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Kritik

In mir entstand eine ungekannte Dünung

Von manchen Büchern wird gesagt, sie seien „so wunderschön melancholisch“ – und Melancholie passe außerdem wunderbar zum Herbst – wobei das Prädikat „so wunderschön melancholisch“ buchstäblich die innere Haltung des Lesers benennt und somit einen Wunsch offenbart: den Genuss am Schwermütigen. Jean-Pierre Abrahams Prosawerk könnte für Leser, die sich poetische Bücher mit einem Tropfen Schwermut wünschen, genau das richtige Buch sein. 1967 in Frankreich erschienen, besitzt Der Leuchtturm in klarer Tradition von Sartre und Camus noch einen Hauch postexistentialistischen Charme und liegt seit kurzem, von der Steirerin Ingeborg Waldinger übersetzt, in deutscher Erstübersetzung vor.

Als ich ›Armen‹ zum ersten Mal sah, herrschte dasselbe Wetter. Die See war bleigrau – wie immer, wenn man auf einem Kriegsschiff kreuzt. Damals dachte ich, über den Ort Bescheid zu wissen. Hatte das Verlangen, auf diesem Leuchtturm zu leben. Es war die beste Art, ihn nicht mehr zu sehen. Von Anfang an sehr markant ist der namenlose Ich-Erzähler, der versucht, den Aufenthalt auf diesem umtosten Fels im lebensfeindlichen Nichts draußen vor der Küste als Job zu sehen, der getan werden muss; und gleichwohl ist der Fels (s)ein Gefängnis, das ihm Ängste verursacht und ihn oft fast zu nah mit der Anwesenheit der Anderen – die man gar nicht näher kennt – konfrontiert: eine Nähe, die an manchen Tagen der mehrwöchigen Schichten ohne Kontakt zur Außenwelt kaum auszuhalten ist. Persönlichkeiten reiben sich aneinander, jeder scheint sich auf seine Art abzuwetzen – am Rauschen des Meeres, am Eingesperrtsein, an der beständigen Sorge, dass aus eigenem Versäumnis ein Frachter auf Grund läuft und kentert.

Das Buch heißt im Original Armen, bretonisch für „der Stein“ – benannt nach einem vor der Bretagne aufragenden Felsmassiv (bis heute im französischen Atlantik der letzte Leuchtturm vor der Neuen Welt) – und ist als Tagebuch abgefasst. In den frühen 60ern wurden Leuchttürme noch von Männerhand befeuert und gewartet: Motoren geölt, Scheiben geputzt; daneben wurde selbst gekocht und der Haushalt erledigt. Viel Zeit blieb dazwischen, in der nur die Vogelschwärme und Meereswogen eine gewisse Ablenkung boten.

Zuletzt muss noch das schwere Gerät zum Quecksilber hinabgekurbelt werden. Einmal losgelassen, treibt es sogleich an der Oberfläche, dreht sich unter dem leisesten Daumendruck. Augenblicklich kommt in den dicken Mauern das Gewicht hoch, und alle Laute, das Gezische des Feuers, das Rattern der Kurbel, das Auf- und Zugehen der Galerietür, das Zurechtrücken des Wachefauteuils, all diese Geräusche umschließen und sichern eine echte Stille, die endlich einsetzende Stille.

Im Buch finden sich etliche Passagen im Stil eines technischen Berichts – wobei anhand der Beschreibungen indes nur mimetisch eine „nüchterne Folie“ erzeugt wird, auf der das Buch nach und nach seine ganze Raffinesse entfaltet. Die subjektiven Impressionen des Erzählers wirken dazwischen wie schlicht hingesetzte Tagebuchnotizen, aber haben es in sich. Sie sind beim Ausloten der eigenen Psyche vielfach kryptisch, schnörkellos poetisch, aufregend kühl. Die Kommunikation versiegt manchmal. Dafür entfacht sich ein Zwiegespräch mit dem eigenen Selbst.

Selbst in den schlimmsten Momenten ist mir klar: nichts in der Welt könnte mich zur Abreise zwingen. Eines nämlich bleibt stets gleich: das Gefühl, hier an meinem wahren Platz zu sein. Der Rest ist Ungewissheit. Eine Ungewissheit, die mich fortan unbeirrt leitet. Die sich nicht mit unnützen Worten vollkleistert, nicht herumkriegen lässt. Immerzu verspüre ich einen Stachel. Gewiss ist alles einfacher, als ich es mir vorstelle. Ich muss schlafen. Die Lampe ausmachen.

Die Auslassungen zwischen den Sätzen – man könne sie Leerstellen nennen – machen den eigentlichen Text aus. Aus Langeweile und Zerstreuung machen sich der Protagonist und sein Kollege um die Weihnachtszeit an den Großputz und steigern sich dabei in eine wahre Euphorie hinein. Mitte Januar verzichtet der Held ganz auf den Landgang.

Hier bestimme ich, gebe ich die Gangart vor. Dabei kommt nicht die geringste Dumpfheit auf, vielmehr beseelen mich bohrende Gefühle. Die Meduse bin ich selbst.

So durchleben die Leuchtturm„insassen“ Krisen und Momente der Erkenntnis, brüten und sinnieren stundenweise vor sich hin, gehen in ihren eigenen Studien auf, inneren Stürmen und Seegängen ergeben – und das ist noch romantisch gesagt. Das Tagebuch ist ein ganzes Stück nüchterner, schroffer, um auch nur ansatzweise jene machohafte, akkordeondurchzitterte Seemannsromantik zu besitzen, die man bei einem solchen Buch erwarten könnte. Dennoch gibt es eine Art Pathos: dass nämlich manche Dinge so sind, wie sie sind. Und sich nicht ergründen geschweige denn kommunizieren lassen.

Martin hat mich gefragt, weshalb ich letzte Nacht so oft an seinem Zimmer vorbeigelaufen sei. Das Brot schimmelt rasch in diesen zehn Tagen.

Die Figuren sprechen abgehackt und brockenhaft. Die Dialoge weisen ebenso ihre Leerstellen auf. Die Darstellung menschlicher Fehler und Unvollkommenheiten sind selbstverständlicher Bestandteil dieser sehr präzisen Prosa.

Zwischen den Dingen bleibt viel Platz. Die Sinn- und Nutzlosigkeit mancher Tage, an denen nichts passiert, wird in Abrahams Buch in scharfes Neonlicht getaucht. Und dennoch ist es kein unangenehmes, kein quälendes Buch. Es ist ein Buch, das minutiös den Herzschlag eines durchweg Einsamen aufzeichnet. Ein Buch über das Alleinsein. Auch über den Genuss am Einsamsein, der gleich nach dem Genuss am Zweisamen kommt. Der Protagonist weiß von Anfang an, dass ihn die Zeit auf Armen so verändern wird, dass er danach ein anderer ist. Die See fordert ihren Tribut. Es scheint, als sei er auf der unbeirrbaren Suche nach der einen Erkenntnis.

Die Morgendämmerung naht. Der Nebel hat sich nicht verdichtet. Es ist kalt. Auf leisen Sohlen kehrt die Erinnerung an all die Sturmattacken der letzten Monate wieder. Sie haben nichts geöffnet. Ich bin wie gerädert. Wer wird es je verstehen, mich so lange zu befragen, zu belagern, bis die einzig wahren Worte hervorperlen?

Auch der Protagonist in Abrahams Buch ist ein Schreibender: die Passagen, die er verfasst hat, mischen sich im letzten Drittel des Buches mit den teils berichthaft hingesetzten Tagesnotizen und werden so auch als Arbeit erlebt. Mitunter fallen ihm Fragmente von Geschichten ein, die als belletristische Fantasiegebilde zum Ende hin die subjektive Schilderung des Geschehens immer weiter durchdringen und dadurch steigern.

Alles, was ich zu Papier bringe, macht mich noch undurchdringlicher.

Der Protagonist hat zwei Bücher, in die er sich regelrecht versenkt. Das eine ist ein Buch mit stillen Fotografien eines Zisterzienserklosters, das andere ein Buch mit Bildern des Malers Vermeer van Delft, wo er das Bildnis vom Mädchen mit dem Perlenohrring genauestens studiert und zu ihr eine nahezu reale Beziehung herstellt. Sein Kollege Marion fertigt Zeichnungen: anrührend ist die Intensität und Ernsthaftigkeit, mit der sich die Hauptfigur über Wochen ihr Urteil akribisch erarbeitet.

Dies alles ist ohne Bestand wie ein Vogelschwarm. Es gilt, in dem Ganzen selbst unsichtbar zu sein. Und zugegen, um den Reigen zu eröffnen.

Man erlebt die Lebensumstände eines auf hoher See Eingesperrten hautnah mit, der von vielgestaltigen Ängsten bedroht ist, dazu kommen latente Sozialphobien gegenüber seinen Kollegen im Leuchtturm. Was heute als wochenlanges Zusammensein im Container bei „Big Brother“ künstlich arrangiert wird, haben Leuchtturmwärter in den 60er Jahren real erlebt – still und unspektakulär. Das Buch ist, obwohl es keine (äußere) Handlung gibt, für keinen Moment langweilig.

Fünfundsechzig Stunden Dauerbetrieb. Wir wechseln die Motoren nun alle zwei Stunden ab. Zum Auskühlen bleibt keine Zeit. Die Dampfauslassröhren unter dem Asbestgeflecht glühen.
Kälte im Treppenhaus. Das Zimmer düster. Die Lampe erloschen. Schimmel in den Schränken.
Martin kocht. Er gießt grob gemahlenen Kaffee und eine Handvoll Zichorie in einen Topf brodelndes Wasser. Er rührt um. Tagtäglich trinken wir zwei Tassen dieses Gebräus. Ich zittere. Ach, was wollte ich eigentlich sagen?

Noch in den 60ern musste das Gasfeuer von Hand gezündet werden, die Arbeit dort war hart und gefährlich. Jean-Pierre Abraham, 1936 in Nantes geboren, hat an der Sorbonne Literatur studiert und Anfang der Sechziger drei Jahre lang auf Armen als Wärter gearbeitet. Er fand in dieser Isolation den Weg zu sich selbst. Später lebte er im Finistère. Abraham schrieb zehn Bücher und starb 2003 als hoch angesehener Schriftsteller und Journalist. Seine Asche wurde auf einer der bretonischen Glénan-Inseln verstreut.

Auch wer das Original nicht kennt, merkt deutlich, dass die Sprache in das heutige Deutsch gehoben wurde – ein Versuch, sich an das Deutsch der 60er Jahre anzupassen, wäre wohl deplatziert. Gewisse österreichische Wendungen wie „Jausenwurst“ geben dem Buch erst seinen speziellen Charme. Ingeborg Waldinger, 1956 in Schleifling/Steiermark geboren, studierte Romanistik und Germanistik an der Universität Wien. Sie erstand eine Erstausgabe des Buches in der Bretagne und bekam zunächst ein Dutzend Absagen für ihre Übersetzung. Jochen Jung, der an der Ostsee aufgewachsen ist, verlegte es.

Jean-Pierre Abraham
Der Leuchtturm
Übersetzung:
Ingeborg Waldinger
Jung und Jung
2010 · 160 Seiten · 17,95 Euro
ISBN:
978-3-902497741

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