Einem Langstreckenpilot geht es um Orientierung und ums Überleben
Auf Wikipedia wird Jürgen Ploogs Werk grob in drei Phasen unterteilt, nämlich in Cut-ups, Logbücher und Essays. Das Buch „RadarOrient“ wird (gerade) noch zur ersten Phase gezählt, und in ihm verweist Ploog selbst auf diese Schreibtechnik (wobei er auch in all seinen späteren Büchern, die sich durch eine größere Lesbarkeit auszeichnen, doch immer wieder inhaltlich auf die Cut-up-Technik zurückkommt und sie referenziert).
Der vorliegende Band ist eine Neuauflage, denn die erste Ausgabe ist bereits 1976 im Verlag Jakobsohn erschienen. Er hat dabei nur eine leichte Überarbeitung erfahren, die aber der Lesbarkeit des Textes sehr gut getan hat. Cut-up-Büchern haftet ja allgemein der Makel des Vorurteils an, dass sie schlichtweg unlesbar seien. Diesen Eindruck hatte ich beim Lesen von „RadarOrient“ nicht, wobei ich gestehen muss, dass ich mich auch bereits seit Jahrzehnten mit Cut-ups beschäftige, also beim Lesen sich der einfachen Rezeption verweigernder Texte schon einiges gewöhnt bin.
Im Nachwort (und Klappentext) der Neuauflage, nämlich dem „Postskript zum Protokoll einer schriftlichen Standortbestimmung“ bezeichnet Ploog den Stil, in dem „RadarOrient“ geschrieben worden ist, als telegrafisch. Es fällt auf, dass eine einfache Inhaltsangabe nicht möglich ist, da der ganze Text sehr sprunghaft ist, sich in Raum (aber auch in der Zeit) beliebig bewegt. Man erfährt vage aus dem Text, dass es sich um die Erlebnisse und Erfahrungen eines Langstreckenpiloten handelt. Ploog war ja auch Zeit seines Berufslebens als solcher bei der Lufthansa tätig. Er hat des öfteren geäußert, dass sein berufsbedingter diskontinuierlicher Lebenswandel mit ständig sich ändernden Aufenthaltsorten, verteilt über die ganze Welt, auch einen korrespondierenden Schreibstil benötige, und das war für ihn Cut-up – Cut-up ist eine Lebensweise.
Sich in diesem Durcheinander wechselnder Landschaften und Städte überhaupt zurechtzufinden, das ist das eigentliche Hauptthema des Buchs. Es geht um Orientierung.
Ich bin hier um festzustellen, darzutun, zu erkunden, zu berichten. Gerade wenn es um Orte geht, wo Orientierung nicht leicht fällt und wo die gewohnten Massstäbe versagen.
Und diesem Kundschafter obliegt es, auf die katastrophalen Zustände, die auf dieser Welt herrschen, hinzuweisen:
Meine Story war die eines vorgeschobenen Betrachters auf der Flucht vor katastrophalen Zuständen eines zum Untergang bestimmten Planeten.
Damit erinnert „RadarOrient“ an ein anderes „prophetisches“ Buch, nämlich „Nova Express“ von William S. Burroughs, von dem es heißt, dass es seiner Zeit (1964) weit voraus war. Es gibt auch entsprechende Parallelen zwischen diesen beiden Büchern.
Wer hat den Schweinepriestern der Kontrolle und Bürokratie ihre Macht gegeben? Wer hat den Virus losgelassen, das als 'menschlich' gilt, das Kartellen und Regierungen die Herrschaft sichert? In welchen Kläranlagen wurden die Spielregeln ausgeheckt? Was geht in den Aborten ab, die zu heiligen Fakultäten ernannt wurden?
Diese Sätze erinnern sehr stark an die „Letzten Worte“, der Eingangssequenz von „Nova Express“, einem Cut-up-Roman von Burroughs:
Hört, ihr Aufsichtsräte, Syndikate und Regierungen der Erde. Und ihr Mächte und Drahtzieher hinter schmierigen Geschäften, die in irgendwelchen Latrinen getätigt werden und euch etwas sichern sollen, was euch nicht zusteht. Geschäfte, in denen ihr für alle Zeiten den Boden unter den Füßen der noch Ungeborenen verschachert.
Ploog hat erst letztens zu mir gemeint:
In Deutschland wird ja gern politisch argumentiert, ohne zu sehen, dass sich Veränderungen immer erst kulturell äussern.
Auch das zeigt die Vorreiterrolle, die Schriftsteller (bzw. Künstler ganz allgemein) innehaben, und deren „Visionen“ sich in Büchern wie „RadarOrient“ und „Nova Express“ manifestieren. Im Postskript bezeichnet Ploog „RadarOrient“ als einen Aufbruch, als erste Schritte zu einer Befreiung, nämlich
in eine nicht festgelegte Schreib- und Sichtweise,
und das
hin zu einer Vision von Leben unter Bedingungen, die nicht vor-geschrieben sind.
Auch anderweitig war (und ist) Ploog stark durch William S. Burroughs inspiriert worden. Das betrifft insbesondere das Teilen von Burroughs' zentraler These: Das Wort ist ein Virus („Word is virus“ bzw. „Word begets image and image is virus“). Ploog bezieht sich auf diese Metapher auch in „RadarOrient“: Er schreibt des öfteren vom menschlichen Virus, aber auch vom Virus der Fliegerei. Auch Kontrolle als Herrschaftsinstrument - ganz allgemein oder durch die Sprache (das ist ja gerade das Wortvirus!) - ist ein weiteres Thema beider Autoren. Ploog referenziert in „Radarorient“ die Cut-up-Technik auch selbst, wenn er schreibt:
In dieser Situation entwickelte ich eine Technik, die sich als Alchemie des Schreibens bezeichnen liesse. Jede Fehlsteuerung menschlichen Verhaltens hat etwas mit dem Wort zu tun. Zeit hinter das Wort zu schauen. Könnte es nicht sein, dass es Worte sind, die uns zu Objekten machen und festhalten, wo wir zufällig gestrandet sind?
Auch wurde von Burroughs immer wieder erwähnt, dass er den Eindruck habe, durch die Cut-up-Technik würde auf zukünftige Ereignisse verwiesen, dass ihr quasi hellseherische Möglichkeiten inne wohnen würden. In einem Interview (in: William S. Burroughs, „Der Job. Gespräche mit Daniel Odier“) sagte er 1969 zum Beispiel:
Vielleicht sind Ereignisse von vorneherein aufgeschrieben und aufgenommen, und wenn man Wortreihen durchschneidet, sickert die Zukunft durch.
Und beim Lesen von „RadarOrient“ hatte ich an zwei Stellen genau diesen Eindruck.
[E]twas wie einen Airport aus der Landschaft zu stanzen, ein überholtes Machwerk, unbrauchbar vom ersten Tag an, ein architektonisches Hirngespinst. Entstanden war ein unübersichtliches Monster aus Beton und getönten Scheiben, defekten Rolltreppen, einem Gewirr von vernetzten Computern und automatischen Falltüren ... ausgeklügelt bis ins letzte Detail. Es hatte nur einen Fehler: Nichts funktionierte.
Das ist doch haargenau der neue Berliner Flughafen BER, der nie fertig werden wird.
Dieser Kontinent zeigte schon bei Troja, dass er dem Untergang geweiht ist.
Das wirft einen Blick auf den Zustand Europas, insbesondere der EU seit dem Jahr 2015, seit der Griechenlandkrise und der Flüchtlingssituation.
Ploog bringt das „politisch Korrekte“ in Zusammenhang mit dem Begriff „Neusprech“, einem direkten Bezug auf den Roman „1984“ von George Orwell:
Jetzt gingen sie daran, das Neusprech-Gewäsch nach einem Algorithmus wieder zusammenzusetzen. Was herauskam, legten sie dem Komitee für politische Korrekturen vor.
Dieser Kontrolle entzieht sich Ploog auch dadurch, indem er hemmungs- und rücksichtslos politisch unkorrekt schreibt. Zwei Beispiele hierfür:
Kaftane der Araber hoben sich über halbherzigen Erektionen
einem aus der Bahn geworfenen Bio-Furz, der in galaktischen Unterwasserlandschaften verpuffte. Ausgeburt der 'ganzheitlichen Betrachtungsweise' im Halo flackernder Neonschriften zwischen halbverfallenen Selbstbedienungsläden
Ploog bezieht sich in seiner Orientierung auch immer wieder auf andere Autoren, die namentlich im Text auftauchen: Gottfried Benn, Raymond Chandler und sein Privatdetektiv Philip Marlowe, Herman Melville, und immer wieder Joseph Conrad.
Es finden sich auch sehr poetische Sätze im Buch, die durch die Cut-up-Technik gefunden bzw. generiert worden sein könnten. Das läßt sich aber am Text, am fertigen Produkt, nicht mehr zweifelsfrei feststellen. Ein sehr schönes Beispiel hierfür ist:
soll ich dir eine Postkarte von meinem Innenleben schicken?
Das erinnert mich wegen seiner sprachlichen Kraft an
O die Erstausgaben meiner Gefühle sind vergriffen.
Dieser Satz stammt aus dem Buch „Canto“ von Paul Nizon, einem Autor, der nichts mit der Cut-up-Technik zu tun hat. Ploog schweift auch immer wieder ins Sexuelle ab, wobei dies sich oftmals im halbseidenen Milieu der Prostitution abspielt,
dieses Schachern um Körperöffnungen
wie er schreibt. Dabei strahlen diese Textpassagen eine erotische Kraft aus, von der sich Autoren des entsprechenden Genres durchaus eine Scheibe abschneiden könnten:
ihre Möse ein kleiner bewaldeter Hügel kurz vor einem Erdbeben
Die „Tapes von unterwegs“ liegen als CD dem Buch „RadarOrient“ bei. Sie sind aber auch eigenständig als LP bei Moloko Plus erschienen. Auch bei diesen Tonbandexperimenten hat sich Ploog stark durch Burroughs anregen lassen. Sie setzen sich aus ganz unterschiedlichen Aufnahmen zusammen, die durch das zufällige Aufnehmen an unterschiedlichen Stellen des Bandes die Cut-up-Technik auf den Audio-Bereich übertragen haben. Zu hören sind Straßengeräuche, Motorenlärm, Gesprächsfetzen in deutsch/englisch/französisch, Gesänge/Musik/Trommeln von Einheimischen verschiedener Länder, Mitschnitte aus Filmen/TV/Rundfunk, Funkverkehr, Ansagen im kommerziellen Flugverkehr, Meeresbrandung, Rauschen, Sirenen, Telefonwahlgeräusche, Jazz, etc. Ploog liest bzw. spricht dabei aber auch selbst. Entstanden ist ein Geräuschteppich, der dem Hörer eine andere Sichtweise auf die Realität vermittelt.
Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben