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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

„Es ginge auch anders”: Deterings bzw. Reclams Buch der deutschen Gedichte

Hamburg

Lyrik ist in einer prekären Situation. Nicht nur gegenwärtig, eher wohl grundsätzlich. Gedichte sagen das Ungesagte, Unsagbare und Unsägliche, indem sie jenen eine Stimme verleihen, die man nicht hört, aus Lyrik entsteht Gerechtigkeit, sie sieht das Unrecht und träumt von anderem, eine Schönheit, die Bilder so wohl nicht kennen. Auch wenn solche moralische Aufladung problematisch ist – oder: latent (klein-)bürgerlich –, das ist es, warum Lyrik immer exponiert ist.

Zugleich ist dies natürlich der Grund, warum Lyrik so wichtig ist. Literatur allgemein und Gedichte im Speziellen bereichern uns hierin: wenn Menschlichkeit als Bereicherung bezeichnet werden kann. Wie ungut ist es folglich, wenn ein Machtmensch sich der Lyrik bedient1..! Oder: wie ungut wäre es, würde die Lyrik sich dagegen nicht sperren, die Nicht-Vereinnahmbarkeit von Dichtung ist ja, womit sie beginnt, als geglückte ein Rätsel…

„Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache.” (Theodor W. Adorno)

Sprache: das noch zu Sagende, jedem, das latente Reservoir von Erfahrung des sonst stumm – nicht – Widerfahrenen, wenn man an Gedichte denkt, die einem plötzlich helfen. Nicht in einem therapeutischen Sinne müssen sie helfen, sie helfen, indem man sie schreibt oder memoriert, etwas zu sehen. Dichtung lehrt je den Takt, sozusagen, wer über Gedichte verfügt (nämlich in dem Sinne, daß ein Mensch sie kennt, sie also zitieren kann, so fremd sie bleiben), der hat „Rhythmus auf verschiedenen Ebenen”, so Gumbrecht im schönen Band Kind und Gedicht.2

Dichtung ist also die Möglichkeit neuer, anderer Wege – ob es Umwege sind, darüber läßt sich wie bei dieser Einleitung streiten. So ausufernd ist diese gar nicht, wenn man sie mit dem in Beziehung setzt, was an Biographien auf dann doch knapp werdenden Raum Detering dem Leser antut, aber dazu ist noch zu kommen.

Lyrik also: Denn das Thema dieser Besprechung ist die Anthologie Reclams Buch der deutschen Gedichte, worin Heinrich Detering einige der schönsten, fremdartigsten, bereicherndsten und verstörendsten Texte der deutschen – deutschsprachigen – Lyrik chronologisch in zwei Bänden ge- und versammelt hat.

Die Anfänge orientieren sich am Kanonischen, mit den Merseburger Zaubersprüchen geht es los, mitten durch das Mittelhochdeutsche, mit dem Anspruch, auch „Vernachlässigte und Vergessene” hier vorzustellen, außerdem: Dichtung als „Gespräch”, und zwar im Sinne thematischer und formaler Korrespondenzen, wobei auch Widerspruch dies ist – warum vor dem Hintergrund „Parodien […] nur ausnahmsweise aufgenommen” worden sind, ist dabei freilich unstimmig, denn wenn es in den dennoch Aufgenommenen um je Originelles – „aus dem […] Spott […] neue Positionen” – geht, so ist das doch das Kriterium der Anthologie insgesamt, bis zu einem gewissen Grade; also: die Hypothese, daß deutschsprachige Parodien oft entweder nicht als solche wahrgenommen würden, oder aber schlecht wären… Egal, von diesem Versprechen wird sowieso nicht viel gehalten, aber ich will nicht vorgreifen.

Überzeugender ist das chronologische Prinzip, womit genau dieses Antworten sichtbar werden soll: „Auf Josef Weinhebers Klage und Selbstanklage folgt das Requiem für einen Faschisten, das der einstige Freund Theodor Kramer dann für den Selbstmörder schrieb.” Auch „Genealogien” seien darzutun, so Detering zu Celan, dessen „Weg […] durch Czernowitz und Bukarest führt”, allerdings, und das ist so fraglich, „zu Paul Celans Todesfuge” wie einem Endpunkt.

Zur „Wahrung der Aura eines Gedichts” äußert sich Detering dann noch, zur „Wahrung des Lautstandes”, aber nicht zur Übertragung der Texte aus dem Mittelhochdeutschen, die immerhin – löblich – im Original abgedruckt sind. Und zuletzt konzediert der Herausgeber noch: „Es ginge auch anders”…

Zunächst ist alles sehr solide, wenig Überraschendes. Das Prinzip der Korrespondenz geht manchmal ins Buch ein, manchmal auch nicht, das Interface hat ja Grenzen. Spannend wären diese Entsprechungen ja, wenn Die Hölle bei Gryphius so beginnt:

„Mord! Zetter! Jammer / Angst / Creutz! Marter! Würmer! Plagen.
Pech! Folter! Hencker! Flamm! Stanck! Geister! Kälte! Zagen!”

– wäre da nicht reizvoll, Ann Cotten daneben zu haben, die mit einem Gedicht vertreten ist (846), das schön ist, aber gerade nicht die Poetik der Listen3 bespielt, die diese Dichterin ja auch beherrscht..? Wäre da nicht übrigens eine CD-ROM als Beigabe anzudenken, nicht nach dem Vorbild der Digitalen Bibliothek (Band: Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke), die – mit ihren eigenen Schwächen – freilich interessant ist, auch tatsächlich als Beigabe, denn schöner sind diese Bände ohne Frage…

                        … aber als Beigabe das einlösend, was Detering andenkt: Sein Sprung von Philipp von Zesen zu Mayröcker ist ja auch nicht klein.

Wo, ob einer Klassiker oder doch schon fast Vergessener sei, unklar ist, da findet man hier erfreulicherweise einiges, nämlich aus dem Werk Klopstocks. 19 Seiten sind eine erfreuliche Aus- und Ansage; die Korrespondenz betreffend hätte sich hier allerdings angeboten, das La Rouchefoucauld gewidmete Sie, und nicht wir nicht nur mit Klopstocks späterem Mein Irrtum zu kontrastieren, sondern auch mit Klopstocks An La Rouchefoucauls Schatten, bzw. dieses wenigstens zu erwähnen, worin jener – ermordet – nun, und zwar mit Vorwürfen an jene, die ihn töteten, gewürdigt wird, Vorwürfen an jene, mit denen dieser Herzog und eben auch Klopstock sich solidarisieren hatten wollen.

Und Der Zürchersee ohne Rühmkorfs Replik, nach der Rede von den herzustellenden Beziehungen?

Sprung nach vorne, nun Sprung nicht ganz so weit zurück: Eduard Mörikes Auf eine Lampe kommentiert Detering, während er sonst wie gesagt hier geschickt agiert, fahrlässig: „in ihm selbst: in sich selbst”, das nimmt die Konkretisierung zurück, das Schöne ist hier auf einmal im Reflexivum statt des Personalpronomens das, was scheint, nicht die Lampe – „Kunstgebild” – ist es mehr, daß solche Substitutionen bis in das berühmte Scheinen, welches Emil Staiger und Martin Heidegger einen kaum weniger berühmten Streit wert war, nachwirkt, unterstreicht nur die Fahrlässigkeit.

Übrigens wäre hier auch interessant, warum die Korrespondenz, die Detering wichtig scheint, sich dort, wo sie sich weniger aufdrängt, etwa von hier zu Peter Gan, nicht wirklich realisiert findet, durch Nachweis, durch Index…

Immerhin gibt es dies ja, und da komme ich zum großen Problem, das ich mit den Bänden habe, es gibt dies, aber auf andere, meines Erachtens wenig gewinnbringende Weise: rund 120 Seiten mit Begriffen und vor allem Kurzbiographien, die aber fast nichts erschließen, was besagte Korrespondenzen beträfe – oder: wie das Aufgenommene sich zum Gesamtwerk verhalte, beispielsweise –, das ist in Zeiten von wikipedia & Co. gewagt.

Erst recht, wenn man sich ansieht, wie es schon lange vor der Gegenwartsdichtung, wo sich über jeden aufgenommenen Text mangels Distanz noch streiten ließe, an Raum zu mangeln beginnt. Gottfried Benn wird nicht allzu umfangreich geboten, keine Kleine Aster, nicht die berühmte Formel von den „zwei Dingen”, Brecht etwas umfangreicher, extrem dann aber die jüdische Lyrik nach 1945, da hätte sich Detering ein paar Gemeinplätze verkneifen und etwa Celans Engführung dafür aufnehmen dürfen…

Was wird aus diesem Kreis aufgenommen? – Hans Keilson erfreulicherweise mit einem Text, bei Hilde Domins zwei Gedichten hat man schon das Gefühl, das sei ein wenig knapp, noch mehr bei Nelly Sachs, auch nur zwei Texte, erst recht Rose Ausländer, deren Ins Leben auch kaum das Werk repräsentiert, sonst aber nahm Detering nichts von ihr auf, und auch bei Celan, entgegen dem Vorwort mit der Todesfuge beginnend, soviel zum Weg (Czernowitz, Bukarest, …), bekommt er acht Seiten zugestanden, für das vielleicht Wichtigste der Lyrik nach 1945, aber wie gesagt war der Platz für Deterings Biographien einfach zu wichtig; und Heinz Erhardt, der freilich nichts dafür kann, jedenfalls ist er zweimal vertreten, unter anderem mit „Trara-trara/ die Pest ist da!”, ohne das eine Anthologie der deutschen Dichtung unvorstellbar sein muß.

Das sind Schieflagen, da sollte Detering überlegen, sich einen Mitherausgeber an Bord zu holen, der ihn hier und bei seinem monumentalen wie überflüssigen Informationsteil (?) bremsen könnte, damit die Anthologie mehr das ist, was sie sein will: nicht Deterings Elaborat, sondern Reclams Buch der deutschen Gedichte… Zum schönen Layout ist noch anzumerken, daß eine Kopfzeile zur Orientierung erwägenswert erschiene.

Viel Gutes, natürlich, aber auch Ärgernisse. „Es ginge auch anders – aber so geht’s auch”, das vom Herausgeber als Urteil zu übernehmen, wäre unter manchem Aspekt jedenfalls zu freundlich.

Heinrich Detering (Hg.)
Reclams Buch der deutschen Gedichte. Vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert
4., durchges. und erg. Auflage
Reclam
2017 · 998 Seiten · 39,00 Euro
ISBN:
978-3-15-011090-4

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