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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Ein Liebesroman für Leute, die keine Liebesromane mögen

Um es dem Buch gleichzutun und mit der Tür ins Haus zu fallen: Henning ist Ende 30/Anfang 40 und entspricht so überhaupt nicht den Idealvorstellungen des willkommenen Schwiegersohns: Das Studium war ihm zu anstrengend, geregelte Arbeit ebenfalls, und so jongliert er sich durch wechselhafte, von der Agentur für Arbeit angepriesene Jobs als Rinnenfreikratzer im Stahlwerk, Pizzafahrer oder Zeitungspacker in der Nachtschicht. Dem Schlaf spricht er nur unregelmäßig zu, dem Alkohol und Nikotin hingegen ständig bis ununterbrochen; ein Kettenraucher und -trinker, wie er im Buche steht. Er schreibt auch, sitzt gerade an einem Roman, der nicht so richtig flutschen will – der wahre Treibstoff aber, der seinen Körper und (vor allem) seinen Geist in Schwingung bringt und in Spannung hält, ist Sex, und so stromert er nahezu allabendlich durch sein Jagdrevier, durch die Kneipen und Clubs, um sich etwas fürs Bett zu organisieren. Bei einem dieser Beutezüge trifft er auf Tanja, die ohne allzu großes Vorspiel seine neue Geliebte wird. Zunächst ein wenig zurückhaltend, taut sie nach und nach auf; Sex im Kino, ein mehr oder weniger flotter Dreier, Tanja macht alles mit und findet Gefallen. Mit ihr lebt er seine Fantasien aus, mit immer neuen Varianten treibt er das Spiel voran ...

Eine Weile hätte das noch so weitergehen können, wäre da nicht Tanjas Umzug nach Hamburg, wo sie für eine Umweltschutz-Organisation arbeiten möchte – eine Idee, die sie einem alten Freund zu verdanken hat. Henning tut gleichgültig, muss sich jedoch zu seiner eigenen Verwunderung eingestehen, dass er sie vermissen wird, dass er sie bereits jetzt zu vermissen beginnt, wenn sie sich länger nicht sehen: „Dass ich ihr nicht auf Dauer entkommen kann, dass da stets eine Leerstelle lauert, die nur Tanja zu füllen vermag, ist eine Erkenntnis, die ich anfänglich nur zögerlich zulasse.“ Pause. Funkstille. Dann eine E-Mail von Tanja, eine Verabredung, und plötzlich sitzt der coole Macker vor der Uhr und zählt die Stunden. An dieser Stelle könnte das Buch seinen Abschluss finden, Friede, Freude, weggeschlürfter Eierkuchen – wäre da nicht Hanka, eine Bekannte von früher, die er nach langer Zeit wiedertrifft, mit der er auf Konzerte geht, redet und schüchtern knutscht. Und plötzlich springen die Gefühle über, auf eine Frau, die mit ihrer burschikosen Art so gar nicht seinem sonstigen Beuteschema entspricht ...

Die meisten von Jan Offs bisherigen Büchern sind bevölkert von abstrusen, zwielichtigen und geistig verwirrten Charakteren, allen voran der Roman Ausschuss und der Kurzgeschichtenband Hanoi Hooligans. Eine deutliche Trendwende ließ sich bereits mit Weißwasser erkennen, einem Roman, der eine nicht ganz gradlinige Beziehung parallel aus der Sicht der Frau (geschrieben von Antje Herden) und des Mannes erzählt. Mit Unzucht hat Off nun den eingeschlagenen Weg konsequent weiterverfolgt und ist seinen Meta-Themen (Alkohol, Sex, Arbeitsunlust) treu geblieben. Er hat etwas geschaffen, was man als alternativen Liebesroman bezeichnen kann, eine Lovestory für Leute, die eigentlich keine Liebesromane mögen: ein Mann, mehrere Frauen, mehr oder minder darum bemüht, ihre Biografien zu verbinden, und nicht zuletzt die Steine, die ihnen in den Weg gelegt werden - die sie sich auch selbst in den Weg legen – zur Seite zu räumen.

Jan Off, bekennender Anhänger des unterklassigen BTSV Braunschweig sowie (lt. Vita) weiterer dubioser Vereine, ist mit Unzucht ein überraschend sensibles Buch über Beziehungen und große Egos gelungen. Und wer die Entscheidung seines Protagonisten Henning als Kehrtwende annimmt, als Sieg der Gefühle über das Pochen des Geschlechts, als eine Beichte oder ein Liebesgeständnis, der sollte sich auf das Ende freuen – wer bei einem 0:2-Rückstand zehn Minuten vor Spielschluss das Stadion verlässt, der muss es sich gefallen lassen, dass er hinterher belächelt wird ...

Jan Off
Unzucht
Ventil
2009 · 174 Seiten · 11,90 Euro
ISBN:
978-3-931555634

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