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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Der Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2012 geht an Michael Lentz

Cool uncool oder doch echt? – Liebesgedichte von Michael Lentz
Hamburg

Der Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2012 geht an Michael Lentz. In der Begründung der Jury heißt es: "Lentz hat als Autor ein beeindruckend facettenreiches Werk geschaffen und sich auch als Erzähler, Lyriker, Herausgeber und Literaturwissenschaftler einen Namen gemacht. Der 47-Jährige hat eigene Texte teilweise in Zusammenarbeit mit avantgardistischen Musikern in verschiedenen intermedialen Formaten produziert."(Quelle:Welt online)

Ein verborgenes Tabu der zeitgenössischen lyrischen Avantgarde ist das Schreiben über Liebe. Den dazugehörigen Satz überläßt man dem Pop und der Prosa. Die Liebe ist abgenudelt und das ganze Gebiet mit altem Mief eingeraucht. Man hat die Beziehungskisten ausgeschüttet und findet dort kaum noch Grund für Singsang. Dabei gibt es längst eine neue Liebe, die im Offenen versucht sich sowohl gegen das Marktgetümmel der überall sichtbaren Erotik, als auch gegen das Ichverparken in den nur scheinbar selbstlosen Idealisierungen zu behaupten, und lebt sich wie ein aufgeschlagenes Gästebuch inmitten der Präsenzbibliothek, die den gemeinsamen Moment beschreibt. Dort sind Leser gleichzeitig schreibend und Schreibende gleichzeitig Leser.

Zur postmodernen, avantgardistischen Lyrik gehört neben dem Behaupten neuer Tabus auch der plakative Bruch mit den alten. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis einem geübten Tabubrecher und cleveren Zeitgenossen irgendwann die Frage aufscheinen würde, warum man nicht auch die neuen Tabus einmal demonstrativ entwertet? Warum kein Buch nur mit Liebesgedichten?

Das ist jetzt erschienen. Michael Lentz nennt seinen neuen Gedichtband „Offene Unruh“.

Seit längerem ist es in, Armbanduhren mit Sichtfenster auszustatten, die einen Blick auf die Mechanik gestatten, und in ähnlicher Weise versucht Lentz den Blick in das Geschehen der Liebe. Dabei finde er es seltsam,  das Leser diese Gedichte als autobiografische Bekenntnisse begreifen, sie seien „Motivgeflechte aus Liebesdiskursen“, die „lebenspragmatisch ausagiert werden müssen“. Aha.

Gibt es eine innere Mechanik der Liebe?

Es gibt zumindest die Begegnung, die jede innere Mechanik neu justiert. Kein Rad läuft mehr wie vorher, keine Unruh ruhig und unbeachtet vor sich hin. Gleichgewichte sind fragil, zerbrechlich sind die Dimensionen und wertlos das Tafelsilber. Fragwürdig ist alles, erhält im Fragen neue Würde oder einen Tritt in den Hintern. Verunsicherung ist da und der klare Moment. Das Vielleicht und das fraglose So. „es ist aber immer jetzt“, schreibt Lentz. Davon kommen wir nicht weg – wenn wir uns von dort entfernen, bleibt die Liebe auf der Strecke.

Seine Sprache ist einfach, die Sätze sind nah, die Bilder, die es gibt, sind rahmenlos da und im Licht farbecht gezeichnet. „die liebe ist eine koppel die leer ist“. Eine Weide, die niemand besucht. Traurige Bestandaufnahme. „verzeih“ heißt das dazugehörige Gedicht. „die liebe ist ein wort das auf der stelle tritt“. Wenn man an sie glaubt als einen Begriff, wenn man sie will und ihr ein festliches Kleid angezogen hat. Die Wahrheit ist aber: die Liebe tritt an die Stelle des Wortes, berührt die Dinge anders. Das ist auch für Lentz ein Problem und dieses Problem gehört zu diesem Buch: die Liebe ist eine andere Sprache, die sich nur schwer übersetzt. „liebe / das sind die dinge / von denen man nur die hälfte / sagen kann von dem was sie sind“. aber immerhin: sie geschehen. In der Abwesenheit der Worte mehr als in ihrer Gegenwart. Wenn sie nicht mehr geschehen, wird aus der Sprachlosigkeit eine Qual. „dein schweigen ist kolossal / es ist ein mörser und zermörsert mich“.

Die 100 Liebesgedichte der „offenen Unruh“ sind über den Zeitraum von fünf bis sechs Jahren entstanden und lesen sich (auch wenn sie vielleicht nicht so gemeint sind) sehr privat. 100 Möglichkeiten die Liebe zu bezeugen, ihr zu begegnen, sich ihr auszusetzen, sich zu ihr in die Badewanne zu legen oder sich an ihr zu verbrennen. Diesen Gedichtband zu lieben wäre kein Problem, wenn da nicht ein letzter Rest einer seltsamen Kühle, ein Wille zur durchkalkulierten sprachlichen Bewältigung spürbar bliebe. Für Lentz ist es ein Thema, das ins Gedicht soll („das sind die dinge“, heißt ein Kapitel). Ein Thema, in dem man „dinge“ transportiert und das voller Sachen ist, die geschehen. Er versucht das in die Sprache zu übertragen, stellt das Material dort hin und es funktioniert nicht. Liebe funktioniert in der Wortsprache nicht, nur unser Begriff von der Liebe. Unsere Sätze, die sie auslöst, sind idiosynkrase Codes, tatsächlich: Diskurse, wie Foucault das meint, aber genau dort ist keine Liebe. Wir denken die Liebe nicht, wir sprechen die Liebe nicht, wir tun sie.

Es gibt einige gute kleine Gedichtideen, aber sprachlich ist das Buch nicht sehr weit von Tagebucheintrag und Briefpoesie entfernt. „Die Gedichte sollen den Anschein erwecken, Notizen zu sein.“ zitiert sinngemäß Wiebke Porombka den Dichter in der ZEIT. Sie erhalten damit einen pseudonatürlichen Anstrich (und kommen mit einem handgeschriebenen Cover in Packpapieroptik daher) – das ist der Clou der Sache und gelingt zweifellos – und wirft die Frage auf, warum der Avantgardist Lentz, der Brötchen mampft und dabei spaßig Rilke zerkaut,  beim Thema Liebe den Innerlichen rauskehrt. Wenn es ein künstlerischer Trick ist, um dem Thema Authentizität zu verleihen, dann ist das nur kalkulierte Mimikry und hinterläßt einen äußerst schalen Geschmack. Wenn es allerdings 100 % Lentz ist, dann sollte er dazu stehen und seine Liebesgedichte nicht öffentlich zu „Motivgeflechten aus Liebesdiskursen“ umstilisieren, in der Hoffnung zweifach zu punkten: mit den Texten bei den Leuten, die gerne verständliche Gedichte lesen und mit dem poetologischen Konzept bei den Avantgardisten, die sich ihre Coolness wie eine passend ausgesuchte Krawatte umbinden (und diesmal ist es eben die bunte).

Michael Lentz
Offene Unruh
S. Fischer
2010 · 176 Seiten · 16,95 Euro
ISBN:
978-3-100439260

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