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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Alles wird zum Buch

Hamburg

Achilles als Cyberkrieger, Tschechow als Reisebegleiter durch Reflexionen über die Zeit und eine poetische Annäherung an eine große russische Dichterin des zwanzigsten Jahrhunderts: der 1980 in Meerbusch geborene Wahlschweizer Lewin Westermann legt mit seinem soeben bei Matthes & Seitz erschienenen Band "3511 Zwetajewa" ein kleines Textuniversum vor, das die Leserschaft erst einmal schon allein durch seine vermeintliche Ausschnitthaftigkeit zu verwirren imstande ist. Das Buch besteht aus drei kürzeren und einem längeren Zyklus, die äußerlich betrachtet zunächst einmal nicht viel miteinander zu tun zu haben scheinen. Einend wirkt allenfalls ihre vordergründige Rätselhaftigkeit: Westermann versteht es ab der ersten Zeile, die Entdeckerlust seines Lesepublikums zu entfachen. Das beginnt eigentlich schon, bevor er noch selbst ein einziges Wort beisteuert, nämlich mit dem vorangestellten Zitat der amerikanischen Dichterin und Literaturwissenschaftlerin Mary Ruefle:

"I began writing because I had made friends with the dead: they had written to me, in their books, about life on earth and I wanted to write back and say yes, house, bridge, river, hair, no, maybe, never, foerever."

Das deutet schon einmal an, dass es sich auch bei Westermanns eigenen Texten um Korrespondenzen handeln könnte, um überzeitliche und räumliche Antworten auf Dichterkolleginnen und -kollegen. Einen Hinweis auf die Perspektive zu den Dichtungen und eine eher von außen betrachtende Haltung der "textvermittelnden Instanz" (um den einengenden und hier nicht wirklich zutreffenden Begriff vom "lyrischen Ich" zu vermeiden) gibt auch das ebenfalls vorangestellte "watch me vanish"- Zitat der früh verstorbenen britischen Dramatikerin und Regisseurin Sarah Kane wieder.

Lewin Westermanns "3511 Zwetajewa" (der Titel verweist auf den Miniaturplaneten gleichen Namens, der 1982 entdeckt und nach der Dichterin benannt wurde) entzieht sich zunächst einmal allen landläufigen Gattungszuweisungen: aus allen drei Großbereichen der Literatur, aus Epik, Lyrik und Drama finden sich jeweils Elemente wieder, wenn auch einige Merkmale der Lyrik, vor allem eine ästhetische Sprachverdichtung, letztlich im Vordergrund stehen mögen. Aber auch einen deutlichen Erzählanteil haben diese Texte: gleich der erste, "Die Expedition", versteckt die geheimnisvollen Beweggründe der beiden Reiseteilnehmer hinter einer fast naiven, immer wieder in einfachen Sätzen die Geschehnisse konstatierenden Sprache, die schlichtweg durch eine Block- statt einer Flattersatzgestaltung durchaus auch als Prosa durchgegangen wäre:

"Du schautest mit zusammengekniffenen Augen auf die Stelle, wo / das Reh im Unterholz verschwunden war, und ich / schaute mit der besonderen Brille auf der Nase / auf die Stelle, wo du standest und auf die Stelle / schautest, wo das Reh im Unterholz verschwun- / den war. Dies war der kritische Moment, vor dem / man mich gewarnt hatte."

Der letzte Satz des Zitats wird am Ende noch einmal wiederholt, als der "Held" durch das eigene Messer schwer verletzt zurückbleiben muss - ein ironisches Selbstzitat und gleichzeitig ein Zitat aus zahllosen Heftromanen, ein postmodernes Spiel mit populären literarischen Formen. Der Text ist in sich vielseitig deutbar und dreht jeder Suche nach "Wahrheit", die einer Expedition zugrunde liegen könnte, eine lange Nase.

Dieser Duktus setzt sich auch mit den beiden folgenden Zyklen fort. "Tschechow: eine Reise in zehn Teilen" behauptet zwar in seinem ersten Teil noch lapidar:

"die röntgenbilder ließen keinen zweifel zu"

und scheinen den literarischen Sack zuzumachen, bevor er überhaupt geöffnet wurde; aber das Gegenteil ist der Fall, nichts ist sicher und nichts ist da, wo es nach landläufiger Auffassung hingehören sollte:

"die röntgenbilder / und auch die orchidee, die wächst / auf deiner haut --"

Die folgenden Gedichte weisen strukturelle Konstanten auf, die einen lyrischen Sog zu entfachen imstande sind. Jedes beginnt mit einer kurzen Charakterisierung der Zeit. So werden ihr nacheinander verschiedene Handlungen oder Attribute zugewiesen: sie beginne von vorn, mache einen Sprung, sei eine Sonne im Zenit, eine Box aus schwarzem Holz usw.

Immer wieder tauchen Motive auf, die auf andere Stellen im Text, andere Texte, Autoren oder Figuren aus der Mythologie verweisen: Tschechow, der im dritten Gedicht eine Pistole auf den Tisch legt, die im zehnten und letzten Text dann für einen Schuss benutzt wird; Verweise auf Anne Carsons "Nox", auf Catull, auf T.S. Eliots "Waste Land", auf Sophokles und Aischylos; Kassandra tritt auf und ab, ein Seher wird zitiert:

"halt! vor euch / sitzt ein greis, fast nackt auf einem stein. / ich höre keine vögel, klagt er. die riten / gehn daneben, die feuer gehn nicht an, das versagen / des zeichens ist ein zeichen an sich!"

Da läuten dem vorgebildeten Lesepublikum alle Glocken von St. Derrida, und wenn nicht, so ist es auch nicht schlimm, denn die amüsante Zeit-Raum-Reise nimmt sofort wieder Fahrt auf.

Noch schneller und aberwitziger wechseln die Szenen und Bilder im folgenden Zyklus "A plume of smoke". Diesen "Rauchfahnen" ist jeweils ein reflexives Zitat der französischen Philosophin Simone Weil zum Thema Gewalt vorangestellt, die das Handeln des Helden kommentieren: von Achilles ist die Rede, der hier nicht nur als antiker Krieger ins 21. Jahrhundert versetzt wird und Schlachten gleichzeitig real wie auch als Computerspiel zu schlagen scheint, sondern wie nebenbei auch noch eindeutige Züge von stahlharten Managern zur Schau stellt:

"Plötzlich / brummt sein Handy. 1 neue Nachricht. Agamemnon. Tomorrow. / Bring your sword! Achilles nickt. Er nimmt seinen Kalender raus, / blättert und notiert: Wednesday - all day - WAR. Dann lehnt er sich / zurück. Vor ihm der Luganersee. Achilles raucht und schweigt."

Auch Kassandra begegnen wir in diesen Zeilen als trauriger Antagonistin gegen die Gewalt wieder, die auf Achilles' Ankündigung, er werde die zwölf Jünglinge auf Patroklos' Verbrennungsstätte nicht töten, nur lapidar antwortet: "Doch, du wirst - wie immer."

Lewin Westermann spielt mit Ironie und bitterem Ernst, setzt seine literarischen Schritte in wechselnde Bezüge zu den von ihm gewählten Zitaten und schafft einen Text von großer Wirkmächtigkeit, der trotz seiner augenscheinlichen Inhomogenität am Ende sehr rund und geschliffen anmutet.

Der vierte und weitaus umfangreichste Zyklus ist das namensgebende "3511 Zwetajewa", welches sich in über vierzig kurzen Texten mit dem schwierigen Leben und dem tragischen Selbstmord der russischen Dichterin Marina Zwetajewa befasst. Ein Mann begibt sich auf Spurensuche, seinen Notaten sind eine Tageszeit und eine vage Ortsangabe“Die Stadt“, „Der See“, „Der Wald“vorangestellt; er spricht von sich in der dritten Person und weiß:

"Die Tür ist zu, dem Mann / ist kalt. Er kommt einundneunzig Jahre zu spät."

Das literarische Alter Ego des Autors mäandert reflektierend um Tagebucheinträge und Texte der Zwetajewa herum, welche farblich vom Text abgesetzt werden, und scheint mitunter mit der verstorbenen Dichterin zu korrespondieren:

"Auf dem Schreibtisch liegt die Post. / Noch immer keine Antwort, nichts von ihr. 27. Juli /
1923 - Ich mache mir Sorgen um Sie. Schreiben Sie. / Der Mann ist still. Er atmet, wartet, schaut."

Was nun Wirklichkeit und was emotional-literarische Parallelführung ist, bleibt im Verborgenen. Gleichwohl geht es in diesen Texten weniger rasant, dafür melancholischer und vorsichtiger zu. Deskriptive Passagen zum Lebensweg Marina Zwetajewas im zaristischen Russland, in den Revolutionswirren und im Exil, ihre vielfältigen privaten und literarischen Kontakte, ihre Armut und Einsamkeit nach der Rückkehr in Stalins Sowjetunion der Kriegsjahre wechseln ab mit Abschnitten über Handeln und Reflexionen "des Mannes" und mitunter sehr kurzen, aber intensiven Sentenzen, die eine ganze Seite Leere nach sich ziehen und diese Leere benötigen, um ihre Wirkung zu entfalten:

"Sie war niemals hilflos, doch immer schutzlos."

Vereinzelt sind Schwarzweißfotos aus dem Leben der Dichterin und ihrer Familie abgedruckt; es hätte ihrer gar nicht unbedingt bedurft, um die eindringliche intertextuelle Montage zur vollen Wirkung zu bringen.

"Heute Verzweiflung, morgen Begeisterung, / Liebe, völlige Hingabe, und einen Tag später wieder / Verzweiflung, schrieb ihr Mann Serjosha an einen Freund. / Alles wird zum Buch."

So wird auch bei Lewin Westermann alles zum Buch. Ganz analog zu der Äußerung der Zwetajewa, sie benötige jemanden, der größer oder wenigstens ebenbürtig sei in Bezug auf die Anstrengung, das Wollen, nimmt sich der Autor nicht selten sehr zurück hinter die Zitate und bewerkstelligt gleichzeitig mit seinen eigenen literarischen Einwürfen ein Mitschreiben am gleichermaßen abstrakten wie konkreten "großen Welttext", was man kühn als das Wirken der Dichterinnen und Dichter aller Zeiten in ihrer sie miteinander verbindenden Sphäre bezeichnen könnte. Aber natürlich wäre Lewin Westermann kein postmoderner Poet, wenn er auf dieser großspurigen Ebene agieren würde, ohne auch diese wieder ironisch zu brechen:

"Stellt sich vor, er nähme den Mond und versenke ihn im See. / Stellt sich vor, er nähme die Sterne und versenke sie im See. / Stellt sich vor, er nähme den Abgrund Himmel und versenke ihn / im Abgrund See. Dann öffnet er die Augen, tut es --"

Levin Westermann
3511 Zwetajewa
Matthes & Seitz
2017 · 91 Seiten · 18,00 Euro

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