter sind Modifikationen der endlosen Substanz; das heißt, die Substanz durchdringt sowohl die Wörter als auch die Töne, sodass ein Teil von ihnen, der Teil, der ihre Idee ist und damit Teil der Substanz, ihr Wesen begreift.“
Goce Smilevski weicht der Komplexität der Konzepte Spinozas nicht aus, sondern versucht, sie in den Gesprächen zugänglich darzustellen, offenbart aber ebenso bescheiden wie sympathisch im Anhang („Statt eines Nachworts“):
„Anfangs hatte ich Angst, Spinozas Philosophie nicht zu begreifen. Jetzt, am Schluss, wird mir klar, dass ich sie wohl tatsächlich nicht begriffen habe. Und dass das nicht schlimm ist.“
Es ist tatsächlich nicht schlimm, wenn es denn wirklich so sein sollte, denn es handelt sich um Literatur, nicht um eine philosophische Darstellung, für Goce Smilevski geht es auch um literarisches Spiel, nämlich Leben, Fühlen und Denken in der Erzählung zu vereinen, ein Spiel, das auf höchstem Niveau gelungen ist.
Clara Maria lehrt Spinoza Latein; ihr Schüler verliebt sich in sie:
„Träumst du davon, […] dass sie deinen Namen nicht nur ausspricht, wenn sie dich tadelt, dieses und jenes Adjektiv stehe nicht in diesem und jenem Kasus, sondern auch, wenn sie aufwacht und wenn sie einschläft? Träumst du davon, dass sie dir deinen Namen ins Ohr haucht?“
Die Sinnlichkeit des Körpers lehnt der Philosoph aber ab, nicht aus eng moralischen Gründen, sondern aufgrund der Endlichkeit des Körpers:
[S:] „Für den Körper ist die Unendlichkeit unerreichbar.“
[Johannes (J):] „Womit soll man dann Unendlichkeit erreichen?“
[S:] „Mit dem Verstand.“
Goce Smilevski spitzt Spinozas Sexualabwehr, oder um was auch immer es sich handeln mag, in einer zu einfachen, ein wenig zu direkten Frage des Johannes an Spinoza zu:
[J:] „Warum onanieren, wenn man auch Geschlechtsverkehr haben kann?“
Der menschliche Umgang mit Sexualität ist doch wohl komplexer und vielschichtiger, als dass er auf eine solch simple Ebene hinabzustufen wäre. Goce Smilevskis Spinoza wirkt konstruiert und folglich zu eindimensional: Der Philosoph hält sich in den Höhen der Abstraktion auf und deshalb bleiben seine Gelüste, die der Autor weidlich schildert, ungelebt. Das Konstrukt der dichotomischen Psyche, die scharfe Trennung von denkendem, gegen die Orthodoxie und enge Gebundenheit in sinnlose Rituale widerständigem Geist und darbendem Körper bedient ein Klischee, man hätte sich ein komplexes, an Farben reicheres Bild der Person Baruch Spinoza gewünscht. Der Philosoph war ein durchaus bekannter Mann, von dem es eine Fülle von Nachrichten gibt, wenn auch nicht aus allen Lebensabschnitten. Seine Liebe zu Büchern fehlt mir, immerhin war seine nahezu einzige materielle Hinterlassenschaft seine wertvolle Bibliothek. Wie verlief sein Alltag zwischen seiner Studierstube und der angrenzenden Werkstatt, in der er Linsen schliff?4 Auch die in materieller Hinsicht nahezu klösterlich einfache Lebensweise spielt keine Rolle, in dieser Selbstbeschränkung folgt Goce Smilevski in gewisser Weise seiner Romangestalt oder eher seiner Deutung der Figur:
„Die Vorstellung, die man durch die Sinne erhält, ist niemals die Essenz von etwas, sondern nur seine Erscheinung.“
Dass der Autor aber tatsächliche eine Person in wenigen Strichen treffend zeichnen kann, zeigt sich in seiner satirischen Wiedergabe des (erfundenen) Zusammentreffens Spinozas mit Ludwig XIV., besser ist das Hohle des spätfeudalistischen Systems kaum darzustellen. Die Szene zeigt auch, dass Goce Smilevski mit entlarvendem Witz zu schreiben versteht.
Handwerklich ist der Text auf der Höhe der Zeit. Die Perspektive des auktorialen Erzählers wechselt mit der des Baruch Spinoza als Ich-Erzähler, so dass das Gespräch mit Spinoza entstehen kann und trotz der über drei Jahrhunderte weiten Zeitkluft der Eindruck von Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit entsteht. Der schmale Band (157 Seiten) ist in „sechs Fäden“ und eine kurze Zusammenführung gegliedert; die Konstruktion lässt vielfältige Perspektivenwechsel zu, so stehen beispielsweise in dem sehr kurzen „Dritten Faden“ in sehr unterschiedlichen Lebensabschnitten gefertigte Porträts im Mittelpunkt. Eine große Leistung ist es, die abstrakte Höhe der Gedanken Spinozas lebendig in das Gespräch einzubinden, ohne sie zu verwässern.
Der Übersetzer Benjamin Langer hat eine klare, nüchterne Sprache gefunden, die der Figur Spinoza angemessen ist. Da ich des Mazedonischen nicht mächtig bin, kann ich zu Fragen der Äquivalenz nichts ausführen. Wer nicht auf die spröde Art Spinozas Denken (wieder) begegnen möchte, indem er die Traktate liest, kann den Roman als eine unterhaltsame Einführung in den Spinozismus lesen, ohne dass sein Schöpfer in seiner Theorie verschwände. Im Gegenteil, er ist gegenwärtig, als fühlender oder an seinem Fühlen leidender und dann gehemmter Mann, wenn auch in einer seltsam blassen Weise, so als blicke man auf ein langsam verblassendes Photo der Großvätergeneration. Und das strahlt durchaus einen besonderen Reiz aus.
- 1. Die (katholische) Regierung Polens lehnte es bei 38 Millionen Einwohnern zuletzt ab, 6000 Flüchtlinge gemäß der europäischen Aufteilung der Geflohenen aufzunehmen, dies entspricht 0,016 %. Die geringe Prozentzahl scheint gleichzeitig ein Wert für das Maß von caritas und Nächstenliebe zu sein.
- 2. (Fn. Spinozas:) d. h. die bestimmte Natur, durch welche das Ding das ist, was es ist, und welche von ihm in keiner Weise getrennt werden kann, ohne daß zugleich das Ding selbst vernichtet werde; wie z. B, zum Wesen eines Berges gehört, daß er ein Tal habe, oder das Wesen eines Berges ist, daß er ein Tal habe, was wahrhaft ewig und unveränderlich ist und im Begriff eines Berges immer enthalten sein muß, wenn er auch niemals war oder ist.
- 3. C. Schaarschmidt [Übers.]: B. de Spinozas kurzgefasste Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück, Leipzig 1907, S. 3
- 4. Beide Räume sind abgebildet in: Theun der Vries. Baruch de Spinoza, Reinbek 1999, rowohlts monographien 50171. S. 69 f.
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