Tag für Tag poetische Appetizer
Den täglichen Poesiehunger mit einem Gedicht stillen – welches Medium eignet sich dafür besser als ein Kalender? Mithalten kann da vielleicht noch die wochentägliche Lyrikmail, die seit Jahr und Tag Gregor Koall aus Berlin zuverlässig an eine immer größere Anzahl von Abonnenten sendet. Ein Kalender bietet demgegenüber natürlich den haptischen Vorteil. Man kann ihn vor sich auf dem Schreibtisch stellen, das Gedicht des Tages bietet über Stunden Stoff für Inspiration, Auseinandersetzung oder Müdigkeit, je nachdem.
Seit einigen Jahren nun werben gleich zwei Lyrikkalender um die tägliche Aufmerksamkeit der Gedichtsüchtigen. Der deutsche Lyrikkalender (Alhambra Publishing, 26,95 €) bietet für das kommende Schaltjahr 366 Gedichte von 300 Dichtern auf und verspricht: „Jeder Tag ein Gedicht“. Man wird sehen, ob jeder Tag des kommenden Jahres in Poesie verwandelt werden kann. Eine bestechende Idee dieses Kalenders ist aber die Kohärenz, die er zwischen Gedichten an manchen Tagen herzustellen vermag. Ganz gleich, ob eine thematische Anbindung, eine formale Verwandtschaft oder eine Variation auf einen vorangegangenen Klassiker, auf diese Weise entstehen oft verblüffende Zusammenhänge und manche Motivtradition erfährt eine unverhoffte Auffrischung innerhalb von nur 24 Stunden. Ein weiterer praktischer Vorteil: Es ist ein Stell- und Klappkalender, dessen einzelne Gedichtblätter nach hinten geklappt werden, so dass man ihn jederzeit wieder zur Hand nehmen kann. Das animiert eher zur Aufbewahrung als ein Abreißkalender.
Ein solcher nämlich ist der Lyrikkalender 2012 von Wunderhorn (Verlag Das Wunderhorn, 24.80 €), der bereits seit 2006 „für jeden Tag ein Gedicht“ bietet. Allerdings bietet dieser Kalender einen unschätzbaren Vorteil: Die Kommentare des Heidelberger Literaturwissenschaftlers , Kritikers und Lyrikexperten Michael Braun, der sich seitdem jedes Jahr der Sisyphos-Arbeit unterzieht, aus Abertausenden von Gedichten aller Epochen 365 Gedichte auszuwählen und mit fachkundigen Anmerkungen zu versehen. Eine Arbeit, die laut Braun „8 Monate im Jahr in Anspruch nimmt.“ Der Begriff „Anmerkungen“ trifft dabei nicht richtig den Wert von Michael Brauns Arbeit. Es handelt sich hier um eine auf wenige Zeilen komprimierte Essayistik, die das vorgestellte Gedicht zwar nicht vollständig aufschließt, aber immer ein erhellendes Schlaglicht auf Autor, Form und Inhalt des Poems wirft. Bemerkenswert, wie es Braun fast immer gelingt, den Kern eines Gedichtes freizulegen und treffsicher die Poetik des jeweiligen Dichters herauszuarbeiten. Das heißt, Tag für Tag nicht nur poetische Appetithappen, sondern auch Erkenntnisgewinn.
Welchen Vorteil im Einzelnen die Kalender auch bieten mögen, beide eignen sich gerade jetzt zu Weihnachten und zum Jahreswechsel als Geschenk mit täglichem Mehrwert.
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