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Kritik

Ausflug nach Dummendorf

Hamburg

Der intellektuelle Schwerenöter Mitja ist des Moskauers Universitätsbetriebs leid. Umgetrieben von der Frage „Wer braucht das alles?“ will er sich lieber als Lehrer versuchen. Das Angebot reizt ihn jedoch ebenso wenig – die Städte, in denen Stellen zu vergeben sind tragen Namen wie „Hühneresserdorf“ oder „Pastete“. Kurzerhand springt der frischgebackene Historiker in den nächsten Bus und fährt bis zur letzten Station durch, dem Dörfchen Mitino. Dieses scheint von lebenden Klischees bevölkert, von liebenswerten Suffköpfen, wankelmütigen Teenies und konservativen Käuzen. Durch die Augen dieser sonderlichen Figuren lässt Natlja Kljutscharjowa ein fast idyllisches Bild der russischen Provinz entstehen, das trotz aller sozialen Problemchen und der Verschrobenheit seiner Bewohner so friedfertig wirkt, dass es einem nostalgischen Postkartenmotiv gleichkommt.

Aber es ist nicht alles verläuft in ruhigen Bahnen in Mitino, der gleichförmige Alltag der Dorfbevölkerung wird nach Mitjas Ankunft noch häufiger gestört werden. Zum einen durch die Ankunft des Geistlichen Konstantin, der zwar noch am ersten Tag die Worte „Sehr beängstigend“ in sein Tagebuch notiert, aber trotzdem nicht vor der Starrhalsigkeit der Anwohner in die Knie geht. Zum anderen taucht der junge Kostja auf, den man der Säuferin Ljubka vor Jahren weggenommen hat und der nicht recht mit seiner Wut auf die Welt umgehen kann. Und dann ist da noch das titelgebende „Dummendorf“, eine Einrichtung für Menschen mit Behinderungen mit Hippiekommunencharme, das nicht weit von Mitino entfernt liegt und doch gemieden wird.

Mit viel Humor, Liebe zum Detail und vor allem Menschenkenntnis zeichnet Kljutscharjowa das Bild einer provinziellen Gesellschaft, die den ländlichen Charakter wie man ihn aus den großen russischen Erzählungen des 19. Jahrhunderts kennt mit den Anforderungen ihrer Zeit zu versöhnen sucht. Es brodelt natürlich gewaltig unter der Oberfläche und die Katastrophen fallen reihenweise über Mitino her. Ganz gleich, ob der verkopfte Teenager Sanja die Liebe zu seiner Klassenkameradin Angelique nicht erwidert sieht oder ob Ljubka, die sich nicht einmal erinnern kann, ob ihr damals verlorenes Kind eigentlich ein Junge oder doch ein Mädchen war, mit der neugewonnen Verantwortung nicht umgehen kann und sich kurzerhand zu Tode säuft. Die Risse im liebenswürdig-kauzigen Bild des Dorfes erweitern sich mit jeder Seite und reißen am Ende auf.
Dagegen kann weder der liberale Vater Konstantin etwas tun, der vom Verschwörungstheoretiker Gawrilow denunziert wird, noch Mitja, der sich viel zu schnell mit den neuen Gegebenheiten arrangiert. Denn obwohl er noch davon spricht, in Mitino den „Sinn des Lebens“ zu suchen, verliert er sich dem verzweifelten Sanja gegenüber in Plattitüden: „Jedenfalls, vergiss alles, was du von anderen erfahren hast. Und mach dich selbst auf den Weg. Anders kommst du nie vom Fleck.“. Hohle Phrasen von einem, der sich gerade niedergelassen hat. Kurz darauf bricht die scheinbare Idylle endgültig zusammen – das Dummendorf, das von Illegalen wie dem deutschen Öko-Freak Dietrich geleitet wird, fliegt auf, Gawrilow scheint Erfolg zu haben mit seiner Hetze gegen den Dorfgeistlichen und auch die Schule mit ihren 10 Schülern sieht dem Ende entgegen.

Und trotzdem zeigt der zweite Roman Kljutscharjowas wenige Züge von Pessimismus. Sie lässt die Misere durch den Weichzeichner laufen, verweigert ihren Charakteren die Kapitulation und fängt alle Tragik mit Komik und feinsinniger Ironie auf. Völlig übertrieben allerdings scheint die Darstellung des Greisenpärchens Jefim und Serafima, die sich in ihrem Garten den Wundern des Lebens hingeben, voller naiver Freude über die bloße Existenz. Fast mag sich Neid einstellen über so viel Gleichmut, gegenüber dem gelebten Prinzip Hoffnung, welches diese beiden Figuren vertreten. Wäre es nicht wieder nur ein Kontrapunkt zum üblen Geschehen und den Katastrophen, die in Mitino hinter jeder Ecke lauern. „Dummendorf“ zeichnet ein hybrides Weltbild. Der niedlich-naive Charakter lässt sich schwerlich zusammenbringen mit den existenzialistischen Abgründen, die angerissen werden. Das lässt den Roman auf eine Art halbgar, undurchdacht wirken, macht ihn paradoxerweise jedoch umso stärker. Mitjas Versuche, das Leben – und die Geschichte, er ist und bleibt Historiker – als Summe individueller Erfahrungen zu erfahren, scheitert in dem Moment, als die heile Welt zusammenbricht.

In der abschließenden Pointe wird fast zynisch kommentiert. Mitja trifft eine Frau, die ihm bereits auf der Hinfahrt nach Mitino aufgefallen war, sie trägt einen „städtischen Mantel“ und erscheint als Zeichen des niederschmetternden urbanen Rationalismus, von dem er sich im Dorf so gut abschotten konnte. Sie witzelt: „Wie komme ich zur Bibliothek?“ und stößt Mitja damit auf die unangenehme Tatsache, dass er der Welt und der großen Frage nach dem „Wer braucht das alles?“ nicht entgehen kann. Es ist ein Schlag ins Gesicht, nicht nur für Mitja. Der Ausflug in die oberflächlich gekittete Welt ist endgültig vorbei. So wohlfühlig und leicht sich „Dummendorf“ zuerst liest, so gekonnt bereitet der Roman seine ernüchternde Pointe vor. Kljutscharjowa ist ein ebenso eingängige wie intelligente Erzählung gelungen, die mehr zu bieten hat als das verschmuste Sozialpolaroid, das man anfangs darin zu erkennen meint.

Natalja Kljutscharjowa
Dummendorf
Übersetzung:
Ganna-Maria Braungardt
Suhrkamp
2012 · 140 Seiten · 12,00 Euro
ISBN:
978-3-518126400

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