Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Ein wundervoller Gedichtband, den keiner kennt

Der Großvater stürzt durch den Leib eines Schiffes und zerschlägt auf dem Boden. Die Großmutter versinkt mit Verbandszeug in der Hand im Meer während des ersten Weltkriegs. Der Vater ist fremd und gehört nicht hierhin, in den Nordwesten von Bremen. Aber die Kindheit kann zaubern, weil sie noch nichts übersieht. Die Mudder Klodt nicht beispielsweise, die in Kopftuch und schwarzem Rock ihre Waren schwer auf dem Rad zum nahen Markt schiebt. Sie kommt quietschend aus den Brennesselwiesen hinter dem zerbombten Haus und „mittenleibs gewinkelt ist sie / kaum höher als der Sattel.“ Kindheitserinnerungen.

Wind kommt auf,
und weiche Wellen tätscheln den Anleger,
pochen an die halblecken Tonnen,
die in ihren Seilen an die Bretter schlagen,
auf denen wir stehen,
gesenkt, gehoben, gewiegt
zum eigenen Schellen der Glocke,
Bollern der Reifen, die außenbords hängen,
zum Herzklopfen der nahenden Fähre.
Da stehen wir drei,
Trinidad.

Klaus Martens „Die Fähre“ ist der erste Gedichtband seit langem, den ich in einem Zug durchlas. Weil er atemlos die Adjektive der Welt hervorsprudelt und um eine Mittelachse herum zueinanderbringt was Gewicht und Gesicht hat, ohne je etwas zu überladen. Selbst daß „die Fähre“ nach Martens eigenen Worten ein Abgesang ist und tatsächlich eine hohe Musikalität hat, bewegende Melodien aus den Kindheitserinnerungen herausbricht, wirkt nie alt oder wie in eine falsche Zeit eingeparkt, sondern aktiv zeitlos und überzeugend. Es darf etwas gesagt werden, narrativ und expressiv, es darf die Welt ihre Farben und ihren Geschmack haben und ihren jeweiligen Zustand. Auch im Moor, im Schlick, im Modder und sogar in der Kotze.

Sie wird nicht erklärt, versinkt am Schichtende, wenn die Werftarbeiter heimgehen, „unter schwarzblanken Mützenschirmen“ und bleibt doch in der Nacht das größere Meer.
Die Fähre ist auch ein Sinnbild, sie bringt Martens „aus der Unschuld ins Wissen, aus der radikalen Seligkeit in ein laues Equilibrium.“ Die Kindheit und das Offene sind ein Land aus dem man übersetzt in das zementfarbene Grau der üblichen Dinge. Ich kenne kein schöneres Langgedicht über die Kindheit.

Am Sommermorgen heben sich Nebel und Schweigen,
Vorhang auf, vor leerer, weit offener Bühne.
Der Held seines Lebens fällt aus der Rolle,
er verliert seinen Faden
und entwickelt sich neu.
Er tritt auf, stampft auf,
wirft seine Hände in mutige Gesten und bleibt
er selbst.
Alles wird möglich hier draußen
im Außen.

„Vierzehn andere Gedichte“ folgen. Aus ihnen läßt sich unschwer lesen, daß wir mit Martens einen erstklassigen Lyriker haben, jemand der eine sichere, eigene Sprache hat. Und den mal wieder keiner kennt, weil man in den Feuilletons etwas völlig anderem hinterher rennt. Und dabei noch falsche Fährten legt und die falschen Helden pflegt. Dabei erneuert sich die lebendige Sprache längst ständig, nicht als materielles Dings, sondern als Bedeutungsträger, weil sich Inhalte verändern und selbst alte Knochen wie Martens betreten melodisch neuen Boden mit einem Inhalt, den man so zuvor nicht als Inhalt eines Gedichtes kannte. Was das Wesentliche ist, das Wesen der Zeit.

„Das Ablegen ungeprüfter überkommener, auch eschatologischer Vorstellungen von der Welt, das immer wieder fällige Abstreifen im Gebrauch besudelter sprachlicher Kleider, der Reinigung der – im täglichen Umgang oftmals unvermeidlich scheinenden – Klischees, der toten Metaphern, der blassen Sprachbilder, der müden Vergleiche, der erstarrten Sprach- und Denkfiguren – diese Hinausführung aus selbstverschuldeter, sprachlich bedingter Unmündigkeit durch das Abtragen der Patina, dem Schlüpfen des schimmernden Neuen aus alter, rissiger, schuppiger Haut, das ist gemeint“ schreibt Klaus Martens in einem Essay.

Gemeint mit was? Mit dem Satz von William Blake, aus dem sich die Doors ihren Namen entliehen: „If the doors of perception were cleansed every thing would appear to man as it is, infinite.” Es geht um die “Tore der Wahrnehmung” und nicht um neues Material für die Fensterläden zum Innern.

Das Buch ist bereits 2006 in einer außerhalb der Landesgrenzen wohl leider kaum wahrgenommenen Reihe des VS Saar mit dem Namen „Topicana“ erschienen und die website des Verbandes erklärt den Reihentitel poetisch so:
„Topicana? - Hört sich an wie Orangensaft, ist aber eine Buchreihe des VS Saar für experimentelle Literatur. Deshalb mögen einem dazu drei traurige Tiger in einem kubanischen Nachtclub ebenso einfallen wie der Terminus des literarischen Topos. Auch ein spanischer Maulwurf dürfte Pate gestanden haben. Diese Offenheit ist Programm. Die Reihe bietet ein Forum für hochwertige, nicht marktorientierte Literatur.“ Es gibt hier mittlerweile Bände u.a. von Andreas H. Drescher, Werner Laubscher, Andreas Dury, Nelia Dorscheid, Leo Gillessen, Ruth Rousselange. Man sollte sich hineintasten in die Reihe.

Es gibt sicher einiges zu entdecken. Womöglich noch einen Schatz, wie „Die Fähre“.

Klaus Martens
Die Fähre
Edition Topicana
2006 · 65 Seiten · 8,00 Euro
ISBN:
978-3-937046815

Fixpoetry 2010
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge