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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Isländische Dorfgeschichten

Sex und Tragik inbegriffen -Leben pur, erfasst von Jón Kalman Stefánsson

Ein kleines Dorf in Island, im Westen vom Meer begrenzt, 400 Einwohner. „Die Besonderheit des Örtchens bestand darin, keine Besonderheit aufzuweisen. (…) Eins scheinen wir anderen Orten dieser Art aber vorauszuhaben: hier gibt es keine Kirche. Und auch keinen Friedhof.“ Aber es gab eine Strickereifabrik, die wegen einer Wette zweier Politiker errichtet wurde. Inzwischen existiert sie nicht mehr, nicht zuletzt, weil der Direktor sich von einem Tag auf den anderen eingebildet, er müsse Latein lernen, um die Werke der Astronomen Galilei und Kepler im Original lesen zu können. Als der nebenberufliche Polizist des Ortes sich erhängt, weiß keiner, warum. Sein schmächtiger Sohn übernimmt das Amt des Vaters, hat aber keine rechte Freude damit. Es passiert ohnehin niemals etwas. Ein Bauer beginnt ein Liebesverhältnis mit der Frau des Nachbarbauern. Das geht so lange gut, bis seine Ehefrau dahinter kommt, seinen Wagen anzündet und die Hunde erschießt. Er verkauft den Hof und arbeitet im Lager des Genossenschaftsladens. Bis es im Lager zu spuken scheint. Solchen Vorwürfen muss ernsthaft nachgegangen werden.

Allmählich wird man involviert und nimmt Anteil an den Schicksalen – oder Geschichten? Allesamt sind sie miteinander verquickt, sowohl die Bewohner als auch die Geschichten, was niemanden so richtig wundert, zumal jeder jeden kennt. Sollte jemand glauben, in dem Dorf ereigne sich nichts, den belehrt Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963, eines Besseren.

Er tut dies auf eine mitreißende Weise, selbst dramatische Ereignisse werden sarkastisch abgemildert: Die Charaktere der Menschen kommen durch scheinbar nebensächliche Details ans Licht. Fünf querulante und neidige Frauen sind die „zehn Hände“, die Kühle einer Frau wird so beschrieben: „Sie verlässt das Geschäft, in dem es sofort um drei Grad wärmer wird.“ Nicht zu kurz kommt die Erotik. „David springt auf, bevor die Erinnerung etwas anderes an ihm aufrichtet.“ Zahlreiche Passagen machen das Buch zu einem Lesegenuss. „Und am schönsten ist es, wenn es regnet, denn wann sonst könnte man diese Mischung aus Tatendrang und Zärtlichkeit erleben.“ Es geht um die Scheibenwischer eines Lastwagens. Nicht nur, „wenn die Zeit vor lauter Dunkelheit nicht vorankommt und man kaum das Wasser dazu bringt, aus dem Hahn zu laufen“, sollte dieses Buch gelesen werden. Großartig auch die Übersetzung.

Jón Kalman Stefánsson
Sommerlicht, und dann kommt die Nacht
Übersetzung:
Karl L Wetzig
Reclam
2008 · 312 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-150208786

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