Kettensägenmassaker
„La Oculta” heißt „Die Verborgene”. So hat der Ahn und Gründer die Finca genannt, um die es in dem kolumbianischen Familienroman geht. Sie liegt versteckt in den Bergen der Provinz Antioquia, zwei Autostunden von Medellín entfernt. Der Autor Héctor Abad ist einer der Erben des Anwesens. Er selbst hat das tropische Landhaus an einem künstlichen, dem Urwaldsumpf abgewonnenen See für das Buch fotografiert.1
Schon zwei Jahre nach der in Kolumbien mit großem Interesse aufgenommenen Veröffentlichung erscheint „La Oculta” im Berenberg Verlag deutsch. Dort sind bereits Abads andere Bücher – „Brief an einen Schatten”2 und „Das Gedicht in der Tasche” herausgekommen. „Kulinarisches Traktat an traurige Frauen” ist dagegen bei Wagenbach erschienen und auch als Hörbuch erhältlich.
Der kolumbianische Intellektuelle, der in seiner Heimat schon vor der Verarbeitung von Ereignissen aus seiner Familiengeschichte als Übersetzer aus dem Italienischen, Journalist, Blogger und Kolumnist bekannt war, ist auch in Deutschland kein Unbekannter. Zuletzt trat er auf dem Berliner Literaturfestival auf. Auch die Entstehungsgeschichte des Romans ist mit Berlin verbunden. Der sympathische End-Fünfziger erzählt sie in einem Interview lebendiger als die hausgemachten Schicksale im Roman „La Oculta”: Als DAAD-Stipendiat ein Jahr an der Spree, wollte Héctor Abad ein Buch mit dem Titel „Erinnerungen eines impotenten Mannes” schreiben. Mit dem Manuskript auf dem Gepäckträger durchquerte er eines Abends die Stadt, auf dem Heimweg von einem Essen mit seinem Verleger. Auf der Fahrt gingen seine Notizen verloren. Der Verlust zwang ihn zur Bearbeitung eines schon aufgegebenen Unterfangens, „La Oculta”. – Die verlorene Kladde sei schließlich wieder aufgetaucht, von einem Schüler auf der Straße gefunden. Auf die Notiz hin, dass im Fall der Rückerstattung Finderlohn winke, hätte allerdings nicht der Finder bei der für den Verlustfall vermerkten Telefonnummer angerufen, sondern sein Zwilling. Der erleichtert zum Buch-Abholen Angeradelte wurde in der Familie der beiden zum Kaffee eingeladen. Nach Entdeckung der doppelten Wiederbeschaffungsautorschaft durch das Bubenpaar hätte er dann gleich den zweifachen Finderlohn berappt, gibt Héctor Abad verschmitzt zum Besten – charmanter als sein Roman.
An und für sich ist es eine glänzende Idee, eine Immobilie erzählen zu lassen. Jenny Erpenbeck gelang es 2008 mit „Heimsuchung” ganz trefflich, wo ein Haus die Vorgänge bezeugt, die es durch die Schicksale seiner Bewohner oder Besucher am Weltgeschehen teilhat.
In „La Oculta” wird kolumbianische Geschichte von drei Protagonisten erzählt, die nach dem Tod der biologischen Mutter entscheiden müssen, was mit dem Haus, ihrem Mutterleib im kulturellen Sinn, geschehen soll. In Monologen erinnern sich die Geschwister Antonio, Pilar und Eva abwechselnd, was sie mit dem als Sommerhaus genutzten Anwesen verbindet. Die Beiträge könnten unterschiedlicher nicht sein und reichen von den verschieden wahrgenommenen Eltern und erste sexuelle Erfahrungen bis hin zu Verbrechen im Umfeld der Finca. Trotz dieser Individualitäten gelten die Befindlichkeiten und Vorfälle für ganz Antioquia, eine der 32 Provinzen Kolumbiens. „La Oculta” meint allgemein die Landesgeschichte bzw. den für die ganze Nation typischen Hausstand der Mittelklasse-Familie des Autors.
Dergleichen kennt man von Isabel Allende („Das Geisterhaus") und Mario Vargas Llosa („Der Krieg am Ende der Welt”, „Gespräch in der Kathedrale”, „Das grüne Haus”), ja vor allem aus „Hundert Jahre Einsamkeit” des bekanntesten kolumbianischen Fabulierers Gabriel García Márquez, Begründer des magischen Realismus. Doch erzählerische Unbefangenenheit wie bei diesem großen Landsmann liegt Héctor Abad fern, dafür ist „La Oculta” zu konstruiert. Wie in Pasternaks „Doktor Schiwago” die Figuren Sprachrohre philosophischer Positionen bleiben, ohne lebendiges Fleisch anzusetzen, gehorchen die Personen in „La Oculta” einer sauber und symmetrisch ausgeheckten Familienaufstellung. Beispielsweise entpuppt sich zu Ende des Romans der Stammvater der Familie nicht nur als Marrane, d.h. spanischer Jude im Gewand eines Katholiken, sondern auch noch als Palästinenser: Sein Sohn ist biologisch Ismaels als in sozialisierter Hinsicht Israels Nachfahr – wie Abraham beider Vater. Das gerecht gemeinte Gerüst des Erzählkerns, weil es unzureichend mit Handlung bedeckt ist, hält keinem Ansturm von Lese-Leidenschaft stand. Dabei soll die außereheliche Affäre der Urgroßmutter mit dem „Türken” stürmisch gewesen sein.
Ein anderes Beispiel für allzu ausgewogene Symmetrie sind die unterschiedlichen Schwestern Pilar und Eva, die in etwa Hera und Aphrodite entsprechen; dagegen ist nichts einzuwenden, würde ihre Gegensätzlichkeit im Wesen nicht mehr konstatiert als ausgeführt.
Nicht nur, dass der schwule Antonio im Homophobie-Exil in New York lebt, seine in Kolumbiens Eliten mehrfach verheiratet gewesene und stets begehrte, schöne, reiche, gescheite und geschäftstüchtige Schwester Eva – Nomen est omen –, selbstbestimmte Praktikantin der Polyandrie und weiblicher Macho, erfährt sich mit 50+, gerade noch rechtzeitig vor Ende der Geschichte, als Lesbe.
Das entspricht in der aktuellen Geschichte Kolumbiens einer Liaison zwischen der Ministerin für Wirtschaft, Industrie und Tourismus, Cecilia Álvarez-Correa Glen, und ihrer viel jüngeren Partnerin, Bildungsministerin Gina Parody, für die der Autor sich derzeit in seinem tagespolitischen Blog stark macht. Seit Parody ein Schulbuch approbiert hat, worin Gleichgeschlechtlichkeit eine mögliche sexuelle Orientierung genannt wird, laufen die Konservativen Kolumbiens Sturm und haben gar eine Demonstration gegen die Toleranz auf die Beine gestellt – als gäbe es in dem seit einem halben Jahrhundert im Schmutzigen Krieg befindlichen Land keine dringlicheren Agenden.
Die Anspielungen und in „La Oculta” verwendeten Namen meinen in Kolumbien bekannte Stimmen aus Politik und Literatur. Einem hiesigen Leser fehlt dazu das Verständnis, die Geschichte geht als möglicher Schlüsselroman nicht auf.
Vieles wird von den drei Erzählenden in „La Oculta” beschworen, ohne dass sich die zur Beschreibung genannten Farben und Aromen, das Klima der Region, einstellen wollten. Einiges wirkt vorsätzlich aufgezählt anstatt mit Verve erzählt.
Abad – dessen Vater ein prominenter Bürgerrechtler war und einem Anschlag zum Opfer fiel – hat lange in Europa gelebt. Umso mehr fühlt er sich bemüßigt, im elegant-verschmitzten Stil der italienischen Postmoderne gegen unangebrachte Empörung, Scheinheiligkeit und Machismo anzuschreiben. Andere KolumbianerInnen schlugen ihr Exil in Katalonien oder London, den USA oder Mexiko auf und erlebten dementsprechend verschiedene literarische Sozialisationen.
Ich denke hier an den Charles Bukowski der kolumbianischen Literatur, Fernando Vallejo (deutsch: „Die Madonna der Mörder”, ‑„Blaue Tage”), seit 50 Jahren in Mexiko lebend, wo er das Gewaltpotential Medellíns, seiner mit Abad geteilten Heimatstadt, verarbeitet; weiters die lang in Spanien, Argentinien und den USA lebende Laura Restrepo („Der Engel an meiner Seite”, „Die Insel der Verlorenen” u.v.a.), Sergio Alvarez („35 Tote”) und Antonio Ungar („Drei weiße Särge”), um nur ein paar von Kolumbiens lesenswertesten TeilzeitexilantInnen zu nennen, die allesamt mehr für das üppig wuchernde Tropenholz des kolumbianischen Erzählwunders stehen mögen, und sei es auch nicht mehr im Urwaldklima gewachsen, sondern die in rasante Literatur umgesetzte kriminelle Energie von Calí, Medellín, Cartagena und Bogotá – Großstadtdschungel wie im Spielfilm „City of God” der Brasilianer/in Fernando Meirelles/Kátia Lund, nach dem Roman von Paulo Lins, 1997 herausgekommen. Vorbild dieses Brasilianers war der tragische Held der kolumbianischen Literatur, Journalist und Drehbuchschreiber Andrés Caicedo – auch in „La Occulta” hat eine Figur seinen Familiennamen –, der sich 1977 am Erscheinungstag seines Romans „Salsavida” (dt. 1997) mit 26 das Leben genommen hat. Das Original ist eine wilde Tanz- und Drogenorgie namens „Que viva la música”, bei der aus Perspektive einer jungen blonden Erzählerin der atemlose Gang vom reichen Norden in den elenden Süden der Drogenstadt Calí erzählt wird. Die Verfilmung durch Carlos Moreno müsste demnächst in unsere Kinos kommen.
Verglichen mit diesen Romanciers überzeugt Abad als Erzähler nicht. Zu den besten Passagen aus „La Oculta” gehören die aus dem Munde Antonios, des Alter Egos von Héctor Abad. Antonio betreibt Ahnenforschung, wie seine Schwestern nicht müde zu erwähnen werden. Auf Grundlage seiner Recherchen entsteht eine Art Gründungsepos von der Kolonisierung der Region:
„[Unsere Familien] hatten diese bergigen Länder von den Republikanern erhalten, weil sie Verbündete und Unterstützer der Truppen gewesen waren, die Kolumbien von der Herrschaft des spanischen Königs befreiten. [...] Das Land um La Oculta ist niemals von irgendwelchen spanischen Monarchen an irgendwelche zweit- oder drittrangigen Adligen verschenkt worden, die man nicht zuletzt deshalb in die Neue Welt entsandt hatte, um sich wenigstens eines Teils der Unmenge bittstellerischer und streitsüchtiger Tagediebe zu entledigen, die sich bei Hofe tummelten. Ebenso wenig ist La Oculta aber aus einer Mission, einem Kloster oder einem Priesterseminar hervorgegangen wie viele andere Siedlungen in Amerika. Die ersten Bewohner [...]” (S.62f)
Der Ton setzt sich leider nicht durch. Generell wirkt „La Oculta” zu weich, zu gewollt, aus mangelndem Vertrauen in den Leser redundant, gleichwohl mit dem Holzhammer insistierend. Das Kolumbien inhärente Gewaltpotenzial wird vom sanften Abad – Urheber-Ich des feinsinnigen, verzagten Geigers Antonio – in Form von Selbstaufgabe getilgt.
Dazu gehört das Motiv der Kettensäge, das im Bild von „La Oculta” erstmals auf dem untypisch idyllischen Gemälde Jons auftaucht. Jon ist der afroamerikanische Partner von Antonio, ein New Yorker Szene-Künstler. Bezeichnenderweise ergänzt Eva, die Realistin, das Kitschbild um das martialische Detail, denn sie malt eine Kettensäge dazu. Das wirkt so aufgesetzt und gewaltsam eingefügt, dass man ahnt: „Achtung, Motiv!"
Dieselbe Eva ist es, die sich der Erpresserbande „Los músicos” stellt, die die Familie zum Verkauf der Finca zwingen möchte. Die Drogenbarone pflegen mit Kettensägen ihre Opfer zerteilen zu lassen, das ist ihre „Musik". Den feinsinnigen Antonio hat sie aus dem Land getrieben. Die „Musiker” handeln ur-kolumbianisch, wogegen Antonio, im Refugium New York, das Fiedeln anseiten des erfolgreichen Familienerhalters Jon bald aufgibt. Das Kettensägenmassaker wurde nur von Próspero, dem Verwalter, beobachtet und von den Familienmitgliedern nicht zur Kenntnis genommen; im Roman eine der auf irritierende Weise nicht eingearbeiteten Stellen. Kettensägen kommen zu oft und allzu deutlich vor, zum Schluss zum Umsägen der noch nicht ausgewachsenen Tropenhölzer, das Anwesen in Bauparzellen für eine Feriensiedlung zu zerstückeln.
Der Roman krankt an Künstlichkeit beim Spagat zwischen Familienchronik, historischem Material über die Besiedlung der Region und Geschichtenerzählung.
Das Schwächeln kann nicht an der Übersetzung durch Peter Kultzen liegen, sondern an zu viel Struktur bei wenig Erzähltrieb.
Auch wirkt sich ungünstig aus, dass die echte Familiengeschichte Abads, das Buch für seinen einem Anschlag zum Opfer gefallenen Vater, „Brief an einen Schatten”, bereits vorliegt. Vergleicht man sie mit „La Oculta”, wird die Gebautheit an den Abweichungen offen: Die wirkliche Mutter der Geschwister ist Unternehmerin, sie handelt mit Immobilien. Ihre Lebensanschauung vom gesunden Kapitalismus der Tüchtigen steht für die Geister des kolumbianischen Unternehmertums. Dass die Roman-Mutter, Arztfrau wie in der Realität, eine Bäckerei führt, wirkt unglaubwürdig.
Zwar legt es der Autor gar nicht in dieselbe Liga an, in die ihn viele Kritiker heben wollen; vielmehr sieht er seine Bücher, die er nicht mit großen Meisterwerken verglichen haben möchte, als seine „Kinder” an. Abad nennt „La Oculta” eine Umgestaltung seiner Lebenserfahrungen in einen Roman: „Freilich erzählt man vor allem, was man spürt; übersetzt das erfahrene Wahre in Worte; trotzdem findet ein Verrat an dieser Wahrheit statt. ,La Oculta' ist der bleibende Rest: Waffenstillstand zwischen meiner Erfahrung und der Art, wie ich erzähle.” – „Verrat”, „Waffenstillstand”: Wir haben es mit einem Kolumbianer zu tun, vertraut mit der Unzuverlässigkeit von Friedensabkommen wie jüngst wieder zwischen Rebellenarmee FARC und dem Staat – und schon wieder für ungültig erklärt. Nach 52 Jahren Krieg zwischen Paramilitärs, Drogenkartellen und Lokalpolitikern ist das martialische Vokabular bei kolumbianischen AutorInnen nichts Ungewöhnliches – auch wenn „La Oculta” das entsprechende Lebensgefühl nicht überzeugend vermittelt.
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